10.07.1998

Das Gespenst des Bioterrorismus

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Das Gespenst des Bioterrorismus

DIE Zahl der Länder, die Kernwaffen besitzen, wird sich in den kommenden Jahren trotz der Atomversuche von Indien und Pakistan kaum erhöhen. Vor allem Länder in Konfliktregionen haben vielfach ein größeres Interesse daran, chemische und bakteriologische Massenvernichtungswaffen zu entwickeln, die erstens billiger und zweitens leichter geheimzuhalten sind. Die internationalen Verträge über diese Waffen sehen keine ausreichenden Kontrollen vor und bedürfen einer gründlichen Überarbeitung. Hier sind nicht nur die Regierungen aller Staaten, sondern auch die regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) gefordert. Während die USA gegen „Paria-Staaten“ wie den Irak mobil machen, bleibt vor allem die Gefahr eines „Bioterrorismus“ beunruhigend.

Von GILBERT ACHCAR *

Am 23. März dieses Jahres erklärte ein Sprecher des britischen Premierministers, man verfüge über Informationen, daß der Irak versuche, in Getränkeflaschen für den zollfreien Verkauf Milzbrandbazillen nach Großbritannien einzuschleusen; die Zollbehörden seien bereits alarmiert. Wenige Wochen zuvor hatte Premierminister Tony Blair höchstpersönlich in einer Unterhaus-Debatte über die Haltung der Regierung während der Bagdadkrise (Januar/Februar 1998) das Schreckgespenst der biologischen Waffen beschworen.

Zur gleichen Zeit, am 19. Februar 1998, nahm das FBI nach Berichten amerikanischer Medien zwei Männer in Las Vegas fest, die im Verdacht standen, eine gewisse Menge des Milzbranderregers im Kofferraum ihres Wagens zu transportieren. Einer der beiden, ein ehemaliger Rechtsradikaler und Spezialist für biologische Waffen, war 1995 wegen Entwendung von Flaschen mit Beulenpestkeimen verurteilt worden. Tatsächlich fand sich in dem Wagen aber nur ein Tierimpfstoff gegen Milzbrand.

Für die Clinton-Administration kam der Alarm wie gerufen. Die dem Irak gesetzte Frist war fast abgelaufen, aber in der amerikanischen Öffentlichkeit wuchsen die Zweifel an der Idee eines Militärschlags gegen das Land.

Nach Informationen von Newsweek1 hatte das Pentagon die Gefahr einer „bioterroristischen“ Apokalypse vor allem beschworen, um Präsident Clinton von der Notwendigkeit zu überzeugen, in dieser Frage aktiv zu werden. Die Entscheidung fiel offenbar auf einer Versammlung des Nationalen Sicherheitsrats im November 1997, bei der Verteidigungsminister William Cohen dem Präsidenten darlegte, welches Risiko biologische Waffen in irakischer Hand bedeuteten. Einen entsprechenden Verdacht hatten die im Irak tätigen Inspektoren der UN-Sonderkommission Unscom geäußert, deren Streitigkeiten mit der irakischen Führung Auslöser der Krise gewesen waren. Fünf Pfund („five pounds“, das heißt 2,3 Kilogramm) des Milzbranderregers bacillus anthracis würden ausreichen, um die gesamte Bevölkerung der Vereinigten Staaten zu vernichten, erklärte der Chef des Pentagon. Beeindruckt bat Clinton seinen Verteidigungsminister, auch die Öffentlichkeit davon in Kenntnis zu setzen.

William Cohen bewies Sinn für dramatische Inszenierungen, als er bei einem Auftritt im populären Fernsehmagazin „This week with Sam Donaldson and Cokie Roberts“ fünf Pfund Zucker vor sich auf den Tisch legte und seine apokalyptische Warnung wiederholte. Unmittelbar darauf erklärte Präsident Clinton der Nation und der Weltöffentlichkeit, mit demselben dramatischen Tonfall, in der Irakkrise stehe „die Sicherheit des 21. Jahrhunderts“ auf dem Spiel. Einige Tage nach seiner Fernseherklärung ging der Verteidigungsminister noch einen Schritt weiter und behauptete auf einer Pressekonferenz, der Irak besitze eine ausreichende Menge des Nervengifts VX, „um jeden Mann, jede Frau und jedes Kind auf der Erde zu töten“ – was ihm den Spitznamen „Dr. Doom“ (Doktor Apokalypse) einbrachte.2

Natürlich erwähnte der Verteidigungsminister nichts davon, daß der Irak im Zweifrontenkrieg gegen den Iran und die irakischen Kurden3 erst durch westliche Lieferungen in die Lage versetzt wurde, chemische und biologische Waffen herzustellen, und daß die Westmächte kaum etwas dagegen einzuwenden hatten, als das Baath-Regime gegen seine beiden Gegner wiederholt chemische Waffen einsetzte.4 Ebenso könnte man sich fragen, aus welchen Gründen Massenvernichtungswaffen in der Hand anderer Staaten, darunter die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sowie Israel, eigentlich weniger Anlaß zur Beunruhigung sein sollen.

Abgesehen von dieser Doppelmoral, die in internationalen Beziehungen letztlich gang und gäbe ist, hat der US-Verteidigungsminister jedenfalls auf die ungeheuerlichste Weise übertrieben. Betrachten wir zunächst die chemischen Waffen. Die Behauptung, die VX-Vorräte des Irak reichten aus, um die gesamte Erdbevölkerung zu vernichten, ist einfach aus der Luft gegriffen. Die tödliche Dosis VX liegt bei 0,4 Milligramm. Vorausgesetzt, jeder Erdbewohner erhielte nur die tödliche Minimaldosis, wären für die Ausrottung der Menschheit mehr als 2000 Tonnen nötig. Nun ist aber nach Angaben der UN-Sonderkommission lediglich der Verbleib eines Bestands von 200 Tonnen VX ungeklärt. Sicher würde auch die Freisetzung dieser Menge Schreckliches bewirken. Doch aus welchen Gründen, wenn nicht zum Zweck politischer „Vergiftung“, hätte sich William Cohen zu derartigen Übertreibungen hinreißen lassen sollen?

Und gesetzt den Fall, der Irak verfügte tatsächlich über die Menge VX, die ihm in dieser reißerischen Manier zugeschrieben wird, so fehlten ihm immer noch die geeigneten Mittel zur Verbreitung der schrecklichen Substanz. Bagdad verfügt nach Angaben der UN-Sonderkommission schlimmstenfalls noch über zwei Scud-Raketen. Und selbst wenn die irakische Armee in der Lage gewesen sein sollte, in der Zwischenzeit neue Mittelstreckenraketen herzustellen, und man die einsatzfähigen Flugzeuge hinzuzählen würde, so wäre dieses Waffenarsenal gleichwohl nutzlos, da der Irak von einem beeindruckenden Aufgebot an feindlichen Streitkräften umgeben ist und sein Staatsgebiet unter ständiger Satellitenüberwachung steht.

Noch unseriöser ist die Behauptung, jene „fünf Pfund“ Milzbranderreger seien genug, um die gesamte US-Bevölkerung zu vernichten. Dies würde voraussetzen, daß die Amerikaner einer solchen Plage genauso hilflos ausgeliefert wären wie die amerikanischen Indianer im 16. und 17. Jahrhundert den Mikroben, die von den europäischen Eroberern eingeschleppt worden waren!

Sieht man von den gezielten Übertreibungen des amerikanischen Verteidigungsministers einmal ab, so bleibt die Tatsache, daß die Möglichkeit eines „bioterroristischen“ Attentats weitaus glaubwürdiger und beunruhigender ist als das Szenario eines chemischen Bombenangriffs auf die USA und ihre Verbündeten oder deren Streitkräfte. Der Grund dafür liegt in einem wesentlichen Unterschied zwischen chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen. Die lähmende oder tödliche Wirkung chemischer Kampfstoffe setzt sofort oder jedenfalls wesentlich schneller ein als bei biologischen Waffen, weshalb sie für den Kampfeinsatz besser geeignet sind. Ihre Herstellung und Verwendung zur Massenvernichtung erfordert ein Mindestmaß an moderner technischer Ausrüstung, die eher Armeen als terroristischen Gruppen zur Verfügung steht. Zudem können sich bewaffnete Verbände durch Gasmasken, Schutzanzüge, präventive und nachträgliche Einnahme von Gegenmitteln gegen chemische Kampfstoffe schützen.

Die Atomwaffe der Armen

BIOLOGISCHE Waffen dagegen haben bei gleicher Menge weitaus schlimmere Folgen. Zu den gefährlichsten B-Waffen zählt der Giftstoff des bacillus botulinus, der schon in kleinsten Mengen wirkt. Die tödliche Dosis des Botulinustoxins, die in Milliardstel Gramm gemessen wird, ist 15000mal kleiner als beim VX, das seinerseits in wesentlich geringeren Dosen wirkt als das Nervengas Sarin. Darüber hinaus besitzen biologische Waffen als lebendige Mikroorganismen die äußerst gefährliche Eigenschaft, sich aus eigener Kraft vermehren und „weiterverbreiten“ zu können, wenn sie in einem geeigneten Milieu ausgesetzt werden. Dazu kommt noch, daß sich die Verbreitungsgeschwindigkeit durch genetische Eingriffe zusätzlich steigern läßt. Auch sind sie mit einfachsten Mitteln herzustellen. Oft genügt ein behelfsmäßiges Labor in einem Badezimmer.

Die Ausstreuung biologischer Substanzen erfordert weder hochentwickelte Instrumentarien noch einen besonderen Einfallsreichtum. Da sie auf dem Atemweg oder mit der Nahrung aufgenommen werden, genügt es, sie mit Hilfe eines Flugkörpers über einer offenen Fläche zu versprühen, in einem geschlossenen Raum zu zerstäuben, ins Trinkwasser zu mischen oder an Lebensmittel zu geben. Auch biologische Kampfstoffe sind also „Tarnkappenwaffen“; sie bleiben weitgehend unsichtbar. Es gibt für sie keine geeigneten Detektoren, so daß sie unbemerkt transportiert und auch über Grenzen geschmuggelt werden können, sei es in den kleinen Mengen, die man braucht, um Bakterienkulturen anzulegen, sei es in Mengen, die bereits ausreichen, um ein Massensterben zu bewirken.

Deshalb wird diese Bedrohung im Pentagon sehr ernst genommen. Oberstleutnant Robert Kadlec, als Mediziner und Experte in Fragen der biologischen Kriegführung bei der US-Luftwaffe tätig, schätzt in einem kürzlich erschienenen Sammelband über die Kriegsproblematik im 21. Jahrhundert5 , daß sich 100 Kilogramm des Milzbrandbazillus, des Nachts bei schwachem Wind über einer Stadt wie Washington ausgestreut, über eine Fläche von 300 Quadratkilometern verbreiten und eine bis drei Millionen Menschen töten würden. Dies wären „genauso viele wie bei einer Atombombe vergleichbaren Gewichts“. So könnten biologische Kampfstoffe durchaus zur „Atomwaffe armer Länder“ werden.

Des weiteren beschreibt Kadlec, welche Panik die Verbreitung von ein paar Kilo Milzbrandbakterien in einer Stadt wie New York auslösen würde: Hunderttausende von Toten bereits in den ersten Tagen, einige tausend Menschen, die medikamentös behandelt und geimpft werden könnten, und Millionen, die in Panik auf ärztliche Behandlung warteten. „Die nach einem biologischen Terrorangriff erforderlichen Anstrengungen wären genauso groß wie nach der Explosion einer Atombombe infolge eines Unfalls oder absichtlicher Zündung.“

Kadlec zitiert im weiteren den Kommandanten der „Abteilung für Verteidigung gegen chemische und biologische Angriffe“ (CBDA) beim amerikanischen Heer, nach dessen Auffassung eine Armee auf einem Kriegsschauplatz nur noch durch biologische Waffen ernsthaft in Bedrängnis zu bringen ist. Und genau aus diesem Grund verfügen eine Reihe von Ländern in den beiden wichtigsten Spannungsgebieten der Welt über ein biologisches Waffenarsenal. Im Nahen Osten sind dies außer dem Irak der Iran, Israel, Libyen und Syrien; in Ostasien Nord-Korea, China und Taiwan. Die beiden Supermächte des Kalten Kriegs hatten im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre umfangreiche Bestände an biologischen Waffen aufgebaut, bevor sie 1972 die „Konvention über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) und toxischer Waffen und über deren Vernichtung“ unterzeichneten.

Wie schwierig es ist, ein Verbot biologischer Kampfmittel durchzusetzen, zeigt die letzte Irakkrise (der Irak hat die B-Waffen-Konvention unterzeichnet): Weil diese Substanzen so leicht herzustellen sind, könnte eine internationale Inspektion niemals so gründlich sein wie eine Überprüfung der Einhaltung des Atomwaffensperrvertrags.

Man müßte in jedem Land nicht nur die militärischen Anlagen überprüfen, sondern auch sämtliche Fabriken der Chemie-, Pharmazeutik- und Lebensmittelindustrie, bis hin zur kleinsten Toilette in den „Präsidentenpalästen“ und anderen Regierungsgebäuden – das heißt, man bräuchte für jeden Unterzeichnerstaat eine eigene UN-Sonderkommission. Und selbst dann wäre nicht auszuschließen, daß die Produktion unter irgendwelchen Tarnadressen weiterläuft, die man nur mit traditionellen Spionagemethoden auskundschaften könnte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß manche Produkte aus dem zivilen Bereich ohne großen Aufwand für militärische Zwecke nutzbar gemacht werden können.

Solange diese Waffenart nur als „Atomwaffe armer Länder“, das heißt als Abschreckungsmittel eingesetzt wird, stellt sie ein vergleichweise geringes Risiko dar. Wie bei den Atomwaffen ist ein Unfall auch hier wahrscheinlicher als eine militärische Verwendung. Jeder Staat, der biologische Kampfstoffe einsetzt, weiß, daß er einen ähnlichen, wenn nicht schlimmeren Gegenschlag zu gewärtigen hat. Die Vereinigten Staaten und Israel drohten dem Irak in kaum verhüllten Worten einen Nuklearschlag an für den Fall, daß er ihre Truppen oder ihr Staatsgebiet mit chemischen oder biologischen Waffen angreifen sollte, und so hütete sich der Irak 1991 wohlweislich, zum Äußersten zu greifen wie einst im Krieg gegen den Iran.

Weit besorgniserregender ist dagegen die Gefahr eines „Bioterrorismus“, das heißt der Verwendung biologischer Kampfstoffe für Terroranschläge in urbanen Zentren. Die Anzeichen hierfür mehren sich bereits in beunruhigender Weise. So sind seit 1993 auch die Vereinigten Staaten, die lange Zeit als „unantastbar“ oder immun gegen terroristische Aktivitäten erschienen, Ziel von Bombenattentaten geworden. Neben den bekannten Anschlägen von New York (World Trade Center), Oklahoma City und Atlanta (Olympische Spiele) waren zahlreiche andere Attentatsversuche zu verzeichnen, die ebenso verheerende Folgen hätten zeitigen können.

Ferner gibt es deutliche Anzeichen, daß der Terrorismus zunehmend auf „nichtkonventionelle“ Mittel umsteigt. Der in dieser Hinsicht bisher spektakulärste Vorfall war das U-Bahn-Attentat der Aum-Shinrikyo-Sekte in Tokio am 20. März 1995.6 Eine Woche später entdeckte die Polizei in den Räumlichkeiten der Sekte eine erhebliche Menge des bacillus botulinus. Hätte die Sekte statt des verwendeten Nervengases Sarin am gleichen Ort und zur gleichen Zeit bakterielles Botulinustoxin eingesetzt, wären Tausende oder Zehntausende Menschen zugrunde gegangen.

Die terroristische Gefahr, die von religiösen Sekten oder einheimischen Extremisten ausgeht, ist schon alarmierend genug; hinzu kommt aber noch das Wiederaufleben des Terrorismus als Waffe „des Schwachen gegen den Starken“, als Vergeltungsmaßnahme eines Staates oder einer bewaffneten Gruppe. Den meisten Anlaß zu Besorgnis gibt jedoch ein Phänomen, das diese beiden Merkmale vereinigt: der staatlich unterstützte politisch- militärische Vergeltungsterrorismus, der auf dem Territorium und gegen Zivilobjekte des feindlichen Staats operiert. Man könnte dies als „französisches Szenario“ bezeichnen, da Frankreich bereits zweimal Zielscheibe solcher Aktionen war. So schreibt man die Terroranschläge, die Paris 1986 erschütterten, gemeinhin dem Iran zu, der damit auf die Unterstützung seines damaligen Kriegsgegners Irak durch Frankreich reagiert haben soll. Die zweite Attentatsserie auf französischem Boden ging 1993 von den algerischen „Bewaffneten Islamischen Gruppen“ (GIA) aus.

Mit Blick auf solche terroristischen Vergeltungsmaßnahmen erscheint den Washingtoner Strategen diese Bedrohung als die Archillesferse der amerikanischen Macht. In einem Papier zur „nationalen Sicherheitsstrategie“, das vom Weißen Haus im Mai 1997 veröffentlicht wurde, steht an zweiter Stelle der Prioritätenliste die Fähigkeit, „asymmetrischen Mitteln“ begegnen zu können – das heißt „nichtkonventionellen Methoden, die unsere Stärken umgehen oder untergraben und unsere Schwächen ausnützen“7 (an erster Stelle steht die Aufgabe, die Streitkräfte auf einem Niveau zu halten, das ihnen erlaubt, fast gleichzeitig auf zwei „größeren Kriegsschauplätzen“ einzugreifen). Die vom Pentagon zur gleichen Zeit veröffentlichte vierjährige Finanzplanung für den Verteidigungshaushalt setzt dieselben Prioritäten und räumt den „asymmetrischen Herausforderungen“8 einen wichtigen Stellenwert ein.

In amerikanischen Veröffentlichungen zu Strategie- und Militärfragen fällt auf, welche Bedeutung man dem Grundsatz des „Präventivschlags“ gegen die „asymmetrischen Bedrohungen“ beimißt. Als vorbildlich wird immer wieder die Bombardierung des irakischen Atomreaktors Osirak durch Israel 1981 genannt (die ebensogut eine nukleare Großkatastrophe hätte auslösen können). Die USA folgten dem israelischen Beispiel, als sie 1989 die libysche Chemiefabrik von Rabta bombardierten, und ebenso, als im Golfkrieg 1991 irakische Industrieanlagen, die als Produktionsstandorte für chemische und biologische Kampfstoffe galten, mit Raketen beschossen wurden – in beiden Fällen auf die Gefahr hin, daß tödliche Substanzen in die Umwelt gelangen.

Statt „Präventivschlägen“ das Wort zu reden, sollte man sich fragen, wie die Schreckensszenarien zu verhüten wären. Wer könnte an diesen Szenarien ein Interesse haben? Hier lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. Zum einen die „Desperados“ aus den Industrieländern, die Kinder der sozialen Krise, die durch den Glaubwürdigkeitsverlust fortschrittlicher Utopien fanatischen Sektierern mit politischer oder religiöser Zielsetzung in die Arme getrieben werden. Zum anderen Staaten oder Bewegungen in der Dritten Welt, die dem Westen feindlich gegenüberstehen, seit dem Untergang der Sowjetunion jedoch nicht mehr den Handlungsspielraum besitzen, den die Zweiteilung der Welt ihnen gewährte. Die einzig wirksame Antwort auf diese beiden potentiellen Bedrohungen müßte zum einen darin bestehen, anstelle wachsender Rüstungsausgaben das Netz der sozialen Sicherung neu zu knüpfen – welfare state statt warfare state; zum anderen müßte an die Stelle der Arroganz der einen Supermacht am Ende dieses Jahrhunderts eine demokratische Umorganisation der internationalen Beziehungen treten.

dt. Bodo Schulze

* Lehrt politische Wissenschaften an der Universität Paris-VIII und an der American University of Paris, Mitglied des Centre interdisciplinaire de recherche sur la paix et d‘études stratégiques (CIPRES-EHESS, Paris).

Fußnoten: 1 Newsweek, 2. März 1998. 2 Newsweek, 8. Dezember 1997. 3 Nach US-amerikanischen Informationen soll der Irak seine ersten Kulturen des Milzbrandbazillus bei einem Versandhandel in den Vereinigten Staaten bestellt haben! 4 Vgl. Kendal Nezan, „Quand ,notre‘ ami Saddam gazait ses Kurdes“, Le Monde diplomatique, März 1998. 5 Barry Schneider, Lawrence Grinter (Hrsg.) „Battlefield of the Future. 21st Century Warfare Issues“, Air War College Studies in National Security, Nr. 3 (1995), im Internet komplett zugänglich; der Beitrag von Robert Kadlec, „Twenty-First Century Germ Warfare“, steht dort unter www.cdsar.af.mil/ battle/chp9.html. 6 Diese Wahnsinnstat mit dem Nervengas Sarin kostete zwölf Menschen das Leben, mehr als fünftausend Menschen zeigten Vergiftungssymptome. 7 Bill Clinton, „A National Security Strategy for A New Century“, White House, Washington, Mai 1997. 8 Department of Defense, „Report on the Quadrennial Defense Review“, Washington, Mai 1997. Über die amerikanische Strategieplanung 1997 vgl. Michael Klare, „Der nächste kalte Krieg beginnt in den Köpfen“, Le Monde diplomatique, November 1997, sowie die Cahiers d'études stratégiques, 21, CIPRES (EHESS), Paris, Juni 1998.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von GILBERT ACHCAR