10.07.1998

Alte Waffenbrüder bekriegen einander

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Alte Waffenbrüder bekriegen einander

ES ist ein eigenartiger Krieg, den Äthiopien und Eritrea seit Anfang Mai gegeneinander führen: Weder ethnische noch religiöse Gründe, nicht einmal ein Gerangel um die Macht spielen in diesem Konflikt eine Rolle, sondern ganz „altmodisch“ streiten zwei Staaten um den Grenzverlauf. Bis Mitte Juni sind den kriegerischen Auseinandersetzungen, die das politische Geichgewicht in der gesamten Region am Horn von Afrika gefährden, annähernd tausend Menschen zum Opfer gefallen.

Von JEAN-LOUIS PÉNINOU *

Wie konnte der Territorialstreit zwischen Äthiopien und Eritrea, der im Grunde seit Jahren schwelt, plötzlich in einen mörderischen Grenzkrieg ausarten? Die offiziellen Verlautbarungen zu Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen gaben unterschiedliche Antworten, die sich jedoch ergänzen. In der eritreischen Hauptstadt Asmara lastet man den dominanten Kräften des äthiopischen Gliedstaates Tigre an, sie versuchten, sich die als „umstritten“ geltenden Gebiete endgültig einzuverleiben.

Als der eritreische Befehlshaber von Badme, General Gerzgiher Tesfamariam, in Reaktion auf einen Vorfall, der einige Tage zuvor das Leben eines Eritreers gefordert hatte, eine Strafaktion gegen die örtliche Miliz von Shire unternahm und gewaltsam das gesamte Gebiet bis zur Grenze zurückeroberte, erwartete Asmara offensichtlich keine größere Reaktion aus Addis Abeba. Die Sache würde wie schon mehrere Male als Familienzwist abgetan werden. So dachte man offenbar in Regierungskreisen; Issayas Afeworki, der eritreische Regierungschef, befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal in seinem Land, sondern weilte zu einem Staatsbesuch in Saudi-Arabien... In der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba empfand man diese Demonstration der Stärke jedoch als unerträglichen Ausdruck eritreischer „Arroganz“. Und dies wog um so schwerer, zumal die beiden Länder nach dem Ende der früheren Währungsunion schon seit Monaten einen verdeckten, doch unerbittlichen Wirtschaftskrieg gegeneinander führten.

Dabei schien das Bündnis der einstigen Waffenbrüder gegen Mengistu solide, es hatte schließlich beiden Regimes – seit 1991 an der Macht – erhebliche Vorteile gebracht. Abgesehen von einer ähnlichen Ausrichtung in der Außenpolitik, die sich in guten Beziehungen zu den Amerikanern und der Mitwirkung an der Allianz für die „afrikanische Wiedergeburt“ ausdrückt, beschritten Eritrea und Äthiopien allerdings sehr unterschiedliche Wege. Das damit entstandene Konfliktpotential wurde vom Ausland kaum bemerkt.

Da sind zunächst die Unterschiede im politischen System. Als Eritrea nach langen Kriegsjahren die Unabhängigkeit erlangt hatte, begann man mit dem Aufbau eines Einheitsstaates im Geiste eines Jakobinertums, das nur eine Partei duldet und von einer militaristischen Gesinnung geprägt ist, die aus den Zeiten des Buschkrieges stammt. Präsident Issayas Afeworki, eine charismatische Figur, wird von den Seinen bewundert, trifft seine Entscheidungen jedoch autoritär und manchmal isoliert. Die innenpolitischen Weichenstellungen nach 1991 – Trennung von Staat und Kirche, Einführung des Wehrdienstes, Verzicht auf Amtssprachen, Neugliederung der Verwaltungsbezirke –, sollten dazu dienen, die im Krieg geformte innere Einheit des Landes zu festigen, das ethnisch, religiös wie auch in bezug auf die Sprachen kaum weniger vielgestaltig ist als das benachbarte Äthiopien. Ein strenger Nationalismus bildet den Kern der eritreischen Staatsideologie, seit langem benutzt man als Emblem des neuen Staates weniger die Nationalflagge (ursprünglich identisch mit der Fahne der Eritreischen Befreiungsfront EPLF) oder das Kamel (seit 1991 das offizielle Symbol des Landes), sondern vor allem die Karte des Landes.1

Der äthiopische Präsident Meles Zenawi verfolgte eine ganz andere Politik. In der 1995 verabschiedeten Verfassung wurde ein kompliziertes System des „ethnischen Föderalismus“ verankert, das innerhalb Äthiopiens regelrechte Kleinstaaten entstehen ließ – eine gewagte Konstruktion, die in der äthiopischen Geschichte ohne Beispiel ist und damals sofort auf den Widerstand der Tigreischen Volksbefreiungsfront (TPLF) stieß. Obwohl sie höchstens ein Zehntel der äthiopischen Bevölkerung repräsentiert, war die Befreiungsfront nicht bereit, die Macht zu teilen. Das Regime von Meles Zenawi hatte sich aber nicht nur den Unmut der einstigen Elite des Landes (vorwiegend amharischen Ursprungs) zugezogen, die den Föderalismus ablehnt und den „Verlust Eritreas“ nicht verschmerzen kann, es sah sich auch mit der bewaffneten Gegnerschaft anderer ethnischer Bewegungen konfrontiert, die von der Macht ausgeschlossen blieben. Der Zerfallsprozeß beschleunigte sich, und Präsident Meles Zenawi konnte nicht verhindern, daß sich sogar innerhalb seiner TPLF selbst eine Tendenz entwickelte, mit den Ultranationalisten in Tigre in der Eritrea-Frage zu wetteifern. Um diese Gruppierung von Addis Abeba fernzuhalten, überließ Zenawi ihr die politische Führung im Gliedstaat Tigre.

Unterschiede auch in der Wirtschaftspolitik. Das Vorbild der eritreischen Wirtschaftsexperten ist Singapur: Wirtschaftsliberalismus, Produktion für den Export, Mißtrauen gegenüber nicht kontrollierbarer ausländischer Finanzhilfe. Das Ideal der äthiopischen Wirtschaftsexperten hingegen ist Süd-Korea: Devisenbewirtschaftung, expansive Investitionspolitik, maximale Ausschöpfung ausländischer Wirtschaftshilfe. Doch die eine Vision ist ebenso realitätsfern wie die andere: die Infrastruktur beider Länder ist zerstört, Bauern und Viehzüchter leben ständig am Rande einer Hungersnot.

Die Entscheidung Eritreas, im November 1997 eine eigene Währung (den Nakfa) einzuführen, um ungehindert über finanzielle Transaktionen mit dem Ausland entscheiden zu können, hat die Koexistenz beider Modelle in Frage gestellt. Ursprünglich hatten beide Länder am Ende des Krieges 1991 ein Freihandelsabkommen geschlossen, außerdem sollte Äthiopien freien Zugang zu den nun in Eritrea liegenden Häfen erhalten. Die Abschaffung der Währungsunion hat die Grenze zwischen beiden Ländern, besonders zwischen Eritrea und dem Gliedstaat Tigre, plötzlich konkret fühlbar gemacht. Die äthiopische Forderung, den bilateralen Handel künftig in Dollar abzuwickeln, verteuerte einerseits für die äthiopischen Importeure die Benutzung der Häfen von Massawa und Assab, während für die Eritreer die Kosten für die Nahrungsmitteleinfuhr stiegen. Seit Monaten hat sich also das Klima zwischen beiden Ländern erheblich verschlechtert. Meles Zenawi, dem von seinen verschiedenen Gegnern stets vorgeworfen worden war, Eritrea auf Kosten von Äthiopien zu begünstigen, konnte nun auf wirtschaftlichem Gebiet endlich beweisen, daß er nicht nur der Generalsekretär der TPLF, sondern auch der Regierungschef Äthiopiens ist.

Das Zerbrechen der Achse Asmara- Addis Abeba wird zweifellos ernste Folgen für die ganze Region haben. Abgesehen von der sudanesischen Regierung, die ihrerseits Anspruch auf die äthiopische Provinz Ogaden erhebt und nicht unglücklich ist über die Geschehnisse, ist alle Welt beunruhigt. Der Libyer Muammar al-Gaddafi wie der Dschibuter Hassan Gouled, Italien, Ägypten, Ruanda, die Vereinigten Staaten und Simbabwe – alle haben sich beeilt, als Vermittler in diesem „absurden Konflikt“ aufzutreten.

Flucht in den Abgrund?

DER spektakuläre Mißerfolg der amerikanischen Delegation, die unter Leitung der amerikanischen Staatssekretärin für Afrika, Susan Rice, seit dem 16. Mai vor Ort vermitteln wollte, hat die Fragwürdigkeit einer Vorstellung deutlich gemacht, die seit dem Blitzsieg von Laurent-Desiré Kabila im „demokratischen“ Kongo propagiert worden war: daß es in der Region ein „amerikanisches Lager“ gebe, das die neuen, autoritären, aber aufgeklärten Staatsführer Afrikas versammele. Das Scheitern von Susan Rice hat nichts mit ihrer Unerfahrenheit zu tun. Am Horn versteht man es – vielleicht besser als anderswo in Afrika –, sich der Supermächte zu bedienen, statt sich von ihnen abhängig zu machen. Der scheinbar ausgewogene Kompromiß, den die USA und Ruanda am 31. Mai vorgeschlagen hatten (Rückzug der Eritreer auf ihre Positionen von vor dem 6. Mai, weitere Diskussionen über den Grenzverlauf unter Berücksichtigung der kolonialen Grenzziehung), war zu ungenau oder kam zu früh. Weder Äthiopien noch Eritrea können es sich eigentlich leisten, gegenüber den Vereinigten Staaten ihr Gesicht zu verlieren. Da der Krieg aber nun einmal erklärt ist, droht den beiden Präsidenten zunächst einmal ein Gesichtsverlust in ihren Heimatländern, und der wiegt für sie zur Zeit sicherlich schwerer.

Wenige Wochen haben genügt – und das ist eine der dramatischsten Konsequenzen des aufgebrochenen Konfliktes –, um die Leidenschaften anzufachen. Das gilt für Äthiopien, und vor allem für dessen nördlichen Gliedstaat Tigre, in etwas geringerem Maße aber auch für Eritrea. Die potentiellen Opfer des wiederaufflammenden Hasses sind bereits ausgemacht: Hunderttausende Eritreer leben in Äthiopien, vor allem in Addis Abeba, und Zehntausende Äthiopier, vor allem Tigreer, arbeiten in Eritrea.

Dringendstes Anliegen der verschiedenen Vermittler ist es nun, das Räderwerk des Krieges anzuhalten. Das italienische Außenministerium hat immerhin einen kleinen Erfolg verbuchen können, als es Mitte Juni eine Unterbrechung der Luftangriffe erreicht hat. Doch die Führung in Addis Abeba scheint die militärischen Niederlagen der letzten Wochen als eine Schmach zu begreifen, die es zu tilgen gilt; sie könnte ihr Heil in der Flucht nach vorn suchen und zum Beispiel einen Feldzug zur Eroberung von Assab und Dankali in Eritrea unternehmen. Auf diese Weise könnte sie nicht nur den „Zugang zum Meer“ gewinnen, sondern auch die Unterstützung eines Teils der Opposition im eigenen Land. Damit käme es allerdings zum offenen Krieg zwischen beiden Ländern. Innenpolitisch steht der äthiopische Premierminister bereits so unter Druck, daß die Vermittler sich auch darüber Gedanken machen müssen, wie eine Lösung aussehen soll, die nicht den Sturz des Regimes in Addis Abeba zur Folge hat.

dt. Sabine Seiffert

* Journalist

Fußnote: 1 Siehe „Feuerpause am Roten Meer“, Le Monde diplomatique, Juni 1996, sowie „Neue Frauen in einer alten Ordnung“ von Silvia Perez-Vitoria, Le Monde diplomatique, Januar 1997.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von JEAN-LOUIS PÉNINOU