10.07.1998

Der aufhaltsame Zerfall

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Der aufhaltsame Zerfall

Die Gefahr einer Ausweitung des Kosovo-Konflikts ist nicht gebannt. Angesichts der Intervention der serbischen Armee und der Radikalisierung der „Befreiungsarmee Kosovo“ ist zu befürchten, daß demnächst auch in Makedonien – mit seiner starken albanischen Minderheit – ähnliche Probleme anstehen; weitere Flüchtlingsströme in das ohnehin politisch geschwächte Albanien wären die Folge. Auch in Bosnien-Herzegowina ist das Gleichgewicht äußerst prekär. Der Zerfall Jugoslawiens war nicht unaufhaltsam; er basiert auf gezielten Weichenstellungen der nationalistischen Kräfte, die sich paaren mit einer weitgehenden Verständnislosigkeit der internationalen Gemeinschaft gegenüber der Balkan-Realität. Verhandlungslösungen sind derzeit nicht in Sicht.

CATHERINE SAMARY *

MIT der Machtübernahme Belgrads in der autonomen Provinz Kosovo im Jahr 1989 begann nicht nur Slobodan Milošević' Aufstieg zur Macht, sondern auch die erste Phase der Abkehr von der unter Tito etablierten föderativen Staatsstruktur. Fast gleichzeitig läutete die Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) Franjo Tudjmans die zweite Phase ein: Er wurde 1990 zum Präsidenten gewählt, nachdem er im Wahlkampf die kroatischen Serben angegriffen und ihren Status in der kroatischen Republik in Frage gestellt hatte. Die dritte Phase der Zerstückelung Jugoslawiens wurde eingeläutet mit der Abspaltung Sloweniens und Kroatiens und mündete in den Krieg und die „ethnischen Säuberungen“ in Kroatien und Bosnien-Herzegowina.

Mit den jüngsten Offensiven der serbischen Polizei im Kosovo erhalten die Unabhängigkeitsbestrebungen weiteren Auftrieb – der Zerfall des jugoslawischen Raums tritt somit in die vierte Phase. Die Eskalation, auf die Slobodan Milošević, der Präsident der heutigen jugoslawischen (serbisch-montenegrischen) Föderation zusteuert, steht im Kontext einer schweren politischen Krise seiner Macht: In Montenegro haben seine Gegner die Wahl gewonnen, und er selber schloß kürzlich ein Regierungsbündnis mit der faschistoiden radikalen Serbenpartei von Vojislav Šešelj.

Der neue Kriegsherd im Balkan hat möglicherweise explosive Folgen: Er stellt die ohnehin wenig gefestigte Republik Makedonien vor eine Zerreißprobe (denn dort reklamieren die Albaner, die 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen, den Status eines Volkes); er bedroht das labile Gleichgewicht in Bosnien-Herzegowina und beschleunigt möglicherweise die Ablösungsbestrebungen Montenegros und somit den weiteren Zerfall Jugoslawiens.

Immer weitere Teile brechen aus dem jugoslawischen Mosaikbild heraus; ein Ende dieses Zerfallsprozesses ist nicht abzusehen. Die internationale Gemeinschaft betätigte sich bislang lediglich als pyromanische Feuerwehr. Die Anerkennung neuer Staaten, die auf Drängen Deutschlands und ohne jegliche begleitenden Verhandlungen zustande kam, geschah ohne ein Konzept über den zukünftigen Umgang mit der nationalen Frage. Auf diese Weise war eine Ausweitung des Krieges nicht zu vermeiden. Die Intervention der Nato und das Dayton-Abkommen von Dezember 1995 brachten Bosnien-Herzegowina zwar einen Waffenstillstand, bedeuteten aber gleichzeitig die stillschweigende Billigung der ethnischen Säuberungen. Und die derzeitigen Machthaber haben Gründe genug, die Hunderttausende von Geflohenen und Vertriebenen an der Rückkehr zu hindern.

Das alte Jugoslawien gibt es nicht mehr, ein zerstückelter Raum ist zurückgeblieben. Der unaufhaltsame Niedergang kann aus zwei entgegengesetzten Blickwinkeln betrachtet werden. Am Beginn der Krise, in den Jahren 1990 bis 1993, hörte man in der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad vielfach als Erklärung, es handele sich um ein von Deutschland und dem Vatikan angezetteltes „Komplott“. Unbestritten ist, daß die Abspaltung Sloweniens und Kroatiens von dieser Seite kräftig unterstützt wurde. Doch warum hat sich die Bevölkerung in den betroffenen Republiken in den jeweiligen Referenden für die Unabhängigkeit ausgesprochen? Mit der Verschwörungstheorie kann weder die in den achtziger Jahren offenkundige wirtschaftliche, geistige und politische Krise der jugoslawischen Föderation erklärt werden noch der besondere Konflikt im Kosovo, der die gesamte jugoslawische Geschichte begleitet.

Dieser dem Kriminalroman entlehnten Krisenerklärung steht eine andere Sichtweise gegenüber, die die Ursachen ausschließlich innerhalb des ehemaligen Staates ansiedelt und der „internationalen Gemeinschaft“ lediglich vorwirft, zu spät und unzureichend eingegriffen zu haben. Nach dieser Vorstellung ist die Krise eigentlich ein Phänomen, das „unserer“ Zivilisation fremd ist. Eine Variante dieses Ansatzes ist die (für keine Seite Partei ergreifende) Theorie vom Haß zwischen den verschiedenen Ethnien oder der Selbstzerfleischung aufgrund jahrhundertealter Stammesfehden. Eine andere Spielart macht allein die Aggression der „serbischen Kommunisten“ für die Krise und den Krieg verantwortlich. In beiden Fällen wird dem kommunistischen Regime unterstellt, es habe den Nationalismus im besten Fall eingedämmt, im schlimmsten Fall jedoch selbst geschürt, um sich seiner zu bedienen – das Jugoslawien Titos habe seinen Völkern das Zusammenleben „aufgezwungen“. Die Krise des sozialistischen Projekts und die Durchsetzung einer pluralistischen Ordnung hätten lediglich bewirkt, daß die Bürokraten der ehemaligen Einheitspartei (die in jeder der Republiken auseinanderbrach) nun statt im Gewand des „selbstverwalteten Kommunismus“ im nationalistischen Mäntelchen auftraten. Der verdrängte und unterdrückte Haß sei plötzlich wieder an die Oberfläche gekommen und habe das Mosaik zerstört... Diese Interpretation scheint zwar schlüssig, doch ihre allzu vereinfachende Sicht der Vergangenheit ist für das Verständnis der gegenwärtigen Schwierigkeiten wenig hilfreich.

Während des Zweiten Weltkrieges – wie heute – entstand die enorme interethnische Gewalt im Kontext einer spezifischen politischen Entwicklung, in der man versuchte, aus den Trümmern eines multiethnischen Staates (des ersten bzw. Anfang der neunziger Jahre des zweiten Jugoslawien)1 verschiedene Nationalstaaten auf ausschließlich ethnischer Grundlage zu errichten. Wie aber läßt sich erklären, daß dieses Vorhaben beim ersten Versuch scheiterte, sich nun, da es erneut aufgebracht wurde, aber durchsetzen konnte?

Antifaschismus als Bindeglied

EIN bedeutender Unterschied in den Rahmenbedingungen ist nicht zu übersehen: Die faschistischen oder Kollaborations-Regime, die aus dem Zerfall des ersten Jugoslawien hervorgegangen waren, standen unter den Besatzungsmächten Nazi-Deutschland beziehungsweise Mussolini-Italien. Somit war der Feind im antifaschistischen Kampf ein äußerer Feind. Die Jugoslawische Kommunistische Partei (KPJ) wußte dieses vereinigende Moment zu nutzen; sie organisierte einen nationalen Befreiungskampf auf dem gesamten jugoslawischen Territorium. In den neunziger Jahren dagegen gab es keinen gemeinsamen äußeren Feind mehr. Deutschland übte auf Slowenen und Kroaten große Anziehung aus, während es in Serbien als Erbfeind galt. Nach der Wende unter Gorbatschow bestand auch nicht mehr die Gefahr einer sowjetischen Intervention. Doch der durch die äußeren Bedingungen gegebene Zusammenhalt erklärt nicht ausreichend, warum die nationalistische Politik 1945 scheiterte, so daß das zweite Jugoslawien entstand, während 1990/91 das gesamtjugoslawische Projekt des liberalen Kroaten (und letzten Regierungschefs der jugoslawischen Föderation) Ante Marković bei den Wahlen in den verschiedenen Republiken abgelehnt wurde.

Zwar war die Kommunistische Partei Jugoslawiens nach dem Zweiten Weltkrieg nicht durch wirklich demokratische Wahlen an die Macht gekommen, da die Oppositionskandidaten, ein abgekartetes Spiel unterstellend, gar nicht erst angetreten waren. Doch nach dem Scheitern des – oftmals als „Völkergefängnis“ bezeichneten – ersten Jugoslawien und nach den fürchterlichen Zusammenstößen zwischen jugoslawischen Brudervölkern im Zweiten Weltkrieg wäre es den Kommunisten niemals gelungen, den betroffenen Völkern gegen ihren Willen ein Gesamtjugoslawien aufzuzwingen. Diese Theorie ist um so absurder, als die Kommunistische Partei, von internen Fraktionskämpfen zerrissen (und bereits seit Anfang der zwanziger Jahre verboten und verfolgt) vor dem Krieg kaum zehntausend Mitglieder zählte. Weder die standrechtlichen Exekutionen von vorgeblichen oder tatsächlichen Kollaborateuren, die die KPJ nach dem Krieg durchführte, noch die rasche Abkehr vom Pluralismus taten der ursprünglichen (und dauerhaften) Popularität des Regimes Abbruch.

Der gemeinsame multinationale Kampf gegen den Faschismus organisierte sich praktisch in föderativem Rahmen, der ursprünglich den gesamten Balkan einbeziehen und auch Albanien umfassen sollte, wie Tito versprochen hatte: Die vorwegnehmende Schaffung der zukünftigen Republiken und die Verteilung des Bodens an die Bauern in den befreiten Zonen bildeten den Ausgangspunkt für eine keineswegs künstliche Annäherung zwischen den Völkern in diesem Raum. Die Einführung der Selbstverwaltung nach dem Bruch mit Stalin 1948 stärkte die soziale Basis der Regierung in den Fabriken und unter den Intellektuellen. Mit der Entkollektivierung ab 1953 versuchte Tito, nach einer Phase der Zwangskollektivierung stalinscher Prägung, mit den Bauern des Landes zu einer Aussöhnung zu kommen.

Wenn man nicht berücksichtigt, welche Fortschritte in der Vergangenheit auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene erzielt wurden, und wenn man die reale Anerkennung der Vielfalt der nationalen Identitäten übersieht, bleibt einem das Verständnis für mehrere Jahrzehnte jugoslawischer Geschichte verwehrt. Viele waren stolz darauf, „Jugoslawen“ zu sein, auch wenn sie ihre serbische, kroatische, slowenische oder albanische Identität beibehielten.2 Dem an der Peripherie des Kapitalismus gelegenen Land, in dem die Landwirtschaft 1945 noch 80 Prozent der wirtschaftlichen Produktion ausmachte, war es gelungen, die Unterentwicklung zu überwinden, und bis Ende der siebziger Jahre verzeichnete die Wirtschaft bedeutende Wachstumsraten.

Dennoch handelte es sich um ein junges und zerbrechliches Gebilde: Es fehlte an demokratischen Strukturen, und die festgeschriebene „offizielle Wahrheit“ verhinderte, daß man sich mit den dunklen Seiten der Vergangenheit auseinandersetzte. Die Einheitspartei und der Mangel an Transparenz und Kohärenz in den Wirtschaftsentscheidungen förderten die rasche Ausbreitung einer dezentralen Bürokratie, die oft in bizarrer Weise die Investitionsmittel zur eigenen Bereicherung einsetzte – das war auch im Kosovo der Fall. Die Unterdrückung der sozialen und nationalen Spannungen führte zu einer Haltung des „Jeder für sich“.

Die zunehmende Dezentralisierung der Wirtschaft ohne demokratisches Gegengewicht sowie die Öffnung des Landes für den Weltmarkt mußten in den achtziger Jahren teuer bezahlt werden. Zwar fand in allen Regionen eine Entwicklung statt, doch hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens vergrößerten sich die Abstände zwischen den einzelnen, in ihrer Bevölkerungs- und Produktionsstruktur äußerst verschiedenen Republiken. Hierin liegt einer der Hauptgründe für das Scheitern der Regierung.

Vor diesem Hintergrund leitete die Auslandsverschuldung, die durch den Anstieg des Ölpreises und danach der Zinsen Anfang der achtziger Jahre in die Höhe schnellte, das Ende des Systems ein. Mit einer Auslandsschuld von zwanzig Milliarden Dollar begann 1980 ein Jahrzehnt der Krisen und wachsenden Konflikte; im ganzen Land kam es zu Streiks. Die Bundesregierung war nicht in der Lage, gegenüber den Regierungen der Republiken und Provinzen (Kosovo und Vojvodina) eine solidarische Aufteilung der Schulden durchzusetzen. Die reichen Regionen wähnten sich benachteiligt und beschuldigten die ineffiziente bürokratische Verwaltung, bei der Verteilung der Ressourcen die weniger entwickelten Regionen zu begünstigen. Die ärmeren Regionen ihrerseits reklamierten, der Preisvorteil und die höheren Export- und damit Deviseneinnahmemöglichkeiten der reichen Regionen beruhten schließlich auf der Existenz der billigen Rohstoffe, und diese kämen aus ihren – den ärmeren – Landesteilen.

Mit Tito gegen die Macht in Belgrad

VOM Haß zwischen den Ethnien als Krisenursache kann also keine Rede sein. Umgekehrt hat die Krise allerdings den nationalistischen Haltungen und Leidenschaften Auftrieb gegeben. Doch der Titoismus war mehr als nur eine kurze Episode in der Geschichte Jugoslawiens. Er hatte bestimmte Nationalitäten gestärkt und sie gegenüber den historisch dominanten Nationen (die als einzige in der Zwischenkriegszeit anerkannt gewesen waren) protegiert.3

Gerade die Albaner des Kosovo waren Nutznießer dieser Politik gewesen: Sie, die während des Krieges unter italienischer Herrschaft mit Albanien vereint gewesen waren, fanden sich nach dem Bruch mit Stalin (als das Projekt einer gesamtbalkanischen Föderation verschwand) von Albanien getrennt und von Belgrad unterdrückt. Bestärkt durch die Reformen Mitte der sechziger Jahre, mit denen die Dezentralisierung verstärkt wurde, forderten die Kosovo-Albaner in den sechziger Jahren den Status einer Nation statt einer nationalen Minderheit4 und für ihre Provinz den Status einer jugoslawischen Republik. War denn ihre nationale Gemeinschaft nicht klarer abgegrenzt und zahlenmäßig stärker als beispielsweise diejenige der Montenegriner, die längst als Nation anerkannt waren und den Republikstatus besaßen?

In der Verfassung von 1974 wurde den Provinzen Kosovo und Vojvodina dann die Autonomie gewährt, was ihnen de facto den Status einer Republik verlieh: sie besaßen nunmehr ein Vetorecht auf der Ebene der föderativen Instanzen sowie eigene politische und kulturelle Einrichtungen – bis hin zu einer albanischsprachigen Universität. Just gegen diese Verfügungen wandte sich Slobodan Milošević, als er 1989 den Sonderstatus des Kosovo und der Vojvodina als „antiserbisch“ bezeichnete und aufhob. Dabei wäre die Anerkennung der Kosovaren als konstituierendes Volk Jugoslawiens zu einem Zeitpunkt, als sie rechtlich besser gestellt waren und ihr Lebensniveau beispielsweise über demjenigen im benachbarten Albanien lag, eine historische Chance gewesen. Deshalb schwenkten die Kosovo-Albaner im übrigen Anfang der neunziger Jahre auf den Demonstrationen gegen die serbische Macht Tito-Porträts.

Auch die Stärkung Bosnien-Herzegowinas (mit seinen drei konstituierenden Volksgruppen: Serben, Kroaten und Bosniaken) und der Republik Makedonien, die sogar offiziell eine eigene Landessprache besaß, gegenüber den übermächtigen Nachbarn heißt nicht, daß es sich bei beiden um „künstliche Gebilde“ Titos handelt, wie dies manchmal behauptet wird. Allerdings blieben es fragile Gebilde, die auf den gesamtjugoslawischen Rahmen angewiesen waren, weshalb sich die politischen Führungen Bosnien-Herzegowinas und Makedoniens verzweifelt für die Beibehaltung des gemeinsamen Rahmens eingesetzt haben. Die einseitigen Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens stellten sie vor ein tragisches Dilemma: entweder sie mußten sich in das vom serbischen Nationalismus beherrschte Jugoslawien einfügen, oder sie mußten ebenfalls ihre Unabhängigkeit erklären – auf die Gefahr hin, von den Nachbarn bedroht zu werden (wie das zwischen der serbischen und der kroatischen Führung unter Slobodan Milošević und Franjo Tudjman ausgehandelte Projekt der Aufteilung Bosnien-Herzegowinas gezeigt hat).

Entgegen der These, der neue Nationalismus sei ausschließlich neokommunistischer Provenienz, gibt es verschiedene Spielarten des Nationalismus. In Serbien verwendet der Exkommunist Milošević Programm und Motive des serbischen Nationalismus, um seine Führungsposition in der (mittlerweile in „Sozialistische Partei“ umbenannten) Partei zu festigen. In Kroatien dagegen waren es hauptsächlich antikommunistische Strömungen, die sich – häufig mit Unterstützung aus dem Ausland oder der Emigration – des Nationalismus bedienten; nicht selten wurden sie ob ihres antikommunistischen Auftretens leichtfertig als „demokratisch“ bezeichnet. Anfang der neunziger Jahre war nicht Milošević der Hauptfeind des kroatischen Staatspräsidenten Franjo Tudjman – die beiden Führer lieferten sich eher Scheingefechte, während sie hinter den Kulissen miteinander paktierten, um ihre jeweiligen Interessen besser vorantreiben zu können. Tudjmans wirklicher Gegner war Ante Marković, ein liberaler Kroate, der noch der gesamtjugoslawischen Lösung anhing und zu diesem Zeitpunkt von der Armee unterstützt wurde.

Ante Marković, der damalige Regierungschef, war es auch (und nicht, wie manchmal behauptet wird, Slobodan Milošević), der den Befehl zum Einsatz der Bundesarmee gab, als Slowenien im Juni 1991 einseitig seine Unabhängigkeit erklärte. Der aufkommende serbische Nationalismus hatte auf Slowenen wie Kroaten eine abschreckende Wirkung. Doch die nationalistische Führung dieser beiden Republiken wollte in erster Linie ihre eigene Macht sichern sowie den Privatisierungsprozeß und die Eingliederung in die kapitalistische Welt kontrollieren. Die slowenische Führung hatte zwar für die Kosovo-Albaner Partei ergriffen, doch wollte sie nicht mehr für diese arme Region bezahlen. Ihr Bruch entsprach derselben Logik, mit der die Tschechen den „Bremsklotz“ Slowakei loswerden wollten, um sich schneller der Europäischen Union anschließen zu können. Die Kroaten versuchten nach dem Vorbild der Slowenen, sich von den „Balkanvölkern“ abzugrenzen und als „wahre Europäer“ zu präsentieren. Für die politische Führung beider Republiken sollte der Kosovo eine innere Angelegenheit Serbiens bleiben – und die Frage der Serben in Kroatien eine innere Angelegenheit Kroatiens.

Die Partei von Ante Marković und die Liberalen allgemein stellten keine Alternative zum rückwärtsgewandten Nationalismus dar, da die Logik des Marktes, für den sie sich stark machten, die Kluft zwischen den Regionen vertiefte und die Schutz- und Solidarmechanismen zerstörte. Alle weniger entwickelten Republiken hatten im Gegensatz zu den reichen slowenischen und kroatischen Republiken ein stärker auf Umverteilung basierendes jugoslawisches System befürwortet. Bereits in den Zeiten der Selbstverwalteten Produktion hatten sich die Gegensätze verschärft, die nun mit der Privatisierung weiter wuchsen.

Wer sollte von diesem unerwarteten Reichtum profitieren: die Föderation oder die jeweiligen Machthaber in den Republiken? Die ungleiche Entwicklung verleitete die reichen Republiken dazu, notfalls allein auf die liberale Karte zu setzen, wobei die Aussicht auf einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft einen zusätzlichen Faktor für den Zerfall des Systems bildete. Der für die marktwirtschaftliche Konkurrenz kennzeichnende Egoismus bedeutete, daß man nicht weiter für die anderen bezahlen wollte, und schon gar nicht im Rahmen eines Umverteilungsbudgets. Die Krise und die Arbeitslosigkeit beförderten zudem Schutzreaktionen gegen die Marktwirtschaft und vor allem gegen das Ausland.

Hierin liegen also die tieferen Ursachen für die Niederlage der Regierung von Ante Marković gegenüber den nationalistischen Parteien und deren Führern. Überdies blieb die Unterstützung der westlichen Regierungen aus. Die Vereinigten Staaten hatten den Großteil der polnischen Auslandsschuld getilgt, und Deutschland hat seit 1989 riesige Summen für die Wiedervereinigung bezahlt. Doch Jugoslawien war für sie kein strategisch wichtiger Faktor: Es war ihnen keinen Marshall-Plan wert – und auch keinen Krieg.

Zerstörerische Realpolitik

DAS Auseinanderbrechen der multinationalen jugoslawischen Föderation zwang die westlichen Regierungen, sich mit einer völkerrechtlich äußerst widersprüchlichen Situation auseinanderzusetzen. Statt zu versuchen, die bedrohtesten Gemeinschaften zu beschützen, ergriffen sie Partei für einzelne Nationen – nach dem Muster der historischen Bündnisse: Deutschland stellte sich hinter Slowenien und Kroatien, Frankreich hinter Serbien. Es gab keinen Versuch, die auf dem Balkan eng verwobenen nationalen Fragen systematisch anzugehen. Die Frage des Selbstbestimmungsrechts stellte sich in einem historisch neuen, nicht kolonialen Kontext und im Rahmen eines Territoriums, in dem sich die Spuren früherer Herrschaftsverhältnisse überlagern. Sollte man Staaten anerkennen oder ein Selbstbestimmungsrecht der Völker im ethnisch- nationalen Sinn? Sollte man das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes an die Gründung eines eigenen Staates knüpfen? Welcher Platz sollte den Minderheiten zukommen, deren Rechte unter dem Tito- Regime weit ausgeprägter waren, als dies gemäß verschiedenen internationalen Normen wie etwa denjenigen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vorgesehen ist?

Die serbische Führung verteidigte das Recht des serbischen Volkes, ungeteilt in einem eigenen Staat zu leben, verweigerte den Albanern aber ebendieses Recht. Die kroatische Regierung verweigerte den kroatischen Serben, was sie für die Kroaten in Herceg-Bosna durchzusetzen versuchte. Belgrad berief sich auf das französisch-jakobinische Modell, um den Autonomiestatus des Kosovo aufzuheben, während man sich in Zagreb an das deutsche Verständnis der Nation als Blutsgemeinschaft anlehnte.

Die Großmächte müssen ihre „Realpolitik“ heute teuer bezahlen. Sie haben gehofft, den serbischen Nationalismus eindämmen zu können, indem sie den kroatischen Nationalismus stärkten und die „ethnischen Säuberungen“ in Kroatien, von denen die serbische Bevölkerung betroffen war, zuließen. Slobodan Milošević machte sich diese Politik zunutze, um den Kosovo zu einer „inneren Angelegenheit“ Serbiens zu erklären, ohne deshalb von seinem Ziel abzurücken, sich die Republik Bosnien-Herzegowina mit Kroatien aufzuteilen. Dem erklärten Ziel der westlichen Regierungen, auf dem Balkan eine friedlich zusammenlebende Staatengemeinschaft zu festigen, steht die harte Realität gegenüber. Eine Realität, die geprägt ist durch die Straflosigkeit von Kriegsverbrechen, die ungerechte Behandlung der nationalen Frage und die Verschärfung des Entwicklungsgefälles, was neue, anhaltende Konflikte hervorbringen wird. Die EU hat sich als unfähig erwiesen, zur Lösung der einzelnen Konflikte beizutragen, die mit der Zerschlagung der Föderation einhergingen, und die Fragen zu beantworten, die durch die jugoslawische Krise implizit aufgeworfen sind: Wie kann der Lebensstandard verschiedener Länder angeglichen werden, und welche individuellen und kollektiven demokratischen Rechte müssen gewährleistet sein, um einen multinationalen Raum zu verwalten?

dt. Birgit Althaler

* Dozentin an der Universität Paris-Dauphine und Autorin von „Die Zerstörung Jugoslawiens. Ein europäischer Krieg“, Köln (Neuer ISP Verlag) 1995.

Fußnoten: 1 Man unterscheidet drei „Jugoslawien“. Das erste Jugoslawien (das 1929 diesen Namen erhielt) entstand in der Zwischenkriegszeit und wurde durch die serbische Monarchie beherrscht. Das zweite, föderative und sozialistische Jugoslawien wurde von Tito bis zu dessen Tod im Jahr 1980 regiert und endete 1991, als sich Slowenien und Kroatien abspalteten, gefolgt von den Unabhängigkeitserklärungen Makedoniens und Bosnien-Herzegowinas. Serbien und Montenegro erklärten sich daraufhin zur Bundesrepublik Jugoslawien, dem dritten Jugoslawien. 2 Im Jugoslawien Titos wurde zwischen Staatsbürgerschaft (der Zugehörigkeit zum Bundesstaat beziehungsweise zur Republik) und Nation (narod) beziehungsweise Volk im ethnisch-kulturellen Sinn unterschieden. Die Zugehörigkeit zu einer Nation konnte aus der Liste der verfassunggebenden Nationen, denen das Selbstbestimmungsrecht zugestanden wurde, frei gewählt werden. Man konnte also gleichzeitig Jugoslawe und Serbe, Kroate oder ähnliches sein. Über eine Million Menschen erklärten sich 1981 allerdings der „jugoslawischen“ Nation zugehörig. 3 Dies gilt insbesondere für die makedonische Nation und Sprache, die sowohl von den serbischen als auch von den bulgarischen und griechischen Nationalisten verleugnet wird, aber auch für die Nation der bosnischen Muslime (islamisierte Slawen). 4 Der eher als abwertend empfundene Begriff „nationale Minderheit“ wurde durch das Wort narodnost ersetzt, das oft mit „Nationalität“, besser jedoch mit „nationaler Gemeinschaft“ übersetzt wird.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von CATHERINE SAMARY