10.07.1998

Als das Sehen noch geholfen hat

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Als das Sehen noch geholfen hat

Der Begriff der Darstellung ist in den letzten zehn Jahren durch die digitale Revolution, die Vielfalt neuer Medien und den Aufschwung des Internets ins Wanken geraten. Vor allem die Techniken der Bildsynthese ebnen einer neuartigen Manipulation den Weg. Im Rahmen des alljährlichen „Photo- Treffens“ in Arles fand am 6. und 7. Juli ein internationales Kolloquium über „Bilder des Wirklichen, Bilder des Virtuellen“ statt. Im Zentrum der Erörterungen stand dort vor allem das Problem, daß aufgrund der virtuellen Bilder heutzutage Manipulation und Lüge nicht mehr kenntlich sind.

Von CHRISTIAN CAUJOLLE *

NOCH nie in seiner Geschichte war der Mensch mit so vielen verschiedenen Darstellungsarten konfrontiert. Noch nie standen ihm so viele unterschiedliche Techniken zur Verfügung, das Universum, dessen Teil er ist, in eine Form zu bringen, lesbar zu machen. Noch nie war er von so vielen Bildern umgeben. Dies ist ein unschätzbarer Reichtum, wirft aber auch zahlreiche Probleme auf, historische, kulturelle, soziale wie politische.

Das erste Problem ist das der Lesbarkeit: Wer kann die Bilder, oder besser: den Sinn, den diese Bilder erzeugen, überhaupt lesen? Obwohl wir jeden Tag mit Hunderten von Bildern in Berührung kommen, ist die große Mehrheit nicht in der Lage, sie zu entschlüsseln. Was wird aus einer Gesellschaft, in der die Bilder omnipräsent sind, aber nur einige „Auserwählte“ deren Absichten zu lesen vermögen? Kann man von Demokratie reden, wenn ein Großteil der Empfänger dieser Bilder auf ebendiesem Gebiet Analphabeten sind?

Kompliziert wird das Ganze noch durch das Auftreten einer neuen Kategorie von Bildern: den Bildern der „virtuellen Wirklichkeiten“. Als virtuell bezeichnen wir Bilder, die wir lesen können, weil wir in ihnen uns bekannte Formen wiedererkennen, deren Vorhandensein auf dem Bild aber nicht an vorgefundene materielle Dinge gebunden ist.

Bis zur Erfindung der Fotografie (um 1835) galt unbestritten, daß Bilder in Gestalt von Zeichnungen, Gemälden oder Stichen Artefakte waren: Ein mit handwerklichem Können und – manchmal – einem herausragenden Talent begabtes Individuum brachte seinen Blick auf Situationen, Tatsachen oder Ereignisse in eine Form, die ihm seine Erfahrung nahelegte. Ebenso unbestritten galt, daß es sich dabei um eine Darstellung handelte, also um eine Abstraktion, die keinesfalls mit dem zu verwechseln war, was man gemeinhin „wirklich“ nennt. Es gab einerseits die Welt, andererseits die Bilder von der Welt.

Die Erfindung des Lichtbilds durch Niepce und Daguerre gaben dem gesamten Verständnis eine neue Wendung. Dieser die Optik mit der Chemie verknüpfende Prozeß verblüffte ganz konkret durch die Möglichkeit der „schnellen und äußerst präzisen Reproduktion“. Bald jedoch traten experimentelle Pioniere auf den Plan, sie erkannten die Vielseitigkeit des neuen Mediums und seine gestalterischen Möglichkeiten; die Wiedergabefunktion, die seine Geschichte anfangs begründete, hatte sich überholt.

Die einzige Gewißheit, die eine Fotografie vermittelte, war die Tatsache, daß in der Welt des Greifbaren etwas vor ihr bestanden haben mußte – sonst gäbe es das Foto nicht. Die Zeitungen bedienten sich dieses Umstands, kaum daß sie in der Lage waren, Fotografien in großem Maßstab zu reproduzieren, um eine neue Bebilderungsstrategie zu entwickeln. Fotos ersetzten fortan die Stiche, und die Presse rühmte sich der „Wahrheit“ ihrer Bilder. So ließ eine irrationale kollektive Leichtgläubigkeit die allergrößte Lüge entstehen: Es ist eine Fotografie, also ist es wahr. Und bis in die jüngste Zeit, da man begonnen hat, die Glaubwürdigkeit der Medien anzuzweifeln, galt besonders: Es ist ein Pressefoto, also ist es erst recht wahr.

Die Welt und ihr reales Inventar

Diese Lage der Dinge macht einige Klarstellungen erforderlich: Die Fotografie ist, entgegen dem Anschein, eine der Darstellungsformen, die am wenigsten dazu geeignet sind, präzise Informationen zu übermitteln.1 Genaugenommen liefert sie nur eine einzige präzise Information, nämlich: Ich bin eine Fotografie; ich bin kein Gemälde, keine Zeichnung und kein Film. Auf diese Weise teilt die Fotografie uns mit, daß sie zuallererst das Produkt einer einzigartigen Technik ist. Unser inniges Verlangen, uns die Welt anzueignen (gepaart mit dem Verlangen des Fotografen, das Universum zu archivieren) ist verblüffenderweise in einem seltsamen Glaubensvertrag zwischen Empfängern und Sendern fotografischer Bilder gemündet. Dieser unausgesprochenen Übereinkunft fällt leicht die Tatsache zum Opfer, daß jede Fotografie eines Operators bedarf, einer Person also, die hinter dem Objektiv steht, welches die Bilder aus ihrem Kontext schneidet, und somit über Ort und Moment der Aufnahme entscheidet.

Der Wunsch, die Fotografie möge, auch wenn fast alles dagegen spricht, objektiv sein, ist zu einer der fundamentalen kulturellen Gegebenheiten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geworden. Die Verwirrung ist um so größer, als wir ein und denselben Begriff für alle möglichen Bilder verwenden, die, was ihre Funktion, ihren Sinn, ihren Wert anbetrifft, nichts miteinander gemein haben. So bezeichnen wir ein Photomaton, das als Paßbild unsere Identität bezeugen (!) soll, ein während irgendeines Konflikts geschossenes Bild und einen nur für den Kunstmarkt bestimmten großformatigen Einzelabzug, der in einer Galerie oder einem Museum ausgestellt wird, gleichermaßen als Fotografie.

Der Kontext, in dem Fotografien verwendet werden, manipuliert die ursprüngliche Absicht des Fotografen; durch diese In-Form-Setzung (oder Inszenierung) lenkt der Regisseur des Diskurses die Lektüre des Empfängers zu dem von ihm intendierten Sinn. Das ist ganz offensichtlich, wird aber nie ausgesprochen. So enthält man dem Leser die Instrumente vor, die es ihm erlauben würden, diese Mechanismen zu entschlüsseln oder zumindest zu erkennen.

Im Prozeß dieser Sinnproduktion kommt dem Text eine entscheidende Rolle zu. Er ist Träger jener Informationsbestandteile, die das Bild nicht liefern kann. Folglich kann er auch Lügen in die Welt setzen, indem er der Fotografie die Aufgabe zuweist, eine Aussage zu bestätigen, die doch bloß Trugbild ist. Im Rahmen einer von Alain d'Hoogue organisierten Ausstellung, die vor über zehn Jahren unter dem Titel „Des vessies et des lanternes“ (etwa: Über das X und das U) zu sehen war, wurden rund dreißig Bilder aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs nach wissenschaftlicher Manier mit Kennummern, exakten Daten, Ortsangaben und weiteren Details aus dem Iran- Irak-Krieg versehen, ähnlich wie sie die großen Fotoagenturen damals in Umlauf brachten.

Keiner der vielen tausend Besucher dieser Ausstellung „fotografischer Täuschungen“ zweifelte an der Authentizität der dargebotenen Dokumente; erst im letzten Saal, wo die verschiedenen Manipulationen der Ausstellung erläutert wurden, erkannten sie den Schwindel. Es gibt eben keine fanatischeren Gläubigen als jene, die glauben wollen.

Um zu verstehen, worum es beim Lesen des Bildes im Zeitalter des Virtuellen geht, müssen wir herauszufinden versuchen, was dabei geschieht. Abgesehen davon, daß erwiesenermaßen nicht alle Menschen die Bilder in der gleichen Weise, in der gleichen Reihenfolge lesen, ist es offensichtlich, daß die Informationen nicht aus dem Inneren des Bildes kommen, sondern von außen. Wenn wir eine Fotografie betrachten, kreist unser Blick innerhalb des vom Fotografen bestimmten Rahmens, der seinerseits auf die Existenz eines Außen verweist. Dabei ist unser Blick auf der Suche nach Formen, die er bereits kennt, etwa nach Formen, die ihm im Alltag oder auf anderen Bildern (nicht zwangsläufig fotografischer Natur) schon begegnet sind – und die er bereits gespeichert und auch benannt hat. Eine derartige Analog-Lektüre liefert zwar nur Bruchstücke von Informationen; der Betrachter jedoch verknüpft sie auf Anhieb mit seinem Wissen und kann auf diese Weise eine Person, ein Baudenkmal, eine bestimmte Situation usw. wiedererkennen. Die einzigen dingfesten Hinweise jedoch entstammen dem Text, welcher das jeweilige Bild begleitet. Erst aus der Kreuzung von Bild und Text erwächst ein expliziter, verständlicher Diskurs.

Dies beweist im übrigen, daß wir, anders als gelegentlich behauptet, nicht in einer Bildkultur leben, sondern noch immer in einer Schriftkultur. Wir sind Zeugen eines spezifischen Moments dieser Kultur: Die Bilder sind heute omnipräsent, aber die Menschen, die in dieser Kultur leben, können mehrheitlich diese Bilder nicht lesen. So sind die Bilder für alle, die sie herstellen und vertreiben, zu einem ungeheuren Machtmittel geworden.

In diesem recht speziellen kulturellen Kontext ist jüngst eine neue Gattung von Bildern in Erscheinung getreten: die sogenannten virtuellen Bilder.2 Das Neue daran ist, daß das Vorhandensein dieser Bilder nicht auf vorfindbare Bezüge des Dargestellten in der Welt des Greifbaren rückschließen läßt.

Dabei spielen diese Bilder mit unserem Glauben an die uns vertrauten fotografischen Bilder und sehen aus, als würden sie ihnen vollkommen gleichen. Es ist ziemlich verwirrend, vor den „Portraits“ des amerikanischen Künstlers Keith Cottingham zu stehen und zu erfahren, daß sie in Tausenden Programmierstunden auf einem Rechner hergestellt wurden und daß die jungen Menschen, die auf ihnen abgebildet sind, in Wirklichkeit gar nicht existieren. Der „Realismus“ dieser Bilder ist nichts als das Produkt unseres Wunsches, an die Kraft der Bilder zu glauben, daran, daß sie wahrheitsfähig sind, daß sie eine Spur des Wirklichen darstellen.

Ende der Historienmalerei?

BEKANNTLICH ist der Bereich des Virtuellen im wesentlichen ein Produkt der Militärforschung, und so erfuhren wir – dank ganzer Bataillone von Militärberatern im Ruhestand – in den Wochen vor dem „Golfkrieg“, wie die Simulation, sich mit dem Flitter des „Realismus“ schmückend, einen „Krieg ohne Bilder“ manipulierte, der schlußendlich Tausende realer Opfer forderte.

Doch das ist nur ein Vorgeschmack des virtuellen Zeitalters, das uns vor eine grundlegende Frage stellt: Wie werden wir von nun an noch Bilder lesen können? Wie sollen wir Bilder länger als Bilder ansehen? Woher wissen wir in Zukunft, ob wir „nur ein Bild“ oder „ein korrektes Bild“ vor uns haben?

Um endlich nicht mehr alles zu verwechseln und um nicht ständig (oder zumindest etwas weniger) manipuliert zu werden, müssen wir zuerst lernen, die verschiedenen Bildtypen zu unterscheiden, je nach Art, Herstellung, Übermittlung und Einsatz. Zu diesem pädagogischen Ziel tritt noch die Notwendigkeit, sich darüber zu informieren, wie Informationen entstehen.

Paul Virilio behauptet (und wir glauben es gern), das Auftauchen des Virtuellen stelle eine Revolution dar, die in ihrer Bedeutung mit der Erfindung der Perspektive vergleichbar sei. Damit wird klar, was hier auf dem Spiel steht.

Es wurde oft beschrieben, wie das Aufkommen des „schnellen, naturgetreuen“ Halogensilberverfahrens die Portrait- und Miniaturmaler in den Ruin getrieben hat. Dabei wurde der Untergang eines wichtigen Zweiges der Malerei, der Historienmalerei, meist übersehen. Jahrhundertelang war die bildliche Kommunikation historischer Ereignisse Sache der Maler. Doch kaum waren die Lichtbildner in der Lage, Momentaufnahmen zu liefern, verschwand die HIstorienmalerei aus dem Zentrum des malerischen Geschehens, hinweggefegt vom höheren „Realismus“ der Fotografie. Wir sollten uns fragen, wie Davids „Le Sacre de Napoléon“ oder Goyas „Los Fusilamientos del 2 de Mayo“ vor und wie sie nach dem Auftritt der Reportagefotografie gesehen wurden.

Was bleibt, ist die Gewißheit, daß wir den Bildern nicht glauben dürfen.

dt. Brigitte Große

* Direktor der Fotoagentur Vu und der Rencontres internationales de la photographie, Arles 1997.

Fußnoten: 1 Siehe auch Edgar Roskis, „Maskeraden“, Le Monde diplomtique, Dezember 1996. 2 Philippe Quéau, „Alerte: leurres virtuelles“, Le Monde diplomatique, Februar 1994.

Le Monde diplomatique vom 10.07.1998, von CHRISTIAN CAUJOLLE