14.08.1998

Über die Vorherrschaft des Mannes

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Über die Vorherrschaft des Mannes

DIE Vorherrschaft des Mannes ist derart fest in unserem Unbewußten verankert, daß wir sie gar nicht mehr wahrnehmen, und derart genau auf unsere Erwartungen abgestimmt, daß wir Mühe haben, sie in Frage zu stellen. Dabei ist es heute notwendiger denn je, das Offensichtliche aufzubrechen und die symbolischen Strukturen des androzentrischen 1 Unbewußten zu erforschen, das Männern wie Frauen noch immer innewohnt. Welche sind die Mechanismen und Institutionen, die die Reproduktion des „Ewigmännlichen“ ermglichen? Ist es möglich, diese Mechanismen auszuhebeln, um die – bislang gebundenen – Kräfte freizusetzen, die für einen Wandel notwendig sind?

Von PIERRE BOURDIEU *

Ich hätte mich wohl nicht an ein so schwieriges Thema gewagt, wäre ich nicht durch die Logik meiner gesamten Forschung2 dazu gekommen. Ich habe mich immer über das gewundert, was man das Paradoxon der doxa3 nennen könnte: über die Tatsache, daß die real existierende Ordnung der Welt mit ihren Einbahnstraßen und Durchfahrtsverboten (im buchstäblichen wie übertragenen Sinne) und mit ihren Pflichten und Strafen im großen und ganzen respektiert wird; daß es nicht viel häufiger zu Übertretungen und Auflehnungen kommt, nicht viel häufiger Verbrechen und „Verrücktheiten“ begangen werden (man denke nur, welch außerordentliches Zusammenspiel von tausend verschiedenen Verrichtungen – und Willensakten – allein fünf Minuten Autoverkehr in Paris auf der Place de la Bastille oder der Place de la Concorde erfordern). Noch verblüffender ist jedoch, daß die etablierte Ordnung mit ihren Herrschaftsverhältnissen (den Rechten und Sonderrechten, Vorrechten und Ungerechtigkeiten) sich abgesehen von ein paar historischen Zwischenfällen so reibungslos hat perpetuieren können; und nicht minder verblüfft, daß selbst die unerträglichsten Lebensumstände so oft als annehmbar oder gar naturgegeben erscheinen.

Schon immer habe ich zudem die Vorherrschaft des Mannes und die Art, wie sie ausgeübt beziehungsweise hingenommen wird, als Paradebeispiel dieser paradoxen Unterwerfung angesehen – der Unterwerfung unter eine sanfte, nicht spürbare, selbst für die Opfer nicht sichtbare Gewalt, die ich symbolische Gewalt nenne, da sie sich hauptsächlich auf rein symbolischem Wege vollzieht, mittels Kommunikation und Kenntnis, oder besser: mittels Verkennung, Anerkennung und letztlich mittels des Gefühls.

Diese außergewöhnlich gewöhnliche Sozialbeziehung (die Geschlechterbeziehung) ist somit eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Herrschaftslogik zu begreifen, die unter Berufung auf ein unter Herrschenden und Beherrschten gleichermaßen bekanntes wie anerkanntes symbolisches Prinzip ausgeübt wird, etwa unter Berufung auf Sprache (oder Redeweisen), Lebensstil (oder eine Art zu denken, zu reden, zu handeln), oder allgemeiner: auf ein Unterscheidungsmerkmal, gleich ob Emblem oder Stigma, wobei ausgerechnet eine völlig zufällige und wenig aussagekräftige körperliche Eigenschaft wie die der Hautfarbe symbolisch am wirkungsvollsten ist.

Hier wird deutlich, daß es in diesen Angelegenheiten vor allem darum geht, die doxa wieder zum Paradoxon zu machen und gleichzeitig die Mechanismen abzubauen, die verantwortlich sind für die Transformation von Geschichte in Natur, von kultureller in natürliche Willkür. Um dies zu erreichen, sollten wir bereit sein, unser eigenes Universum und unsere eigene Weltsicht aus der Distanz des Anthropologen zu betrachten, der dem Prinzip von Betrachtung und Trennung (nomos) – welches der Differenz zwischen Männlich und Weiblich, wie wir sie (ver-) kennen, zugrunde liegt – seinen willkürlichen, zufälligen Charakter zuzugestehen und gleichzeitig seine soziologische Notwendigkeit anzuerkennen vermag.

Nicht zufällig benutzt Virginia Woolf4 , um das in der Schwebe zu halten, was sie sehr schön „die hypnotische Macht der Herrschaft“ nennt, eine ethnographische Analogie und verknüpft die Ausgrenzung der Frauen genetisch mit den Ritualen einer archaischen Gesellschaft: „Unweigerlich betrachten wir die Gesellschaft als einen Ort der Verschwörungen, der den Bruder, den viele von uns im Privatleben zu Recht schätzen, plötzlich verschwinden läßt. An seiner Stelle bläht sich vor uns ein monströses, lautstarkes männliches Wesen mit harten Fäusten auf, das kindlich darauf beharrt, den Boden mit Kreidezeichen zu markieren, um innerhalb dieser mystischen Grenzen die Menschen voneinander isoliert und künstlich festzuhalten; an diesem markierten Ort vollführt er in rotem und goldenem Putz, wie ein Wilder mit Federn dekoriert, seine mystischen Riten und genießt die zweifelhaften Freuden der Macht und der Herrschaft, während wir, ,seine' Frauen, im privaten Heim eingesperrt sind, ohne Anteil zu haben an den verschiedenen Gesellschaften, aus denen sich seine Gesellschaft zusammensetzt.“5

„Mystische Grenzen“, „mystische Riten“ – die rituelle Weihe, Grundlage einer neuen Geburt, bringt eine Sprache der magischen Verklärung und der symbolischen Umwandlung hervor. Diese ermuntert dazu, eine Herangehensweise zu suchen, durch die die im eigentlichen Sinne symbolische Dimension der Vorherrschaft des Mannes greifbar wird.

Archäologie des Unbewußten

EINE materialistische Analyse der Ökonomie der symbolischen Güter müßte also Mittel und Wege finden, der fatalen Alternative zwischen dem „Materiellen“ und dem „Geistigen“ oder „Ideellen“ zu entgehen. (Noch heute lebt diese Alternative fort in dem Gegensatz zwischen den als „materialistisch“ bezeichneten Studien einerseits, in denen das Ungleichgewicht der Geschlechter auf die Produktionsbedingungen zurückgeführt wird, und den oft bemerkenswerten, aber begrenzten „symbolischen“ Untersuchungen andererseits.) Doch bis dahin kann nur eine sehr eigenwillige Anwendung der Ethnologie dazu beitragen, das von Virginia Woolf angeregte Projekt zu verwirklichen: die im eigentlichen Sinne mystische Operation wissenschaftlich zu objektivieren, die zu der uns bekannten Trennung zwischen den Geschlechtern führt, anders gesagt: die objektive Analyse einer durch und durch androzentrisch organisierten Gesellschaft – etwa am Beispiel der kabylischen Tradition – als objektive Archäologie unseres Unbewußten zu behandeln, das heißt, als Instrument einer regelrechten Sozioanalyse.6

Dieser Umweg über eine exotische Tradition ist unerläßlich, um die irreführende Vertrautheit, die uns in unsere Tradition einbindet, zu durchbrechen. Die biologischen Erscheinungsformen und die durchaus realen Auswirkungen, die die lange kollektive Arbeit der Sozialisierung des Biologischen und der Biologisierung des Sozialen im Körper wie im Geist gezeitigt haben, wirken zusammen, um die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung zu verkehren. Ein naturalisiertes gesellschaftliches Konstrukt (“gender“ als geschlechtlicher Habitus) wird so als eine naturgemäße Grundlage für die willkürliche Trennung dargestellt, die sowohl der Wirklichkeit als auch der Darstellung der Wirklichkeit zugrunde liegt und sich manchmal sogar der wissenschaftlichen Forschung aufdrängt.

So geschieht es nicht selten, daß Psychologen die allgemeine Vorstellung übernehmen, die Geschlechter seien zwei radikal getrennte Mengen ohne Schnittflächen, und dabei völlig übersehen, in welchem Ausmaß sich männliche und weibliche Leistungen decken und wie verschieden groß die konstatierten Unterschiede im einzelnen sind – vom anatomischen Unterschied bis hin zur unterstellten intellektuellen Differenz. Oft lassen sie sich auch, was noch schlimmer ist, bei der Beschreibung ihres Gegenstandes von den in die Alltagssprache eingeschriebenen Prinzipien der Vorstellung und Trennung leiten, sei es, daß sie sich mühen, die von der Sprache heraufbeschworenen Unterschiede zu ermessen – etwa daß Männer „aggressiver“, Frauen dagegen „ängstlicher“ seien –, sei es, daß sie sich bei der Beschreibung der Differenzen äußerst allgemeiner, das heißt bewertender Begriffe bedienen.7

Doch läuft dieser quasi analytische Gebrauch der Ethnographie, der just das, was innerhalb der Gesellschaftsordnung als Natürlichstes erscheint, nämlich die Geschlechtertrennung, entnaturalisiert, indem er sie historisiert, nicht Gefahr, Konstanten und Invarianten – also die Grundlagen der sozioanalytischen Anwendbarkeit – ins grelle Licht zu rücken – und dadurch eine konservative Vorstellung des Geschlechterverhältnisses zu festigen, und zwar ausgerechnet diejenige, die sich im Mythos des „Ewigweiblichen“ niederschlägt?

Hier sind wir nun mit einem neuen Paradoxon konfrontiert, das womöglich ein völliges Umdenken in der Herangehensweise an das erfordert, was unter dem Begriff „Geschichte der Frauen“ gehandelt wird: Erwächst aus den Invarianten, die sich jenseits der sichtbaren Veränderungen der weiblichen Lebensumstände in den Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern beobachten läßt, nicht die Pflicht, jene Mechanismen und historischen Institutionen zum bevorzugten Objekt zu wählen, die im Laufe der Geschichte diese Invarianten unermüdlich der Geschichte entzogen haben?

Ein solches radikales Umdenken hätte auch Konsequenzen für die Praxis, insbesondere für die Entwicklung von Strategien, um den derzeitigen Zustand der materiellen und symbolischen Gewalt zwischen den Geschlechtern zu verändern.

Wenn es stimmt, daß die Aufrechterhaltung dieser Herrschaftsbeziehung nicht eigentlich (jedenfalls nicht hauptsächlich) an einem der sichtbarsten Orte der Herrschaftsausübung gewährleistet wird, nämlich innerhalb der häuslichen Einheit, auf die sich ein bestimmter feministischer Diskurs konzentriert hat; wenn vielmehr gerade in Einrichtungen wie Schule und Staat die Mechanismen produziert werden – an jenen Orten also, in denen ohnehin die Herrschaftsprinzipien erzeugt und aufgezwungen werden, die bis hinein in den privatesten Winkel wirksam sind – dann öffnet sich dem Feminismus ein enormes Aktionsfeld, das ihm gleichzeitig einen eigenständigen, gesicherten Platz im politischen Kampf gegen alle Herrschaftsformen zuweist.

dt. Brigitte Große

* Professor der Soziologie am Collège de France, zuletzt auf deutsch erschienen sind „Gegenfeuer. Argumente im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion“, Konstanz (Universitäts-Verlag) 1998, und „Über das Fernsehen“, dt. von Achim Russer, Frankfurt (Suhrkamp) 1998. Der hier abgedruckte Text ist das Vorwort zu „La Domination masculine“, das im Oktober bei Seuil, Paris, erscheinen wird.

Fußnoten: 1 Als androzentisch bezeichnet man einen Standpunkt, bei dem nicht die Frau, sondern der Mann im Mittelpunkt steht. 2 Da ich nicht genau weiß, ob eine Danksagung für all jene, bei denen ich mich gerne bedanken würde, nützlich oder schädlich wäre, begnüge ich mich damit, all den Männern und vor allem Frauen, die mit Zeugnissen, Dokumenten, wissenschaftlichen Belegen und Ideen zu dieser Arbeit beigetragen haben, zu danken, und meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß diese Arbeit sich, insbesondere in ihren Auswirkungen, des Vertrauens und der Erwartungen, die in sie gesetzt wurden, würdig erweisen möge. 3 „Doxa“ ist die Gesamtheit der Glaubensregeln oder gesellschaftlichen Praktiken, die als normal und selbstverständlich angesehen werden und nicht in Frage gestellt werden dürfen. 4 Virginia Woolf (1882-1941), englische Schriftstellerin und Essayistin; Autorin von „Mrs. Dalloway“ (1925), „Der Leuchtturm“ (1927), „Orlando“ (1928) und zahlreichen weiteren Werken. 5 Virginia Woolf, „Drei Guineen“, Aus dem Englischen von Anita Eichholz, München (Frauenoffensive) 1987, S. 146f. 6 Vielleicht nur um zu belegen, daß die hier vorliegende Arbeit nicht das Produkt einer kürzlich erfolgten Bekehrung ist, möchte ich auf ein älteres Buch verweisen, in dem ich bereits betont habe, daß die Ethnologie, auf die Geschlechtertrennung in der Welt angewandt, zu einer besonders leistungsfähigen Form der Sozioanalyse werden kann (Pierre Bourdieu, „Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft“, Frankfurt/M., Suhrkamp 1987). 7 Vgl. u. a. J. A. Sherman, „Sex-Related Cognitive Differences: An Essay on Theory and Evidence“, Springfield, Ill. (Thomas) 1978; M. B. Parlee, „Psychology: Review Essay“, Signs: Journal of Women in Culture and Society, 1, 1975, S. 119-138 (bes. über die von J. E. Garai und A. Scheinfeld 1968 postulierten Unterschiede im Denken und Verhalten der beiden Geschlechter); M. B. Parlee, „The Premenstrual Syndrome“, Psychological Bulletin, 80, 1973, S. 454-465.

Le Monde diplomatique vom 14.08.1998, von PIERRE BOURDIEU