14.08.1998

Israel in der Sackgasse

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Israel in der Sackgasse

Von IGNACIO RAMONET

WER heute, im fünfzigsten Jahr nach der Staatsgründung, durch Israel reist, bewundert die ungeheuren Erfolge und fragt sich gleichzeitig unweigerlich, welche Perspektiven diesem Land offenstehen, das derart von Zweifel, Orientierungslosigkeit und kultureller Zerrissenheit dominiert ist. War die Gründung des von Theodor Herzl erträumten Staates 1948 wirklich nur ein nationales Projekt? Oder war sie nicht für die Überlebenden der Vernichtungslager auch ein moralisches Projekt?

Immer heftiger gestalten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern eines säkularen Staats (die in der Mehrheit sind) und den in der Regierungskoalition sehr einflußreichen Religiösen. Alle sind sich einig, daß die Gesellschaft in eine neue Phase getreten ist, in den „Postzionismus“. Daß der Zionismus als kollektives und konsensuelles Projekt vor dem Ende steht. Mit großem intellektuellem Mut haben die „neuen Historiker“ in jüngster Zeit die Legende von der israelischen Unschuld in Frage gestellt. Im staatlichen Fernsehen wurde in einer historischen Serie mit dem Titel „Tekuma“ (“Widerstand“) der Aufbau-Slogan „Ein Volk ohne Land für ein Land ohne Volk“ demontiert: Denn die Sendung zeigte anhand von schockierenden Dokumenten, daß israelische Soldaten tatsächlich 1948/49 Massaker an der palästinensischen Bevölkerung verübt haben.

Heute leben innerhalb der Staatsgrenzen fast eine Million Palästinenser; das ist ein Sechstel der Gesamtbevölkerung. Zwar gibt es weniger Diskriminierung als früher, doch die Palästinenser sind noch immer Bürger zweiter Klasse, „Unsichtbare“ im „Judenstaat“. Ramis Geraysi, der Bürgermeister von Nazareth, der größten arabischen Stadt des Landes, erinnert an die Unabhängigkeitserklärung von 1948: „Damals versprach der Staat Israel allen seinen Einwohnern ,größtmögliche soziale und politische Gleichheit, ohne Ansehen von Religion, Rasse oder Geschlecht'. Doch daran hat sich niemand gehalten. Unsere Bürgerrechte werden mit Füßen getreten.“

Mit den Osloer Verträgen von 1993 kam neue Hoffnung auf, doch seit Benjamin Netanjahu im Mai 1996 zum Premierminister gewählt wurde, hat sich die Lage zusehends verschlechtert. Denn Netanjahu hat das Friedensprojekt torpediert und unzählige Provokationen heraufbeschworen. In Gasa besetzen heute 5000 extremistische jüdische Siedler unter dem Schutz von 4000 Soldaten 40 Prozent des Landes, während sich 1000000 Palästinenser im restlichen Teil unter unmenschlichen Bedingungen zusammendrängen. Im arabischen Teil von Jerusalem befördert Netanjahu unter Mißachtung des Völkerrechts den Zuzug neuer jüdischer Siedler, zudem plant er – gegen die Beschlüsse des Weltsicherheitsrates – eine weitere Ausdehnung der Stadt ins Westjordanland hinein. Auch wegen der Folter an inhaftierten Palästinensern wurde das Land bereits von der UNO verurteilt und von der Menschenrechtsorganisation B'Tselem angegriffen; die Zeitung Ha'aretz notierte jüngst, Israel sei „der einzige Staat der Welt, in dem die Folter gesetzlich zugelassen ist“2 .

JASSIR Arafat, der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde, weiß sehr wohl, daß es in den eigenen Reihen Kritik an ihm gibt (siehe den Artikel von Edward W. Said auf Seite 3). Er wirkt müde: „Netanjahu blockiert die Verhandlungen. Er sabotiert die Osloer Verträge und hält sich nicht an die UN- Resolutionen. Er verbietet die Eröffnung des Hafens und des Flughafens von Gasa, die beide von der Europäischen Union finanziert wurden. Jeden Tag fehlen uns zwei Millionen Dollar Einnahmen. Das Pro-Kopf-Einkommen der Palästinenser ist um 40 Prozent gesunken. Er läßt unsere Gefangenen nicht frei, obwohl die 4500 Gefangenen der Fatah die Friedensabkommen unterstützt haben. All das stärkt die Extremisten. Bald ist die in den Verträgen festgelegte Übergangszeit um [am 5. Mai 1999], doch wenn die Blockade so weitergeht, wird uns nichts davon abhalten können, einen souveränen, unabhängigen Palästinenserstaat auszurufen.“

Seine Mitarbeiter verfolgen genauestens die internationale Debatte über die Rückerstattung der geraubten jüdischen Güter sowie die Debatte über „die berechtigten Forderungen der Überlebenden und Nachkommen gegenüber jenen Staaten, die sich die Güter der deportierten jüdischen Familien zunutze machten“. Ohne diese recht unvergleichbaren Situationen vergleichen zu wollen, hoffen sie darauf, daß den Menschen Gerechtigkeit widerfährt und dies in das internationale Recht eingeht, so daß auch der israelische Staat verpflichtet wird, die palästinensischen Familien zu entschädigen, deren Güter konfisziert wurden.

Bislang hat Israel seit 1993 nur 2,7 Prozent des Westjordanlands zurückgegeben, und Netanjahu weigert sich, weitere 13,1 Prozent zurückzugeben, wie es die USA von ihm fordern. Dabei ist diese Forderung äußerst gemäßigt, was daran liegt, daß es in den Vereinigten Staaten enge Verbindungen der proisraelischen Pressure-group zur republikanische Kongreß-Mehrheit gibt, obwohl 89 Prozent der US-amerikanischen Juden die Friedensabkommen unterstützen.

Zwar ist die Linke paralysiert, doch die Meinungsumfragen spiegeln eine Sehnsucht nach Frieden in der ganzen Gesellschaft. Die Mehrheit akzeptiert das Konzept „Land gegen Frieden“. „Es muß ganz klar gesagt werden: Die Palästinenser brauchen einen Staat“, sagt Schimon Peres.3 Sollte der Tod von Jitzhak Rabin umsonst gewesen sein? Bevor er durch die Kugeln eines fanatischen Juden fiel, hatte er den Weg gewiesen: „Wir, die Soldaten, die blutbefleckt aus den Kämpfen zurückgekehrt sind, wir, die wir gegen euch Palästinenser gekämpft haben, wir sagen euch heute laut und klar: ,Genug des Blutes und genug der Tränen. Genug!“

Fußnoten: 1 Vgl. Dominique Vidal, „Le Péché originel d'Israäl. L'expulsion des Palestiniens revisitée par les ,nouveaux historiens' israéliens“, Paris (L'Atelier), 1998. 2 Ha'aretz, Tel Aviv, 25. Januar 1998. 3 Le Monde, 9. Januar 1998.

Le Monde diplomatique vom 14.08.1998, von IGNACIO RAMONET