14.08.1998

Der dritte Weg führt weiter

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Der dritte Weg führt weiter

DER jüngst getroffene Beschluß der israelischen Regierung, die Judaisierung von Ost-Jerusalem voranzutreiben, bestätigt das Scheitern der Osloer Verträge. Diese festgefahrene Situation hat unter den arabischen Intellektuellen neue Diskussionen über ihre Rolle und Verantwortung ausgelöst. Viele von ihnen (mit wenigen mutigen Ausnahmen) sehen in Roger Garaudy, obwohl sie dessen jüngste Werke häufig nicht einmal kennen, einen Verteidiger des Islam, der zum Opfer der westlichen Zensur geworden ist. Edwrd W. Said, der sowohl gegenüber Garaudy als auch gegenüber seinen arabischen Anhängern (vor allem in Ägypten) eine sehr kritische Position einnimmt, äußert sich im Folgenden zur Frage des moralischen und politischen Engagements arabischer und israelischer Intellektueller und zu einem demokratischen Ausweg aus der Krise.

Von EDWARD W. SAID *

Nachdem sich der „Friedensprozeß“ von Oslo als undurchführbar erwiesen hat, wäre es an der Zeit, daß Araber wie Israelis und ihre Unterstützer jeder Couleur noch einmal sehr genau nachdächten. Einiges scheint dabei ganz offensichtlich. Der Begriff „Frieden“ ist inzwischen in Verruf geraten, er bietet keinerlei Garantie dafür, daß dem palästinensischen Volk in Zukunft Leid und Zerstörung erspart bleiben. Kann man das Wort überhaupt noch unbefangen aussprechen, nach all den Demonstrationen der Macht und der Überheblichkeit, die Israel im Verlauf des „Friedensprozesses“ gegeben hat, nach der Konfiszierung von Land, den Abrißaktionen, den Verboten, den Verhaftungen, den Todesopfern?1

Der römische Geschichtsschreiber Tacitus sagt über die Eroberung Großbritanniens, die römischen Heere hätten „Verzweiflung geschaffen und sie Frieden genannt“. Nichts anderes spielt sich in den besetzten Gebieten ab, mit Beteiligung nicht nur der USA und Israels, sondern auch der Palästinensischen Autonomiebehörde und (mit wenigen Ausnahmen) der arabischen Staaten.

Andererseits sollte man nicht der Illusion verfallen, es gäbe aus der jetzigen Sackgasse einen Fluchtweg in Richtung Vergangenheit. Weder können wir zurückkehren in die Zeit vor dem Krieg von 1967, noch dürfen wir uns der Verweigerungshaltung anschließen, die uns ins Goldene Zeitalter des Islam zurückbringen soll. Sowohl Israel Schahak2 wie Asmi Bischara3 haben darauf hingewiesen, daß man Unrecht nur aufheben kann, indem man mehr Gerechtigkeit herstellt, und nicht, indem man im Gegenzug neues Unrecht erzeugt – etwa nach dem Motto „Sie haben ihren jüdischen Staat, also wollen wir einen islamischen Staat“. Ebenso unsinnig wäre es, einen Boykott von allem, was israelisch ist, als den rechten Pfad zur nationalen Identität zu verstehen, wie es derzeit unter vielen fortschrittlichen arabischen Intellektuellen in Mode ist. Schließlich gibt es rund eine Million Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft – soll man etwa auch sie boykottieren, wie es schon einmal in den fünfziger Jahren geschehen ist? Und was ist mit den Israelis, die unseren Kampf unterstützen? wollen wir uns gegen sie stellen, nur weil sie Israelis sind?

Mit einer solchen Haltung würde nicht nur der Sieg über die Apartheid in Südafrika ignoriert, sondern auch all die Erfolge im Kampf für Gerechtigkeit, die nur möglich waren, weil sich gewaltfreie Bündnisse von Gleichgesinnten auf beiden Seiten der durchaus nicht starren Grenze bildeten. Ich habe erst kürzlich in einer Veröffentlichung4 darauf hingewiesen, daß wir unseren Kampf niemals dadurch gewinnen werden, daß wir hoffen, alle Juden würden einfach verschwinden, oder indem wir eine Islamisierung fordern. Wir sind vielmehr auf diejenigen angewiesen, die auf der anderen Seite der Linie unsere Sache unterstützen. Die Oslo- Verträge waren nicht zuletzt darauf angelegt, Grenzen zu ziehen und die heute bestehende Apartheid zwischen Juden und Arabern festzuschreiben – genau darum müssen wir diese Grenzen überschreiten, statt sie zu verstärken.

Der letzte und vielleicht bedeutendste Aspekt betrifft den grundlegenden Unterschied zwischen intellektuellem und politischem Verhalten. Die Aufgabe der Intellektuellen besteht darin, der Wahrheit Geltung zu verschaffen – so offen, direkt und ehrlich wie nur möglich. Das impliziert, keine Rücksicht darauf zu nehmen, ob ihre Ansichten den Machthabern gefallen oder nicht, sich machtpolitischen Interessen nicht zu beugen und der Versuchung zu widerstehen, selbst Karriere zu machen. Politisches Verhalten dagegen ist immer von Interessen und dem Wunsch nach Erhaltung der Macht geleitet. Es ist offensichtlich, daß der Weg, den Israel, die Arabischen Staaten und die Palästinensische Autonomiebehörde seit den Osloer Abkommen beschreiten, ein politischer ist, und kein intellektueller.

Nehmen wir die gemeinsame Erklärung der ägyptischen „Kairoer Friedensgesellschaft“ und der israelischen „Peace Now!“-Bewegung und streichen wir daraus die hochtönenden Phrasen über den „Frieden“: Es tritt nicht nur eine deutliche Bekräftigung der Oslo-Verträge hervor, sondern wir sind wieder auf dem Niveau der Camp-David-Abkommen zwischen Anwar as-Sadat und Menachem Begin in den später siebziger Jahren angelangt, die in dieser Erklärung als kühn und richtungsweisend bezeichnet werden. Schön und gut – aber was ist mit den Palästinensern? Weder deren Anspruch auf ein Territorium noch der auf Selbstbestimmung taucht in den so kühnen Camp-David- Verträgen auf.

Was würde man davon halten, wenn sich ein paar Israelis und Palästinenser zusammentäten und schwungvolle Erklärungen zum Frieden zwischen Israel und Syrien abgäben, um ihre jeweiligen Regierungen aufzurütteln? Woher nehmen zwei Interessengruppen – eine, die die Palästinenser unterdrückt, und eine andere, die sich anmaßt, für sie zu sprechen – das Recht, Friedensziele für die Lösung eines Konflikts zu formulieren, der sie selber gar nicht direkt angeht? Ganz zu schweigen davon, daß die Vorstellung, man könne an die jetzige israelische Regierung Appelle richten und Lösungen von ihr erwarten, etwa so ist, als wolle man Graf Dracula um eine freundliche Stellungnahme zu den Vorzügen vegetarischer Ernährung bitten.

Kurz: Politische Schritte dieser Art tragen nur dazu bei, der Schimäre von Oslo noch einmal Leben einzuhauchen, und sie mindern die Chancen eines wahren Friedens jenseits des falschen amerikanisch- israelischen Friedens. Dennoch ist die Rückkehr zu einer pauschalen Boykotthaltung, wie sie sich jetzt in verschiedenen arabischen Ländern ausbreitet, intellektuell unverantwortbar. Diese Taktik (eigentlich mehr eine Vogel-Strauß-Politik) bedeutet einen Rückschritt.

Israel ist weder Südafrika noch Algerien oder Vietnam, und die Juden sind, ob es uns gefällt oder nicht, keine gewöhnlichen Kolonialisten. Sie haben den Holocaust erlitten, sie sind Opfer von Antisemitismus, das ist unbestreitbar – aber das gibt ihnen nicht das Recht, gegen ein anderes Volk eine Politik der Enteignung zu betreiben, das für ihr Unglück nicht verantwortlich ist. Seit zwanzig Jahren wiederhole ich immer wieder, daß wir den Streit militärisch nicht gewinnen können und daß sich daran auch in naher Zukunft nichts ändern wird. Aber das gilt letztendlich auch für Israel, dem es trotz seiner Übermacht nicht gelungen ist, die so dringend gewünschte Sicherheit und Anerkennung zu erlangen. Im übrigen sind nicht alle Israelis gleich, und – was immer auch geschehen mag – wir müssen eine Form des möglichst gerechten Zusammenlebens mit ihnen finden.

Bei einem dritten Weg geht es darum, Abstand zu nehmen sowohl von dem gescheiterten Oslo-Konzept wie von den rückschrittlichen Vorstellungen von Boykottmaßnahmen. Ausgangspunkt muß die Idee der Staatsbürgerschaft sein, nicht der Nationalismus, denn die Vorstellungen von strikter Trennung (Oslo) und der triumphalistischen Durchsetzung eines theokratischen Nationalismus (ob jüdisch oder muslimisch) entsprechen den Erfordernissen der Wirklichkeit nicht. Das Konzept der Staatsbürgerschaft garantiert jedem einzelnen die gleichen Bürgerrechte, die sich nicht auf Rasse oder Religion begründen, sondern auf eine konstitutionell garantierte Gleichheit vor dem Gesetz – es ist daher unvereinbar mit den überholten Vorstellungen von einem Palästina, das von seinen „Feinden“ gesäubert wäre. Ethnische Säuberungen bleiben ethnische Säuberungen, ob sie nun von Serben, Zionisten oder der Hamas durchgeführt werden.

Asmi Bischara und israelische Juden wie Ilan Pappé6 treten heute für eine Politik ein, die Juden und Palästinensern innerhalb des jüdischen Staates die gleichen Rechte sichern soll. Es gibt keinen Grund, warum dieses Prinzip nicht auch in den besetzten Gebieten Anwendung finden sollte: Auch dort leben Juden und Palästinenser Seite an Seite, nur daß eben heute das eine Volk, die Juden, das andere unterdrückt. Die Alternative heißt Apartheid oder Gerechtigkeit und Staatsbürgerschaft.

Letztendlich geht es um intellektuelle Aufrichtigkeit und die Verpflichtung, gegen jede Form von Apartheid und Rassendiskriminierung anzugehen, von wem sie auch ausgehen mag. Im politischen Denken und in den Diskussionen einer Reihe arabischer Intellektueller ist jedoch derzeit eine Zunahme von üblem Antisemitismus und scheinheiligem Purismus zu beobachten. Dabei muß eines unbedingt klargestellt werden: Wir können nicht die Ungerechtigkeiten des Zionismus bekämpfen, nur um an seine Stelle einen ebenso schlimmen Nationalismus (ob weltlicher oder religiöser Art) zu setzen, der davon ausgeht, daß die Araber in Palästina „gleicher als andere“ sind. Die moderne Geschichte der arabischen Welt ist gezeichnet von politischen Fehlschlägen, Menschenrechtsverletzungen, unglaublicher militärischer Unfähigkeit und Niedergang der Produktivität – kein anderes Volk hat in der Neuzeit einen solchen Rückgang in der wissenschaftlichen und technologischen, aber auch in der demokratischen Entwicklung erlebt. In dieses häßliche Bild gehören auch eine ganze Reihe von längst überholten und diskreditierten Vorstellungen, darunter vor allem die Idee, der Holocaust und das Leiden der Juden seien nichts weiter als eine propagandistische Lüge.

Die Behauptung, der Holocaust sei nur eine Erfindung der Zionisten, ist in unerträglicher Weise immer noch in Umlauf. Wie sollen wir von der Welt erwarten, daß sie die Leiden der Araber zur Kenntnis nimmt, wenn wir zum einen nicht fähig sind, das Leid anderer anzuerkennen, auch wenn es unsere Unterdrücker sind, und wenn wir uns zum anderen weigern, uns mit Tatsachen zu beschäftigen, nur weil sie nicht in die schlichte Vorstellungswelt mancher wackerer Intellektueller passen, die den Zusammenhang zwischen dem Holocaust und Israel nicht sehen wollen! Zu verlangen, daß der Holocaust als Tatsache anerkannt wird, bedeutet keineswegs, zu entschuldigen, was der Zionismus den Palästinensern angetan hat. Im Gegenteil: Nur wenn wir den Holocaust als das anerkennen, was er war – ein wahnsinniger Genozid am jüdischen Volk – dürfen wir uns gegenüber Juden und Israelis das Recht nehmen, auch einen Zusammenhang zwischen dem Holocaust und dem Unrecht herzustellen, das den Palästinensern von den Zionisten zugefügt wurde. Und diesen Zusammenhang herzustellen heißt auch, ihn in Frage zu stellen aufgrund seiner Doppelbödigkeit und moralischen Verwerflichkeit.

Die Bemühungen von Roger Garaudy und seinen Freunden im Lager der Holocaust-Leugner unter Berufung auf die „Meinungsfreiheit“ zu unterstützen, ist ein dummer Vorwand, der uns in der Weltöffentlichkeit nur noch weiter diskreditiert. Es ist ein Beweis für unsere völlige Unkenntnis der Weltgeschichte, ein Zeichen der Unfähigkeit, einen würdigen Kampf zu kämpfen. Sollten wir uns nicht besser für die Meinungsfreiheit in unseren Ländern einsetzen, um die es bekanntlich schlecht bestellt ist? In der arabischen Welt sind Zensur und Verfolgung von Presseorganen schließlich ein weitaus größeres Problem als in Frankreich.

Darüber sollte man sich erregen, anstatt sich dazu zu versteigen, Garaudy zu verteidigen und ihn zu einem neuen Zola zu stilisieren, wie es sogar renommierte Intellektuelle getan haben.

Nachdem ich im vergangenen November in einem Zeitungsartikel den Holocaust thematisiert hatte7 , wurde ich in einer Weise mit wüsten Beschimpfungen belegt, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Ein bekannter Intellektueller warf mir sogar vor, ich wolle mich nur bei der zionistischen Lobby beliebt machen. Selbstverständlich bin ich dafür, daß Garaudy das Recht hat, seine Ansichten zu vertreten, und ich lehne das beklagenswerte Gayssot-Gesetz ab, das ein Strafverfahren gegen ihn und seine Verurteilung möglich gemacht hat.8 Aber seine Äußerungen halte ich für ebenso banal wie unverantwortlich – und wenn wir sie unterstützen, geraten wir zwangsläufig in eine Allianz mit Jean-Marie Le Pen und dem Lager der rückwärtsgewandten, rechtsradikalen und faschistischen Kräfte in Frankreich.

Unser Kampf wird um Demokratie und gleiche Rechte geführt, sein Ziel muß ein säkulares Gemeinwesen sein, ein Staat, in dem alle die gleichen staatsbürgerlichen Rechte besitzen, und darf sich nicht aus einer fernen Vergangenheit ableiten, sei diese nun christlich, jüdisch oder muslimisch. Die Blütezeit der arabischen Zivilisation war das multikulturelle, multireligiöse und multiethnische Andalusien. Auf dieses Ideal sollten wir uns heute verpflichten statt auf einen toten Osloer Friedensprozeß und eine ungute Verleugnung geschichtlicher Tatsachen.

Unser Widerstand muß sich jetzt vor allem gegen die israelische Siedlungspolitik richten; gewaltlose Massendemonstrationen können weitere Enteignungen von Grund und Boden verhindern. Es gilt, stabile demokratische Institutionen zu schaffen, Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Universitäten zu erneuern, die sich im schlimmsten Verfallszustand befinden. Wir brauchen Pläne zur Verbesserung der Infrastruktur. Und wir müssen deutlich machen, daß dem Zionismus die Apartheid zugrunde liegt.

Viele glauben, der Stillstand der Friedensverhandlungen werde bald zu einer neuen Explosion der Gewalt führen. Selbst wenn sie recht behalten sollten, so müssen wir doch die Zukunft aufbauen – stabile demokratische Institutionen lassen sich weder durch Gewalt noch durch improvisierte Lösungen schaffen.

dt. Edgar Peinelt

* Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University. Von ihm erschien unter anderem „Frieden in Nahost? Essays über Israel und Palästina“, dt. von Michael Schiffmann, Heidelberg (Palmyra) 1997.

Fußnoten: 1 Siehe Edward W. Said, „Es gibt uns noch“, Le Monde diplomatique, Mai 1998. Alle Anmerkungen zum vorliegenden Beitrag stammen von der französischen Redaktion von Le Monde diplomatique. 2 Israel Schahak gehört zu den jüdischen Intellektuellen in Israel, die sich in besonderer Weise für die Rechte der Palästinenser einsetzen. Siehe seine Arbeit „Jewish History, Jewish Religion. The Weight of Three Thousand Years“, London (Pluto Press) 1994. 3 Asmi Bischara, Professor für Philosophie an der Bir Zeit Universität im Westjordanland und Führer der Nationalen Demokratischen Allianz, ist 1996 in die Knesset gewählt worden. 4 Al Hayat (London), 9. Juni 1998. 5 Siehe dazu Mohamed Sid-Ahmed, „Les intellectuels arabes et le dialogue“ und „Proche-Orient 1967-1997: la paix introuvable“, Manière de voir, Nr. 34, Mai 1997. 6 Unter den „neuen Historikern“ Israels vertritt Ilan Pappé eine besonders prononcierte Position. Vgl. auch Dominique Vidal, „Le Péché originel d'Israäl. L'expulsion des Palestiniens revisitée par les ,nouveaux historiens' israéliens“, Paris (Editions de l'Atelier) 1998. 7 Al Hayat, 5. November 1997. 8 Das sogenannte Gayssot-Gesetz vom 13. Juli 1990 bedeutet eine Änderung der französischen Rechtsvorschriften zur Pressefreiheit. Der neue Artikel 24a im Strafgesetzbuch sieht Freiheitsentzug bis zu einem Jahr, Geldbußen und weitere Sanktionen für jeden vor, der die Existenz eines oder mehrerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet. Angesehene Intellektuelle haben öffentlich Zweifel an einer Gesetzgebung geäußert, die eine Art „Wahrheit von Staats wegen“ etabliert (siehe Le Monde vom 4. Mai und 21. Mai 1996). Dennoch kam die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, die von dem Holocaust-Leugner Robert Faurisson angerufen worden war, im November 1996 zu dem Schluß, das Gayssot-Gesetz bedeute keine Einschränkung der Meinungsfreiheit.

Le Monde diplomatique vom 14.08.1998, von EDWARD W. SAID