Italiens bleierne Jahre
DER ehemalige Chef der linken Gruppe Potere Operaio, Antonio (Toni) Negri, sitzt derzeit im römischen Gefängnis Rebibbia ein. Nach vierzehn Jahren im Pariser Exil stellte er sich am 1. Juli 1997 den italienischen Behörden. Negri wurde wegen „bewaffneten Aufstands gegen den Staat“ zu dreißig Jahren Haft verurteilt und erhielt zusätzlich viereinhalb Jahre wegen „moralischer Verantwortung“ für die Zusammenstöße zwischen Linksaktivisten und der Polizei im Mailand der Jahre 1973-1977. Durch die Anrechnun der Untersuchungshaft und verschiedene Strafnachlässe bleiben ihm theoretisch noch vier Jahre zu verbüßen. In Erwartung einer Generalamnestie, deren Verabschiedung die italienischen Abgeordneten bislang verweigern, wurde ihm Ende Juli erlaubt, außerhalb des Gefängnisses zu arbeiten. Im Folgenden erinnert er sich an die politischen Erfahrungen im Italien der siebziger Jahre.
Von TONI NEGRI *
Von den siebziger Jahren Italiens im geschichtlichen Rückblick zu sprechen, heißt, von der Gegenwart zu sprechen. Nicht nur, weil die Folgen der repressiven Politik von damals bis heute andauern – die Sondergesetze sind nach wie vor in Kraft, mindestens zweihundert Menschen sitzen noch immer im Gefängnis, und ebenso viele leben im Exil.1 Und nicht nur, weil der Zerfall des politischen Systems der Nachkriegszeit, das mit dem Fall der Mauer endgültig zusammengebrochen ist, damals ein unerträgliches Ausmaß erreicht hatte. Sondern auch und vor allem, weil das soziale (und psychologische) Trauma jenes Jahrzehnts weder verdrängt noch verarbeitet ist.
Die siebziger Jahre sind noch immer gegenwärtig, weil sie Italien mit der Frage der demokratischen Teilhabe an der Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse konfrontierten. Dieser Punkt, der alle Probleme der hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften in sich vereint, ist bis heute ungelöst. Im Italien der siebziger Jahre hat das Auftauchen dieses zentralen Problems zu einer Tragödie geführt.
Alle politischen Kräfte, die an diesem Drama beteiligt waren, wurden besiegt. Zwei Autoren vor allem haben von dieser großen Tragödie Zeugnis abgelegt: Der eine, Leonardo Sciascia2 , erstellte eine Chronik der laufenden Ereignisse, in der er den labyrinthischen Charakter der Krise unterstrich. Die andere, Rossana Rossanda3 , berichtete unermüdlich, mit welch verzweifelter Ohnmacht die Protagonisten nach einem Ausweg suchten.
Genaugenommen beginnen in Italien die siebziger Jahre 1967/68 und enden 1983. Wie in allen Industriestaaten stiegen 1967/68 auch in Italien die Studenten auf die Barrikaden. Doch waren Ausmaß und Wirkung geringer als in anderen europäischen Ländern – die eigentliche Studentenrevolte in Italien fiel schwach aus.
Allgemeiner betrachtet stellt sich diese Revolte allerdings anders dar: Sie schlug eine Bresche ins politische System, durch die nach und nach der soziale Protest gegen ein System durchbrach, das die Modernisierung des Kapitalismus verabsäumt hatte und das vom antifaschistischen Kampf und der Resistenza herrührende demokratische Potential unterdrückte.
So lösten auf der politischen Bühne andere gesellschaftliche Akteure die Studenten ab. 1969 etwa war das Jahr der Arbeiter: mit den neuen Fabrikräten (consigli di fabbrica), mit der Angleichung der Löhne und mit Störungen der kapitalistischen Arbeitsmarktpolitik. Das statuto dei lavoratori (Arbeiterstatut) stellte den Höhepunkt dieser Phase des Kampfes dar. Unmittelbar darauf folgten das Scheidungsrecht, die Neuregelung der regionalen Machtstrukturen, die Wehrdienstverweigerung. Hinzu kamen zahlreiche Gesetzesneuregelungen, die die alte Nachkriegsgesellschaft „auftauten“. All dies waren institutionelle Antworten auf eine Reihe politischer Kämpfe, an deren Anfang der Mai 68 stand.
Bis 1973/74 war das Verhältnis zwischen den sozialen Bewegungen und „der Linken“ trotz einiger Zwischenfälle im wesentlichen dialektischer Natur. Nach der Ölkrise 1973 und den ersten kapitalistischen Gegenoffensiven änderten sich die Rahmenbedingungen. Die italienische Linke brach das Gespräch mit den neuen gesellschaftlichen Kräften ab, und ihre wichtigste Gruppe, die Kommunistische Partei (PCI), schlug ihrem traditionellen Gegner, der Democrazia Cristiana (DC), einen „historischen Kompromiß“ (compromesso storico) vor.
Nun war das politische System aber – aus Gründen, die mit der Position Italiens im Szenario des Kalten Krieges zusammenhängen4 – durch ein „unvollständiges Zweiparteiensystem“ geprägt. Das heißt, es gab im parlamentarischen Leben eine Übereinkunft, die PCI von der Macht auszuschließen. Unabhängig von ihren Wahlergebnissen wurde die Partei unter Enrico Berlinguer5 von der Regierungsmacht ferngehalten, welche allein in den Händen der Democrazia Cristiana, dem Bollwerk des Westens gegen den Kommunismus, zu verbleiben hatte. Ungeachtet dieses institutionellen Korsetts hatten PCI und DC ein System des Machtausgleichs gefunden, mit dem sie soziale Konflikte zu entschärfen hofften, wenn diese auszuufern drohten. So gab es neben dem „unvollständigen Zweiparteiensystem“ (bipartitismo imperfetto) auch das „unvollständige Bündnis“ (coassociativismo imperfetto).
Anfang der siebziger Jahre gewann die PCI dank der sich ausbreitenden sozialen Bewegungen immer mehr Wählerstimmen, was sie veranlaßte, sich stärker auf seiten der Regierungsmehrheit zu engagieren. Fortan präsentierte sie sich nicht mehr als reine „Partei des Kampfes“, sondern als „Partei des Kampfes und der Regierung“. Ab 1973/74 herrschte im italienischen Parlament de facto vollkommene Einstimmigkeit. 1978 unterstützte die PCI die neue Regierung sogar und gab damit ihre letzten Kontrollfunktionen auf, die ihr, als Vertreter der Opposition, im „unvollständigen Zweiparteiensystem“ zugekommen waren: Am Ende war das „Bündnis“ ein „vollständiges“ geworden.
In den Jahren 1974 bis 1978 wurde das Bündnis zwischen DC und PCI immer enger. Von Regierung und Parlament griff es auf das gesamte Machtgefüge über, von der Zentralverwaltung bis in die Peripherie, auf die Gewerkschaften, die Verwaltung der öffentlichen Verkehrsmittel und, dulcis in fundo, auf die Polizei. Zugleich verschärften sich die Auseinandersetzungen, und die sozialen Bewegungen brachen endgültig mit den staatlichen Institutionen.
Die Tragweite und enorme Kraft der damaligen Kämpfe sollte nicht unterschätzt werden. Denn die sozialen Bewegungen übten seit 1968 nicht nur eine „Gegenmacht“ aus, sie erhielten zusätzlichen Auftrieb durch die Folgen einer Politik der Geldentwertung und der industriellen Umstrukturierung, mit der ein erster – aber entscheidender – Schritt getan wurde, um die italienischen Produktionsverhältnisse aus dem „Fordismus“ herauszuführen. Nun lag aber dem „historischen Kompromiß“ gerade diese „Sparpolitik“ zugrunde, gegen die sich die Gesellschaft mobilisierte.
Als dann die Repression – die der Unternehmer in den Fabriken, und in der Gesellschaft die Gewalt der Polizei (die durch neue Gesetze mehr Handlungsspielraum erhalten hatte) – den demokratischen Rahmen verließ, begann auch der Widerstand, gewalttätig zu werden. Die Roten Brigaden6 rekrutierten sich in erster Linie aus den Arbeitern der großen, rücksichtslos umstrukturierten Fabriken im Norden; und in ebendiesen Fabriken oder in ihrem Umkreis kamen auch die Aktionen der sogenannten „proletarischen Justiz“ auf, die mal von den Massen, mal verdeckt durchgeführt wurden.
Zu diesen sozialen und politischen Verflechtungen, die bereits von unablässigen Arbeitskämpfen und gewalttätigen Auseinandersetzungen in den Städten geprägt waren, kam nun noch eine Variable hinzu, die unabhängig und zugleich überdeterminiert war: die direkte – und wie soll man es anders nennen als „terroristische“? – Provokation von seiten der Staatsorgane, die vor, während und nach dem „historischen Kompromiß“ mit der „Atlantischen Verteidigung“ betraut waren.
Nach dem blutigen Attentat in Mailand 1969 hatten diese staatlichen Apparate von Jahr zu Jahr ihre Aktionen verstärkt. Sie ließen Bomben auf Demonstrationen und Kundgebungen, in Bahnhöfen und Zügen explodieren; den Höhepunkt sollte das grauenvolle Attentat in Bologna 1980 darstellen.7 (Keiner der Verantwortlichen oder der Hintermänner dieser mörderischen Gewalttaten sitzt derzeit in Haft.) Diese kriminellen Aktionen gossen selbstverständlich Öl ins Feuer eines Widerstands, der sich artikulieren wollte und die Mittel dafür besaß.
1977 erlebte die soziale Bewegung einen plötzlichen und sehr heftigen Auftrieb, der in Bologna, dem Vorzeigestück kommunistischer Kommunalpolitik, seinen Ausgang nahm. Bei einer Demonstration wurde – erneut – ein Aktivist von der Polizei getötet. Ein Aufstand brach los. Der PCI-Bürgermeister und die Regierung des „historischen Kompromisses“ ließen die Barrikaden durch Panzer räumen. Zur selben Zeit jagten Studenten den Generalsekretär der kommunistischen Gewerkschaft aus der römischen Universität, nachdem es zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen war. Der studentische Massenprotest griff rasch auf das städtische Proletariat über.
In Mailand, Turin, Neapel und Padua zogen riesige Demonstrationszüge durch die Straßen, in denen immer häufiger bewaffnete extremistische Gruppierungen auftraten, die sich als der sozialen Bewegung zugehörig erklärten. Der Groll über den Verrat der traditionellen Linken ließ den Widerstand der Arbeiter und der städtischen proletarischen Bewegungen gegen die Umstrukturierungen unaufhörlich wachsen. Die Folge war ein unerklärter Bürgerkrieg, den keiner der Beteiligten mehr kontrollieren konnte. Diese Tragödie sollte mit einer Niederlage enden. Und zwar für alle.
Die ersten Verlierer waren die sozialen Bewegungen. Von den Vertretern der traditionellen Linken vollständig abgeschnitten und andererseits nicht imstande, der hervorkommenden Gegenmacht eine adäquate politische Form zu geben und sie zu kontrollieren, trieben sie immer weiter in den Abgrund eines blinden, gewalttätigen Extremismus. Die Entführung und Ermordung von Aldo Moro8 sollte den Gipfelpunkt einer Bewegung darstellen, die die militärische Aktion zum Hauptziel erklärt und die Fähigkeit eingebüßt hatte, die politischen Folgen ihrer Aktionen abzuschätzen. In dieser Zwickmühle wurde die politische Bewegung, die die Bedürfnisse von Hunderttausenden politisch aktiver und engagierter Menschen strukturiert hatte, bald durch eine massive und mächtige Repression vernichtet.
Auch die politischen Kräfte des „historischen Kompromisses“ bemühten sich, aus der gesellschaftlichen Isolation herauszugelangen, in die sie hineingeraten waren – allerdings mittels einer reinen Politik der Repression. Zwar sollten sie den Sieg davontragen, freilich einen Pyrrhussieg. Sondereinheiten der Polizei, Sondergefängnisse, Sondergerichte und besondere Aktivitäten der Regierung: Der „Notstand“ sollte die konstitutionelle Struktur eines politischen Systems, das bereits vom „unvollständigen Zweiparteiensystem“ ausgehöhlt war, noch weiter verformen.
Mit verheerenden Folgen – und zwar in erster Linie für die Kommunistische Partei, die fortan der Rechten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, da ihre Wählerstimmen ständig zurückgingen und es ihr nicht gelang, den geringsten Kontakt zu den – ohnehin marginalisierten – sozialen Bewegungen wiederaufzubauen. Die PCI wurde zu etwas, was sie nie zuvor in ihrer glorreichen und einzigartigen Geschichte gewesen war: zu einer bürokratischen Gruppe, die sich abseits der Gesellschaft im Innern des Machtapparates verschanzte. Was die Democrazia Cristiana betrifft, so verlor sie im Laufe dieser Ereignisse ihre konstitutionelle Schlüsselfunktion: Sie beschränkte sich darauf, ihre lokale Macht zu verwalten, und vermochte es nicht, ein Instrumentarium zu entwickeln, das es ihr erlaubt hätte, das soziale und industrielle Gefüge zu verstehen, aus dem die Krise erwachsen war. Der Regierung des Sozialisten Bettino Craxi, die 1983 antrat, fiel dann die Aufgabe zu, die Isolation der politischen Klasse in eine gigantische Maschinerie der Korruption und des Zerfalls von Staat und Gesellschaft umzuwandeln. Damit waren die siebziger Jahre zu Ende.
Wäre in der damaligen politischen Situation und innerhalb des damaligen politischen Systems ein anderes Ergebnis möglich gewesen? Ja – unter einer Bedingung: Es hätte zu diesem Zeitpunkt eine Form der politischen Repräsentation geben müssen, die in der Lage gewesen wäre, die Folgen der tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen aufzufangen, die die sozialen Bewegungen durchsetzten. Dies war jedoch seinerzeit nicht der Fall, und später stellte sich die Frage nicht mehr.
Nach dem Fall der Mauer und der radikalen Veränderung des politischen und parlamentarischen Rahmens haben sich in Italien die wenigen Bestrebungen einer politischen Erneuerung auf die Spitze des Staates (also das präsidiale System) konzentriert – ohne freilich je in die Praxis umgesetzt zu werden, was sich gerade wieder am Scheitern des Entwurfs für eine Verfassungsreform zeigt, den die Zweikammernkommission ausgearbeitet hat.9 Alle Reformbestrebungen zielten auf die Bereitstellung immer effektiverer und zunehmend zentralisierter Instrumente der Prävention, der Schlichtung und der Repression. Es wurde nicht ein Vorschlag gemacht, der neue Formen der politischen Interessenvertretung oder neue Ausdrucksmöglichkeiten für eine substantielle Demokratie zum Ziel gehabt hätte. Und was die Regierungstätigkeit in der heutigen Zweiten Republik betrifft, so beschränkt sie sich im wesentlichen darauf, jedweden Konflikt zu neutralisieren und darüber zu wachen, daß das System mit dem „Weltmarkt“ vereinbar ist.
Die Niederlage der Bewegungen der siebziger Jahre – ob eine politische wie in anderen europäischen Ländern oder eine militärische wie in Italien – hat nicht den kleinsten Hoffnungsschimmer einer Erneuerung der Demokratie hinterlassen. Die, die aktiv an diesen Bewegungen beteiligt waren, können zwar ihre taktische Naivität betrauern und angesichts ihrer strategischen Illusionen in Verzweiflung verfallen. Doch können sie immer noch sagen: Das Problem, dessen Sprachrohr wir waren, besteht nach wie vor. Das Italien von heute hat es nötiger denn je, jene demokratischen Tugenden wiederzuentdecken, die damals erprobt wurden.
dt. Eveline Passet
Sämtliche Fußnoten dieses Artikels wie auch die Überschrift stammen von der Redaktion.
* Von Toni Negri auf deutsch erschienen ist u. a., zus. Maurizio Lazzerato u. Paulo Virno: “Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion“, mit einem Vorwort von Y. M. Boutang, hg. v. Th. Atzert, 1998; sowie, zus. mit Michael Hardt: „Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne“, 1997, dt. von Thomas Atzert und Sabine Grimm, beide ID-Verlag, Berlin.