Lehren aus dem Genozid
FÜNFZIG Jahre sind seit der Shoah vergangen, doch entzünden sich an ihr Streit und Debatte lebhafter denn je. Gestritten wird wegen der verleumderischen Behauptungen von Roger Garaudy (siehe auch den Artikel von Edward Said auf Seite 3), mit denen er den Völkermord an den Juden leugnet. Debattiert wird unter Historikern über Geschichte und Wesen des Genozids. Hierher gehört auch die Auseinandersetzung um den amerikanischen Historiker David Jonah Goldhagen, die aufs neue entflammt ist, seitdem der Auor des Bestsellers „Hitlers willige Vollstrecker“ den Versuch unternommen hat, die schärfsten Kritiker seiner Thesen zum Schweigen zu bringen. Jenseits solcher Einzelgefechte geht es jedoch um ein tieferes Verständnis des Genozids an den Juden an sich, seiner historischen Besonderheiten sowie seiner universellen Tragweite.
■ Von DOMINIQUE VIDAL
„Ab einem bestimmten Punkt grenzte das Ganze an Kulturterrorismus“1 , so beschreibt der israelische Journalist Tom Segev den massiven Druck, dem sich Ruth Bettina Birn und Norman Finkelstein seit Anfang dieses Jahres ausgesetzt sehen. Die Schuld, die sie auf sich geladen hatten: Sie hatten ein Buch publiziert, „A Nation on Trial“2 , das immerhin von Raul Hilberg, Ian Kershaw, Arno Mayer, Christopher R. Browning3 und anderen ausgewiesenen Historikern des Nationalsozialismus aufs lebhafteste empfohlen wird. Ein Buch freilich auch, das außerordentlich heftige Kritik an David J. Goldhagens berühmtem Werk „Hitlers willige Vollstrecker“4 übt.
Goldhagens Buch verkaufte sich, auch dank des großen Echos in den Medien, innerhalb von zwei Jahren in gut fünfzehn Ländern mit mehr als fünfhunderttausend Exemplaren. Seine eindimensionale Erklärung des Genozids – das Naziregime habe den Boden dafür bereitet, daß sich der „eliminatorische Antisemitismus“ des „gewöhnlichen Deutschen“ entfesseln konnte – vermochte zwar breite Leserschichten zu erreichen, die Fachwelt hat sie indes kaum überzeugen können. „Nicht ein einziger Historiker hat dem öffentlich zugestimmt. Ein solcher Konsens ist selten. An meiner Universität wäre dieses Buch als Doktorarbeit nicht angenommen worden“5 , lautet das Urteil von Yehuda Bauer, Direktor des Forschungsinstituts von Yad Vashem in Jerusalem und einer der bedeutendsten israelischen Fachleute auf diesem Gebiet.
Was allerdings für den jungen Harvard-Professor Goldhagen das Faß zum Überlaufen brachte, war ein polemischer Artikel, der im März 1997 im Cambridger Historical Journal erschien. Er stammt von Ruth Bettina Birn, Chefhistorikerin der Abteilung für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim kanadischen Justizministerium. Aufgrund ihrer Funktion kennt sie die Archive der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg sehr genau, an der Vorermittlungen über Naziverbrechen geführt werden. Sie war es, die David J. Goldhagen auf jene drei Punkte aufmerksam gemacht hat, auf die er seine These gründet: das Verhalten von Angehörigen der Polizeibataillone bei den Massenerschießungen im Osten, das Verhalten des Wachpersonals in den sogenannten Arbeitslagern sowie das der Bewacher während der Todesmärsche. In allen drei Punkten, so die kanadische Historikerin, habe Goldhagen sich einer begrenzten Anzahl von Zeugenaussagen bedient, um zu extrapolieren und dann – unter Ausmalung der Schreckensszenen – aus diesen Akteuren des Genozids ein Stereotyp zu konstruieren, dem die erdrückende Mehrzahl der Deutschen angeblich entsprochen hat.
Als Reaktion auf so viel Respektlosigkeit drohte Goldhagen Ruth B. Birn mit einer Verleumdungsklage, was diese so empörte, daß sie umgehend eine Neuveröffentlichung ihres umgearbeiteten Artikels ankündigte, zusammen mit einer wohlbegründeten Streitschrift von Norman Finkelstein, einem Professor der Politikwissenschaften und Sohn von Überlebenden des Genozids, der sich seit langem für die Sache der Palästinenser einsetzt6 . Angesichts dieses – wie Goldhagen es nennt – „antizionistischen Kreuzzugs“ mobilisierte sich die proisraelische Lobby. Abraham Fox, der Sprecher der kanadischen Anti-Defamation League, erklärte: „Es geht nicht darum, ob die Goldhagen- These richtig ist oder nicht, sondern um die Frage, ob die Kritik an ihr ,legitim' ist oder ob sie zu weit geht.“7 Und der kanadische Jewish Congress reichte – allerdings vergeblich – eine Beschwerde beim Justizministerium ein in der Hoffnung, es werde zu Sanktionen gegen Ruth Bettina Birn kommen.
„Das jüdische Establishment“, faßt Tom Segev die Vorgänge zusammen, „hat Goldhagen begrüßt, als ob er Mister Holocaust persönlich wäre. (...) Das Ganze ist absurd, denn die Kritik, die an Goldhagen geübt wird, ist bestens belegt.“ Der Grund der Auseinandersetzung, so der israelische Journalist weiter, sei der „zionistische Charakter“ der Goldhagen-These. Sie laufe letztendlich darauf hinaus, daß „nicht nur die Deutschen, sondern alle Heiden die Juden hassen. Daher rührt die Notwendigkeit nach Geschlossenheit und Solidarität unter den Juden. Daher auch die Notwendigkeit, mehr und mehr Bücher über den Judenhaß herauszubringen, und je einfacher und oberflächlicher sie sind, desto besser.“
Verkürzte Sicht der Geschichte
AUCH wenn Daniel Goldhagen völlig zu Recht die in Deutschland weit verbreiteten antisemitischen Gefühle als wesentlichen Wegbereiter für den Genozid hervorhebt, so irrt er gleichwohl, wenn er das eine mechanisch auf das andere zurückführt.
Darüber hinaus erscheint seine Analyse des deutschen Antisemitismus überaus schematisch. Die Jahrhundertwende war in Deutschland das Goldene Zeitalter der jüdischen Emanzipation, während sie in Frankreich – wo sie ihren Ausgangspunkt genommen hatte – mit der Dreyfus- Affäre einen schweren Rückschlag erlitt und in Rußland die Minister des Zaren zu furchtbaren Pogromen aufriefen. Und die baltischen Staaten oder die Ukraine? Nur flüchtig erwähnt Goldhagen, daß die Nazis dort eifrige Schergen des Genozids rekrutierten.
Natürlich gab auch in Deutschland die Assimilation der Juden einer radikalen nationalistischen Opposition Auftrieb, doch war sie – anders als die Arbeiterbewegung, welche die jüdische Emanzipation verteidigte – bei Wahlen wenig erfolgreich. „Insbesondere Deutschlands intellektuelle Elite“, merkt sogar Raul Hilberg an, „hatte sich stets ablehnend gegenüber ,Propaganda' und ,Belästigungen' gezeigt. (...) Mitunter hatte sogar das Wort ,Antisemit' einen negativen Beiklang.“ Ebenso verzerrt ist Goldhagens Sicht der frühen dreißiger Jahre: Er hebt hervor, daß 1932 gut 37 Prozent der Wähler für die Nationalsozialisten stimmten, vergißt freilich zu erwähnen, daß 63 Prozent sich gegen sie entschieden. Und es sollte auch nicht unerwähnt bleiben, daß am 5. März 1933 – während die Repression, die auf den Reichstagsbrand folgte, voll im Gange war – die Linke aus Kommunisten und Sozialdemokraten, die selbstredend den Antisemitismus ablehnte, noch fast ein Drittel der Stimmen erhielt.
Goldhagen überschätzt offenbar auch die antisemitische Komponente bei der Stimmabgabe für die Nazis. Die Mehrzahl seiner Historikerkollegen verweist darauf, daß Hitler seinen Judenhaß von Mal zu Mal mehr abschwächt, da er ihm wahltaktisch weniger gewinnbringend erscheint als der Antikommunismus. Saul Friedländer bemerkt dazu: „Obwohl der hergebrachte religiöse und soziale Antisemitismus verbreitet war, stellt der Judenhaß nicht einen vorrangigen Faktor dar, mit dem sich der Wahlsieg der Nazis oder die Beteiligung der gewöhnlichen Deutschen an den Massenmorden und an der Endlösung erklären ließen.“8 Im übrigen: Wäre das ganze Land so versessen darauf gewesen, die Juden auszurotten, hätte es keinen Grund gegeben, den Genozid außerhalb Deutschlands und unter strengster Geheimhaltung zu verüben. Und welches Wunder mag wohl dahinterstecken, daß diese althergebrachte antijüdische Tradition im Nachkriegs-Deutschland urplötzlich verschwunden war, wie Goldhagen beteuert?
Den Antisemitismus als einzigen Faktor für die Entstehung des Genozids zu betonen beinhaltet einen zweiten schweren Irrtum. Zwar sollte Adolf Eichmann 1962 in Jerusalem nicht wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zum Tode verurteilt werden, sondern wegen „Verbrechen gegen das jüdische Volk“.9 Jedoch wurden auch 250000 Sinti und Roma (von 700000) Opfer eines Genozids derselben Art. Weiterhin kamen drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene ums Leben: verhungert, erschossen, in manchen Fällen auch vergast. In Polen wurden Hunderttausende Angehörige der herrschenden Klasse und der Intelligenzija Opfer des Naziterrors. Nicht zu vergessen die Geisteskranken: Ehe am 24. August 1941 auf Protest von Kirchenvertretern das Euthanasie-Programm ausgesetzt wurde, das die Reichskanzlei im Oktober 1939 angeordnet hatte, wurden 360000 Kranke ermordet, 70000 von ihnen in Vergasungslastwagen. Die „Erfinder“ dieser Tötungsmaschinen sollten später an der Ostfront ihre Arbeit fortsetzen, bis schließlich die Gaskammern in den Vernichtungslagern eingerichtet wurden.
Die Tatsache, daß so viele unterschiedliche Zielgruppen zu Opfern der nazistischen Mordwut10 wurden, legt den Gedanken nahe, daß der genozidäre Antisemitismus der Nazis Bestandteil eines umfassenden Eroberungsplans war, mit dem das Dritte Reich „Lebensraum“ gewinnen und den Osten Europas kolonisieren und arisieren wollte. Dies ist auch der Grund für die beständigen Angriffe auf den „jüdischen Bolschewismus“, der angeblich in Rußland an der Macht war. Der Mehrzahl jener Historiker, die die antisemitischen Hetzreden Hitlers untersucht haben, ist diese kontinuierliche Verknüpfung des Hasses auf Juden und auf Kommunisten ins Auge gesprungen – nur Goldhagen nicht.
Der Kreuzzug gegen den Bolschewismus
WER den Antisemitismus der Deutschen isoliert betrachtet, verliert außerdem jene spezifische Verknüpfung von Gründen aus dem Blickfeld, die das nazistische Unterfangen so erfolgreich werden ließ. Goldhagen streift nur kurz – dies hat er im nachhinein selbst eingeräumt – den Ersten Weltkrieg mit seinen blutigen Schlachten und die nationale Erniedrigung, die der Vertrag von Versailles für die Deutschen bedeutete. Ebenso rasch geht er über die Folgen der Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre hinweg, über die Schwäche der jungen Weimarer Republik, über das Fehlen einer politischen Alternative, nachdem die Linke in selbstzerfleischende Richtungskämpfe der Linksparteien verfallen war. Auch die Tatsache, daß Hitler als das einzige Bollwerk gegen den Bolschewismus erschien und sich deshalb um ihn eine Klassenallianz scharte, an deren Spitze die Unternehmer standen, scheint Goldhagen kaum der Aufmerksamkeit wert, während beispielsweise Ian Kershaw schreibt: „Die Riesengewinne der größeren Konzerne waren kein zufälliges Nebenprodukt des Nationalsozialismus (...).“
Und wie kann man jenen gigantischen bürokratischen und totalitären Apparat außer acht lassen, den Hitlers Mitstreiter aufbauten, sobald dieser Reichskanzler war, und dessen sie sich für die allgegenwärtige Propaganda ebenso bedienten wie zur erbarmungslosen Verfolgung der Opposition? Es sollte nicht vergessen werden, daß von 1933 bis 1939 150000 Sozialdemokraten und Kommunisten in Konzentrationslager verschleppt wurden.11 Und wie kann man die Folgen des Krieges – vom nationalistischen Taumel der ersten Siege bis zur Demütigung durch die Niederlagen und alliierten Luftangriffe – derart unterschätzen?
Nur wenige Historiker vertreten heute noch die Ansicht, daß von Hitlers „Mein Kampf“ ein direkter Weg nach Auschwitz führt. Freilich, kaum an der Macht, begannen die Nazis mit der Verfolgung der Juden. Vom ersten – im übrigen fehlgeschlagenen – Boykott am 1. April 1933 über die Nürnberger Gesetze 1935, die „Arisierung“ der Unternehmen im Jahre 1937, die „Reichskristallnacht“ 1938 bis zu den letzten Berufsverboten 1939 nahm der Ausschluß der Juden aus der deutschen Gesellschaft immer größere Ausmaße an. Doch bis zum Krieg ging es nachweislich um die Vertreibung der Juden, wohin auch immer – auch nach Palästina: Zu diesem Zweck wurde bereits im August 1933 ein Abkommen mit der Jewish Agency unterzeichnet.12
Am 30. Januar 1939 verkündete Hitler vor dem Reichstag, ein Weltkrieg werde zur „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ führen. Sieben Monate später begann die Invasion Polens, und die Zahl der Juden unter nazistischer Herrschaft verzehnfachte sich. Es begann die Konzentration der Juden, zunächst in Ghettos und dann in Lagern, wohin bald auch Opfer aus anderen Ländern verschleppt wurden. Gleichwohl betrieb, auf Verlangen Hitlers und unter Eichmanns Führung, die Zentrale Auswanderungsbehörde weiterhin ein Projekt, das die Zwangsumsiedlung von vier Millionen Juden nach Madagaskar vorsah. Es kam jedoch zu keiner Einigung mit London, und so gab man das Madagaskar-Projekt auf; statt dessen plante man, nach Auffassung einiger Historiker, die Massen jenseits des Urals zu deportieren. Freilich wollte die UdSSR erst erobert sein.
Die „Operation Barbarossa“, also der Überfall auf die Sowjetunion, am 22. Juni 1941 markiert den großen Wendepunkt. Die von Arno Mayer zitierte Weisung zum „Verhalten der Truppe im Ostraum“ forderte die deutschen Soldaten zu „rücksichtslosem und energischem Durchgreifen bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit auf, und zwar insbesondere gegenüber bolschewistischen Hetzern“; aktiver und passiver Widerstand müsse sofort mit der Waffe (Bajonett, Kolben und Schußwaffe) restlos gebrochen werden. So durch die offizielle Linie gedeckt, sollten die Wehrmacht, aber vor allem auch die 3000 Mörder der Einsatzgruppen – und ihre Komplizen vor Ort – immer grausamere Massaker an der Zivilbevölkerung begehen. Die Radikalisierung dieser Massaker und ihre Ausweitung auf alle Juden Europas stehen – so sehen es heute die meisten Historiker – am Beginn des eigentlichen Genozids.13 Was umstritten bleibt, ist das genaue Datum der Entscheidung: Gab es einen schriftlichen Befehl oder nur, wie Christopher Browning meint, ein einfaches zustimmendes Kopfnicken des „Führers“? Ein Teil der Historiker vertritt die Auffassung, die Entscheidung falle noch in den Zeitraum der Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion, während die anderen meinen, sie sei in der Euphorie der ersten Siege im Sommer 1941 getroffen worden. Dritte wiederum datieren sie auf den Herbst, als die Kriegserfolge spärlicher wurden.
„Die Zeit der Pogrome war nun vorbei“, schreibt Arno Mayer. „Die Entscheidung der Nationalsozialisten, die Juden zu den Geiseln und Sündenböcken für ihren Kampf um Sein oder Nichtsein und zu den auserkorenen Märtyrern ihres fanatischen Kreuzzugs gegen den Bolschewismus zu machen, war durch das, was sich zugetragen hatte, unwiderruflich geworden.“ Mitte März 1942 lebten noch 75 bis 80 Prozent der Opfer der Shoah; ein Jahr später hatte sich das Verhältnis umgekehrt.
Insgesamt wurden in Rußland zwei Millionen Juden ermordet. Weitere drei Millionen kamen, aus ganz Europa deportiert, in den Lagern ums Leben und rund 800000 in den Ghettos. Der Beschluß, alle notwendigen Maßnahmen zur Vernichtung der Juden in Europa zu ergreifen, wurde am 20. Januar 1942 auf der Wannsee-Konferenz (also nach dem Scheitern der letzten Offensive auf Moskau) gefaßt. Neben den Konzentrationslagern, wo Hunger, Krankheit und Zwangsarbeit die Mehrzahl der Gefangenen zum Tode verurteilten, wurden – und Goldhagen erwähnt dies nicht – Vernichtungslager errichtet: Auschwitz-Birkenau und Majdanek erfüllten beide Funktionen, hingegen waren Chelmno, Belzec, Sobibor und Treblinka reine Todesfabriken, wo, um Pierre Vidal-Naquet zu paraphrasieren, anonyme Henker mit der Vergasung ebenso anonymer Opfer beschäftigt sind.
Eine Pathologie des modernen Staates
HIERIN liegt die Besonderheit dieses Verbrechens. „Nie zuvor hatte ein Staat unter Weisung seines obersten Verantwortlichen beschlossen und angekündigt, daß eine bestimmte Gruppe Menschen vernichtet werden solle, wenn möglich vollständig“ so Eberhard Jäckel14 . Wenn auch zum Paradigma für alle Völkermorde geworden, schreibt sich dieser Genozid gleichwohl ein in eine lange Kette der Barbarei, von den Massakern an den Indianern in Amerika bis zu den jüngsten an den Tutsi in Ruanda. Zu Recht bemerkt Ian Kershaw: „Wenn wir aus dem Holocaust ,lernen' sollen, dann müssen wir wohl (...) akzeptieren, daß Ähnliches in Zukunft anderen Völkern als dem deutschen und dem jüdischen widerfahren könnte. Bei einer weitergefaßten Sicht des Problems wird so aus dem Versuch, den Holocaust vor dem Hintergrund der jüdischen Geschichte oder auch der deutsch- jüdischen Beziehungen zu ,erklären', eine Pathologie des modernen Staates und ein Versuch, die ,Zivilisation' an sich zu verstehen.“
Vier Jahre vor Daniel Goldhagen hat Christopher Browning ein Buch über das Reserve-Polizeibataillon 101 veröffentlicht. Die Mitglieder dieser Polizeieinheit waren verantwortlich für die Ermordung – durch Kopfschuß – von 38000 Juden aus dem Distrikt Lublin und für die Deportation von 45000 weiteren nach Treblinka. Er kommt zu einem völlig anderen Schluß als sein amerikanischer Universitätskollege: „Wenn die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 unter solchen Umständen zu Mördern werden konnten, für welche Gruppe von Menschen ließe sich dann noch Ähnliches ausschließen?“
Auf kraftvolle und schöne Weise hat der französische Philosoph Paul Ricur das Wesentliche gesagt: daß nämlich vor unserem Gedächtnis die Opfer von Auschwitz stellvertretend für alle Opfer der Geschichte stehen.15
dt. Eveline Passet