Freiheit heißt denkend handeln
STILLSCHWEIGEND hat sich in unseren Gesellschaften eine gewaltige Regression breitgemacht: Unser Nichtdenken hat eine Nichtgesellschaft hervorgebracht. Der im letzten Jahr verstorbene Philosoph, Soziologe und Historiker Cornelius Castoriadis war ein wichtiger Dissident, der sich sowohl dem Ästhetizismus und Zynismus als auch der aus Übersättigung geborenen Apathie verschloß. 1996 erschien in Frankreich sein Buch „La Montée de l'insignifiance“ (“Der Aufstieg der Beliebigkeit“). In diesem Zusammenhan veröffentlichte France Inter im November 1996 im Rahmen der Reihe „Là-bas, si j'y suis“ ein Interview, das wir hier in Auszügen nachdrucken.
Von CORNELIUS CASTORIADIS *
Die heutige Welt ist bekanntlich von Krisen, Gegensätzen, Auseinandersetzungen und Brüchen gekennzeichnet, doch am meisten frappiert mich die Beliebigkeit. Betrachten wir den Streit zwischen Rechten und Linken. Er hat seinen Sinn verloren, denn beide sagen dasselbe. Ab 1983 verfolgten die (damals regierenden) Sozialisten eine bestimmte Politik; später setzte Balladur dieselbe Politik fort. Dann kamen die Sozialisten wieder an die Regierung und machten unter Bérégovoy dieselbe Politik. Dann kehrte Balladur ins Amt zurück und machte wieder dieselbe Politik, Chirac gewann die Wahlen von 1995 mit der Erklärung: „Ich werde es anders machen!“ – und machte wieder dieselbe Politik.
Die verantwortlichen Politiker sind machtlos. Das einzige, was sie tun können, ist mit dem Strom zu schwimmen, das heißt die ultraliberale Politik umzusetzen, wie sie gerade Mode ist. Die Sozialisten haben auch nichts anderes getan, als sie an die Macht zurückkehrten. Sie sind keine Politiker, sondern Polit-Macher, Mikrofon-Politiker. Jedes Mittel ist ihnen recht, um die Umfrageergebnisse in die Höhe zu treiben. Sie haben kein Programm. Sie haben nur das Ziel, an der Macht zu bleiben beziehungsweise dorthin zu gelangen. Und für dieses Ziel sind sie zu allem fähig.
Es existiert eine enge Beziehung zwischen dieser Art Gehaltlosigkeit, ja Perspektivlosigkeit in der Politik und der Beliebigkeit in den anderen Bereichen wie Kunst, Philosophie oder Literatur. So ist der Zeitgeist. Alles tut sich zusammen, um die Beliebigkeit auszuweiten.
Die Politik ist ein merkwürdiges Geschäft, denn sie setzt zwei Fähigkeiten voraus, die nicht gerade eng verbunden sind. Die erste ist die Fähigkeit, an die Macht zu gelangen. Schafft man das nicht, nützen einem auch die besten Ideen der Welt nichts; es bedarf also einer Kunst der Machterlangung. Die zweite ist die Fähigkeit, wenn man erst die Macht erlangt hat, auch regieren zu können.
Es ist keineswegs garantiert, daß jemand, der regieren kann, auch an die Macht kommen kann. Im Absolutismus mußte man, um an die Macht zu kommen, den König umschmeicheln oder in Madame Pompadours Gunst stehen. Heute, in unserer „Pseudodemokratie“, heißt „an die Macht kommen“ telegen sein und ein gutes Gespür für die öffentliche Meinung haben.
Von Aristoteles stammt der wunderbare Satz: „Wer ist Bürger? Bürger ist jemand, der fähig ist, zu regieren und regiert zu werden.“ Es gibt 60 Millionen Bürger in Frankreich. Warum sollen diese nicht in der Lage sein zu regieren? Weil das gesamte politische Leben ihnen das Regieren aberzieht und sie davon zu überzeugen versucht, daß man die Angelegenheiten den Experten anvertrauen muß. Es gibt also eine politische Gegenerziehung. Anstatt daß die Leute lernen, wie auch immer geartete Verantwortung zu übernehmen und selbst initiativ zu werden, gewöhnen sie sich zunehmend daran, zwischen vorgefertigten Ideen auszuwählen. Und da die Leute nicht dumm sind, glauben sie immer weniger daran und werden zynisch.
Zur Zeit der modernen Gesellschaften, also in der Zeit von den Revolutionen in Amerika (1776) und Frankreich (1789) bis zum Zweiten Weltkrieg (1945), gab es lebhafte soziale und politische Auseinandersetzungen. Die Menschen widersetzten sich und gingen für politische Anliegen auf die Straße. Es gab viele Arbeiterstreiks, und es ging dabei keineswegs nur um begrenzte ständische Interessen. Es gab große Fragen, die alle Lohnabhängigen etwas angingen. Diese Kämpfe haben die beiden vergangenen Jahrhunderte geprägt.
Der erste Grund für die heutige Lage ist der allgemein zu beobachtende Rückgang des politischen Handelns. Dies ist ein Teufelskreis. Denn je passiver sich die Menschen verhalten, desto mehr Raum erhalten Bürokraten und Polit-Macher. Sie haben eine gute Rechtfertigung: „Es tut ja sonst keiner etwas.“ Und je mehr sie die Oberhand gewinnen, desto mehr sagen sich die Leute: „Es lohnt nicht, sich da einzumischen, es gibt schon genügend Leute, die sich darum kümmern, und außerdem kann man sowieso nichts ändern.“
Der zweite Grund ist die Auflösung der großen politischen Ideologien – revolutionärer oder reformistischer Natur –, die wirkliche Veränderungen innerhalb der Gesellschaft zum Ziel hatten. Aus tausendundeinem Grund gerieten diese Ideologien in Verruf, beziehungsweise entsprachen nicht mehr den Erwartungen, den gesellschaftlichen Wirklichkeiten oder der historischen Erfahrung. Denken wir einmal an das wirklich große Ereignis von 1991, als die UdSSR und der Kommunismus zusammenbrachen. Hat denn ein einziger von all den politischen „Größen“ der Linken einmal wirklich darüber nachgedacht, was damals geschah, warum es geschah und wer daraus, wie man so schön sagt, gelernt hat? Eine derartige Entwicklung, von der ersten Phase – dem Aufstieg zum Unrechtsstaat, zum Totalitarismus, zu den Gulags und so weiter – bis hin zum Zusammenbruch, hätte doch ein grundlegendes Nachdenken mit ernsthaften Konsequenzen verdient: Was kann eine Bewegung, die die Gesellschaft verändern will, machen, was muß sie machen, was kann und darf sie hingegen nicht machen? Kein Wort!
Und was tun viele Intellektuelle? Sie haben den orthodoxen Liberalismus vom Beginn des 19. Jahrhunderts wieder hervorgeholt, der einhundertundfünfzig Jahre lang bekämpft worden war und der die Gesellschaft in die Katastrophe geführt hätte. Denn letztlich hatte der alte Marx nicht ganz unrecht. Hätte man den Kapitalismus in der Vergangenheit sich selbst überlassen, dann wäre er schon hundertmal zusammengebrochen. Jedes Jahr hätte es eine Überproduktionskrise gegeben. Doch warum ist er nicht zusammengebrochen? Weil die Arbeiter gekämpft, Gehaltserhöhungen durchgesetzt und riesige Binnenmärkte für Konsumgüter geschaffen haben. Sie haben Arbeitszeitverkürzungen durchgefochten, was die technologiebedingte Arbeitslosigkeit vollständig aufgefangen hat. Man wundert sich heute über die Arbeitslosigkeit. Aber die Arbeitszeit ist seit 1940 gleich geblieben.
Die Liberalen sagen: „Wir müssen auf die Kräfte des Marktes bauen.“ Aber diesen Satz haben die Wirtschaftswissenschaftler bereits in den dreißiger Jahren verworfen. Und sie waren weder Revolutionäre noch Marxisten. Sie haben demonstriert, daß alles, was die Liberalen über die Vorteile des Marktes erzählen, der angeblich die bestmögliche Nutzung der Ressourcen und die gerechteste Einkommensverteilung garantiert, ein Irrtum ist. All das ist erwiesen. Und doch gibt es die große politisch-ökonomische Offensive der herrschenden Kreise, ob sie Reagan, Thatcher oder Mitterrand heißen. Mitterrand meinte: „So, jetzt ist Schluß mit dem Spaß, jetzt müssen wir euch entlassen“ – bei Alain Juppé hieß das „abspecken“ –, „auf die Dauer wird der Markt euch dann Wohlstand bescheren.“ Auf die Dauer. Vorläufig aber liegt die amtliche Arbeitslosenquote in Frankreich bei 12,5 Prozent.
Die Krise als Schicksalsschlag
ES war von einer Art Terrorismus des Einheitsdenkens die Rede, vom Nichtdenken also. Das Einheitsdenken ist insofern einheitlich, als es die erste Denkungsart ist, die ein umfassendes Nichtdenken beinhaltet. Ein liberales Einheitsdenken, dem niemand entgegenzutreten wagt. Was verkörperte die liberale Ideologie in ihrer Blütezeit? Um 1850 war sie eine große Ideologie, denn damals glaubte man an den Fortschritt. Mit dem Fortschritt, so die Liberalen jener Zeit, würde der wirtschaftliche Wohlstand wachsen. Auch wenn die ausgebeuteten Klassen nicht reicher wurden, ging der Trend zu weniger Arbeit, zu weniger Schwerarbeit; das war das große Thema der damaligen Zeit. Benjamin Constant erklärte: „Die Arbeiter können nicht wählen, weil sie durch die Fabriken abgestumpft sind“ (er sprach das offen aus, damals waren die Leute ehrlich!), „darum brauchen wir ein Zensuswahlrecht.“
In der Folge wurde die Arbeitszeit kürzer, die Menschen kamen in den Genuß von Schulbildung, Ausbildung und einer Art Aufklärung, nicht der subversiven Aufklärung des 18. Jahrhunderts, sondern jener Aufklärung, die die ganze Gesellschaft durchdrang. Die Wissenschaft entwickelte sich, die Menschheit wurde humaner, die Gesellschaften zivilisierter, und so bewegte man sich, wie es schien, langsam, aber sicher hin zu einer Gesellschaft, in welcher es praktisch keine Ausbeutung mehr geben würde und in welcher sich die repräsentative Demokratie in eine wirkliche Demokratie verwandeln würde.
Aber es hat nicht funktioniert! Deswegen glauben die Leute nicht mehr an diese Idee. Heute herrscht Resignation vor – sogar bei den Vertretern des Liberalismus. Wie lautet zur Zeit das Hauptargument? „Es ist vielleicht nicht gut so, aber die Alternative war noch schlechter.“ Und das hat wirklich viele Leute in einen Lähmungszustand versetzt. Sie sagen sich: „Wenn wir uns zuviel rühren, dann kommt bestimmt ein neuer Gulag.“ Das also steckt hinter der ideologischen Auszehrung, und da werden wir nur herauskommen, wenn wirklich wieder eine mächtige Systemkritik auftaucht. Wenn die Menschen das Handeln, die Teilhabe wiederentdecken.
Hier und da beginnt man zumindest zu verstehen, daß die „Krise“ kein Schicksalsschlag der Moderne ist, dem man sich unterwerfen oder an den man sich anpassen müßte – so man nicht als archaisch dastehen will. Ein Wiederaufleben staatsbürgerlichen Handelns liegt in der Luft. Damit stellt sich die Frage nach der Rolle der Bürger und der Befähigung jedes einzelnen, seine demokratischen Rechte und Pflichten wahrzunehmen, um – welch süße Utopie! – dem allgemein verbreiteten Konformismus zu entkommen.
Sollte man, um davon wegzukommen, auf die athenische Demokratie zurückgreifen? Wer wurde in Athen gewählt? Jedenfalls nicht die Magistrate. Sie wurden durch Los bestimmt oder rotierten. Für Aristoteles ist – wie erinnerlich – jeder, der in der Lage ist, zu regieren und regiert zu werden, ein Bürger. Jeder kann regieren, daher wird gelost. Politik ist keine Sache der Experten. Es gibt keine Politische Wissenschaft. Es gibt eine Meinung, die doxa1 der Griechen, aber es gibt kein Epistem2 .
Die Vorstellung, nach der es keine Politikexperten gibt und die Meinungen einander ebenbürtig sind, ist die einzige vernünftige Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips. Daher entscheidet bei den Griechen das Volk, und die Magistrate werden durch das Los bestimmt oder rotieren. Für die speziellen Tätigkeiten – für den Bau von Werften oder Tempeln sowie für die Kriegführung – benötigt man Spezialisten. Diese werden ausgewählt. Das ist Wahl. Wahl heißt „Auswahl der Besten“. Hier kommt die Bildung des Volkes ins Spiel. Man trifft eine erste Wahl, man irrt sich, man stellt fest, daß zum Beispiel Perikles ein jämmerlicher Stratege ist, und dann wählt man ihn eben nicht wieder, oder man beruft ihn ab.
Aber die doxa muß kultiviert werden. Und wie kann eine doxa, die das Regieren betrifft, kultiviert werden? Durch regieren. Deswegen ist Demokratie, und das ist wichtig, eine Sache der staatsbürgerlichen Erziehung, was es heute nirgends mehr gibt.
Kürzlich veröffentlichte eine Zeitschrift eine Statistik, aus der hervorging, daß 60 Prozent der französischen Abgeordneten zugeben, nichts von Wirtschaft zu verstehen. Abgeordnete, die die ganze Zeit Entscheidungen treffen! In Wirklichkeit sind diese Abgeordneten genau wie die Minister Sklaven der Fachleute. Sie haben ihre Experten, aber sie haben auch Vorurteile und Präferenzen. Wenn man sich die Funktionsweise einer Regierung, einer großen Verwaltung näher ansieht, erkennt man, daß alle führenden Persönlichkeiten den Experten vertrauen, sich allerdings dabei auf jene stützen, die ihrer Meinung sind. Dies ist ein völlig dümmliches Spiel, und genauso werden wir regiert.
Zeiten der Entgrenzung
DIE Institutionen von heute halten die Menschen auf vielfältige Weise davon ab, sich an öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen. Dabei ist ein aktives Mitwirken allemal die beste politische Bildung, was jedoch veränderte Institutionen voraussetzen würde, solche nämlich, welche die Mitwirkung zulassen und befördern.
Die Erziehung müßte viel stärker auf die gemeinschaftliche Sache ausgerichtet sein. Die Mechanismen von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und so weiter müßten verstanden werden. Obwohl Geschichte so spannend ist, langweilen sich die Kinder im Geschichtsunterricht. Warum kann die Schule keine wahrhaftige Anatomie der zeitgenössischen Gesellschaft vermitteln? Aufzeigen, wie die Gesellschaft funktioniert? Den Schülern beibringen, wie man sich vor Weltanschauungen und Ideologien schützt?
Aristoteles hat gesagt: „Der Mensch ist ein Tier, das nach Wissen strebt.“ Das ist falsch. Der Mensch ist ein Tier, das nach Weltanschauungen strebt, das nach der Gewißheit einer Weltanschauung strebt; hier setzen Religionen und politische Ideologien an. In der Arbeiterbewegung gab es zu Beginn eine sehr kritische Haltung. Nehmen sie die zweite Strophe der Internationale, den Gesang der Commune: „Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott“ – soviel zur Religion –, „kein Kaiser noch Tribun“ – soviel zu Lenin!
Auch wenn heute immer noch Randgruppen nach dem Glauben suchen, sind die Leute sehr viel kritischer geworden. Das ist sehr wichtig. Scientology, Sekten oder Fundamentalismus gibt es in vielen Ländern, bei uns jedoch kaum. Die Leute sind viel skeptischer geworden. Doch das hindert sie auch am Handeln.
Perikles sagte in seiner Rede an die Athener: „Wir sind die einzigen, bei denen das Denken nicht das Handeln behindert.“ Das ist wunderbar! Er fügte hinzu: „Die anderen denken entweder nicht nach und handeln leichtfertig, oder aber sie denken so sehr nach, daß sie handlungsunfähig sind, weil sie sich sagen, es gibt ein Für und ein Wider.“ Zur Zeit befinden wir uns in einer Phase der Behinderung, soviel steht fest. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Was wir brauchen, sind nicht etwa große Reden, sondern echte Argumente.
Wie dem auch sei – es gibt heute ein grenzenloses Verlangen. In den archaischen oder traditionellen Gesellschaften gibt es ein solches grenzenloses Verlangen nicht, da das Verlangen durch die Sozialisation Gestalt erhält. Diese Gesellschaften basieren auf der Wiederholung. Man sagt beispielsweise: „Wähle dir eine Frau aus diesem Clan oder jener Familie. Habe nur eine Frau in deinem Leben. Wenn du zwei hast – oder zwei Männer –, dann nur heimlich, denn es ist ein Verstoß. Dein sozialer Status ist festgeschrieben und unabänderlich.“
Heute aber findet eine umfassende Befreiung von den Zwängen der Sozialisation des einzelnen statt. Wir erleben eine Zeit der Entgrenzung in allen Bereichen, und dadurch ist unser Verlangen grenzenlos. Diese Befreiung ist in gewisser Hinsicht eine große Errungenschaft. Eine Rückkehr zu den Gesellschaften der Wiederholung steht nicht zur Diskussion. Es gilt aber auch – und das ist ein großes Thema – zu lernen, wie man sich selbst, individuell und kollektiv, Grenzen setzt. Die kapitalistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die in jeder Hinsicht dem Abgrund zustrebt, weil sie sich keine Grenzen zu setzen weiß. Eine wirklich freie Gesellschaft, eine autonome Gesellschaft, muß sich aber selbst Grenzen setzen können, muß wissen, daß es Dinge gibt, die man nicht tun kann oder nicht einmal ausprobieren oder anstreben darf.
Wir leben auf diesem Planeten und sind im Begriff, ihn zu zerstören, und wenn ich diesen Satz sage, denke ich an die vielen Schönheiten, an das Ägäische Meer, an die schneebedeckten Berggipfel, an den Anblick des Pazifik von einer bestimmten Stelle Australiens aus, ich denke an Bali, an Indien, an das Land hier in Frankreich, das man immer weiter versteppen läßt. So viele Schönheiten werden zerstört. Ich meine, wir sollten die Gärtner unserer Erde sein. Wir müssen sie pflegen, sie so bewahren, wie sie ist, um ihrer selbst willen. Und wir müssen unser Leben, unseren Platz darin finden. Das ist eine ungeheure Aufgabe. Sie könnte einen Großteil der Freizeit der Leute einnehmen, die sich von einer stupiden, repetitiven Lohnarbeit befreit hätten. Dies aber ist nicht nur sehr weit vom derzeitigen System entfernt, sondern auch von der derzeit vorherrschenden Phantasie. Die Vorstellungswelt unserer Zeit ist auf unbegrenztes Wachstum gerichtet, auf die Anhäufung von Krimskrams: in jedem Zimmer ein Fernseher, in jedem Zimmer ein Computer – das müssen wir abschaffen. Unser ganzes System basiert auf dieser Vorstellungswelt.
Freiheit ist ein schwieriges Unterfangen, weil es sehr leicht ist, sich gehenzulassen. Der Mensch ist ein träges Tier. Es gibt einen wunderbaren Satz von Thukydides: „Man muß sich entscheiden: sich zurücklehnen oder frei sein.“ Und Perikles sagte den Athenern: „Wenn ihr frei sein wollt, müßt ihr arbeiten.“ Ihr könnt euch nicht zurücklehnen. Ihr könnt euch nicht vor den Fernseher setzen. Ihr seid nicht frei, wenn ihr vor dem Fernseher sitzt. Ihr haltet euch für frei, indem ihr zappt wie die Irren, aber ihr seid es nicht, das ist eine falsche Freiheit. Freiheit heißt handeln. Und Freiheit ist ein Handeln, das sich zugleich selbst Grenzen setzt, also weiß, daß es alles machen kann, aber nicht alles machen darf. Darin liegt das große Problem der Demokratie und des Individualismus.
dt. Sabine Scheidemann
Textauswahl von Daniel Mermet. Vollständiger Text des Interviews erhältlich bei France Inter, Sendung „Là-bas si j'y suis“, Folge 5463, 116, avenue du Président Kennedy, 75220 Paris Cedex 16.
* Mitbegründer der Zeitschrift Socialisme ou barbarie. Auf deutsch erschienen u.a. „Durchs Labyrinth. Seele. Vernunft. Gesellschaft“, Frankfurt (EVA) 1981, und „Gesellschaft als imaginäre Institution“, Frankfurt (Suhrkamp) 1984, beide dt. v. H. Brühmann.