Zauberlehrlinge des Lebens
DIE künstliche Zeugung aller Organismen ist in die Reichweite menschlicher Machbarkeit gerückt. Diese neue Fähigkeit konfrontiert unsere Gesellschaft mit einer der schwierigsten Fragen überhaupt, der Frage nach dem Sinn des Lebens. Dennoch sind sich weder die verantwortlichen gesellschaftlichen Kräfte noch die öffentliche Meinung der Brisanz bewußt, die mit der Beherrschung der „rekombinanten DNS“ verbunden ist. Darauf hinzuweisen ist das große Verdienst des Buches von Jeremy Rifkin, „Das biotechnische Zeitalter“.1 Der Ökologe, Ökonom und Anthropologe Rifkin ist einer breiten Leserschaft durch sein erfolgreiches letzten Buches, „Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft“2 bekannt. Sein neues Werk bietet eine umfangreiche Bestandsaufnahme der Entdeckungen und technologischen Neuerungen im Zusammenhang mit dem gentechnologischen Durchbruch im Bereich der „rekombinanten“ (gentechnisch veränderten) DNS. Daneben untersucht Rifkin im Detail die gesetzlichen Bestimmungen, die in den USA zur Patentierung von Lebewesen eingeführt wurden und einer weltweiten Bio-Piraterie Vorschub leisten. In der Agro- und Pharmaindustrie erlaubt der gewaltige Vormarsch der Gentechnologie schon heute die Herstellung gentechnisch veränderter Pflanzen und Tiere sowie rekombinanter Medikamente im großen Stil. Unternehmen und Forscher liefern sich einen irrsinnigen Wettlauf um Marktanteile und Profite. Neue grundlegende Fragen tauchen auf: Wird die massive Freisetzung Tausender in den Labors erzeugter Lebensformen nicht zu einer riesigen genetischen Verschmutzung (einem genetischen „Smog“) führen? Ist nicht eine kleine Zahl multinationaler Unternehmen soeben im Begriff, sich das weltweite genetische Erbe anzueignen?
Vor allem das Klonen und die Entschlüsselung des menschlichen Genoms werfen zentrale Fragen auf: Ist es nicht ein Eingriff in die Entwicklung des Kosmos selbst, wenn wir in die Ära der Eugenik eintreten, um uns Kinder nach Maß zu schneidern, und uns damit anmaßen, an der komplexesten Stelle in die Evolution einzugreifen? Die Geschichte der Eugenik in den USA, die Rifkin in düsteren Farben schildert, führt dazu, daß heute zahlreiche Wissenschaftler eine „einladende Krämer-Eugenik“ als etwas Natürliches betrachten.
Wie Rifkin treffend bemerkt, sind an die Stelle der traditionellen ethischen Spaltungen neue Bruchlinien getreten, bei denen „auf der einen Seite diejenigen stehen, die dem menschlichen Leben einen Eigenwert zumessen, und auf der anderen Seite diejenigen, die in ihm [vor allem] den Nutzwert sehen“. Für letztere sollen und müssen die neuen „transgenen“ Erzeugnisse aus den Labors, mit denen die menschliche Natur verändert werden soll, in den Dienst des Utilitarismus gestellt werden. Die „neuen lebendigen Produkte“ seien ungeachtet jeglichen Gebots zur Vorsicht und jeglicher wissenschaftlicher oder staatsrechtlicher (gesellschaftlicher) Überlegungen auf den Markt zu bringen. Wenn man die kapitalistische Marktwirtschaft als Regulator aller Bedürfnisse und als einzig sinnstiftenden Faktor der menschlichen Gesellschaft akzeptiert, wäre irreversiblen Auswüchsen Tür und Tor geöffnet. Überließe man die Gentechnologie dem Ultraliberalismus, hätte ihre schwellenüberschreitende Wirkung noch fragwürdigere Folgen als die Grenzüberschreitung in der Atomenergie. Das Schicksal des Lebens selbst wäre in die Hände von unreifen Zauberlehrlingen gelegt.
JACQUES ROBIN