11.09.1998

Die Bombe als Eintrittskarte in die Weltpolitik

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Die Bombe als Eintrittskarte in die Weltpolitik

DIE Vereinigten Staaten und Japan haben auf die indischen und pakistanischen Atombombenversuche im Mai 1998 umgehend mit Sanktionen reagiert – während Europa die nuklearen Texts lediglich verurteilt hat. Sowohl die Tests selbst als auch die Reaktionen darauf zeigen, wie sehr sich die Kräfteverhältnisse in Asien verändert haben. Die führenden Staaten der internationalen Gemeinschaft, zumal die USA, werden es sich künftig nicht mehr leisten können, die drei asiatischen Großmächte – Japan, China und Indien – in ihren Überlegungen zu vernachlässigen.

Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *

Die harsche Reaktion der Vereinigten Staaten auf die Atomversuche Indiens und Pakistans im Mai 1998 hat strategische Gründe: Die Entstehung weiterer Atommächte soll verhindert werden.

Schon frühzeitig mußten sich die USA mit dem Verlust ihres Atommonopols abfinden. Die Sowjetunion verfügte ebenfalls über Atomwaffen, später halfen die USA Großbritannien beim Aufbau eines eigenen Atomwaffenarsenals. Dann schafften Frankreich und China der Sprung zur unabhängigen Atommacht. Als auch Israel, wie man trotz offizieller Dementis nun weiß, ein eigenständiges Nuklearwaffenpotential entwickelte, unternahmen die Vereinigten Staaten nichts dagegen. Danach jedoch setzten sie alles daran, der Weiterverbreitung einen Riegel vorzuschieben. Andere Staaten sollten vom Besitz von Atomwaffen abgehalten werden, damit sie nicht Nachbarstaaten, die über keine Atomwaffen verfügen, bedrohen oder gar angreifen könnten.

Ein weiterer Grund für die Nichtweitergabepolitik waren militärische Überlegungen im engeren Sinne. Die Vereinigten Staaten strebten ein allgemeines Atomtestverbot an, um die anderen Atommächte zu hindern, ihr Atomarsenal zu diversifizieren. Abgesehen vom Start-II- Abkommen, mit dem sich Washington, falls es umgesetzt wird, den Besitz von 3500 operationellen Nuklearsprengköpfen für sein strategisches Arsenal sichert (Rußland dürfte nur 3000 behalten), konnten die Vereinigten Staaten im September und Oktober 1991 bei den amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über den Abbau taktischer Atomwaffen in Europa eine Ausnahmeregelung für ihre Luft-Boden-Raketen durchsetzen: Die mit Atomsprengköpfen ausgerüsteten und in Großbritannien stationierten F-111- Bomber bleiben weiterhin einsatzbereit.

Die Tragweite dieser Ausnahmeregelung ist kaum zu überschätzen.1 Die amerikanische Führung zeigte, daß sie nicht bereit ist, auf eines der wichtigsten Instrumente ihrer atomaren Macht zu verzichten: den möglichen Einsatz von atomaren Waffen in Konfliktzonen, als Ergänzung oder Ersatz von konventionellen Waffen, gemäß der Strategie der flexible response. Gleichzeitig versuchte Washington zu erreichen, daß andere Mächte, wie die ehemalige Sowjetunion, auf diese Waffen verzichten oder sie mangels notwendiger Tests erst gar nicht entwickeln können.

Trotz des Atomtest-Moratoriums, das 1992 verabschiedet wurde, haben die Vereinigten Staaten ihre Atomversuche keineswegs eingestellt, im Gegenteil: Als Ergänzung zu einem Testsimulator, über den zu diesem Zeitpunkt allein sie verfügten, führten sie in den Folgejahren Dutzende weiterer Atomversuche durch – rund fünfzehn allein 1996 –, die aber so schwach waren, daß man sie nicht nachweisen konnte. Im übrigen ist unbestritten, daß die USA auf der großen Fläche ihres Staatsgebiets und in der Tiefe ihrer umgebauten Silos unbemerkt weitere Tests durchführen könnten.

Die Politik der Nichtweitergabe von Atomwaffen hat darüber hinaus noch eine andere Dimension. Jenseits des nuklearen Rüstungswettlaufs bemißt sich die militärische Macht eines Landes seit Ende des Kalten Kriegs an der Größe und Schlagkraft seiner konventionellen Streitkräfte. Und genau in diesem Bereich genießen die Vereinigten Staaten eine unbestreitbare, offenbar dauerhafte militärische Vorrangstellung. Kein anderes Land verfügt über eine solche Bandbreite modernster Waffensysteme, kein anderes besitzt davon solche Mengen, kein anderes ist gleichermaßen in der Lage, seine Streitkräfte in jeden Teil der Erde zu projizieren, um das militärische Kräfteverhältnis vor Ort massiv zu seinen Gunsten zu verändern. Der Golfkrieg 1990/91 hat gezeigt: Die USA haben vor, sich durch ihre „Revolution der Militärtechnologie“2 und ständige wissenschaftliche und technische Fortschritte eine absolute Vormachtstellung zu sichern.

Die Politik der Nichtweitergabe kann bereits bemerkenswerte Erfolge vorweisen. Das umfassende Atomtestverbot (CTBT) sieht nicht nur das Verbot von Tests über und unter der Erde, unter Wasser oder im Weltraum vor; es untersagt den Unterzeichnerstaaten zudem, Nukleartests jeglicher Art zu unterstützen und sieht eine Kontrolle durch weltweit installierte Sensoren vor. Auch wenn das Teststoppabkommen im Prinzip erst in Kraft tritt, wenn es von alle 44 Staaten ratifiziert wird, die über nukleare Kapazität verfügen und an der UNO-Abrüstungskonferenz vom Juni 1996 teilgenommen haben, fungiert es schon jetzt als wichtiges diplomatisches Druckmittel.

Im übrigen nimmt die Zahl der Staaten ab, die willens oder in der Lage sind, Atomwaffen zu bauen. Algerien und Brasilien haben auf ein eigenes Atomwaffenprogramm verzichtet, die irakischen Produktionskapazitäten sind zerstört, die neue Regierung in Südafrika hat die sechs Bomben, die ihr Vorgänger bauen ließ, freiwillig verschrottet, und mit Nord- Korea hat Washington ein Abkommen ausgehandelt, das Pjöngjang zur ausschließlich zivilen Nutzung der Atomenergie verpflichtet (siehe auch Seite 7).

Die Taliban in den Sattel gehievt

DURCH die indischen und pakistanischen Atomversuche erlitt diese Politik allerdings einen schweren Rückschlag. Die pakistanischen Machthaber hatten bereits seit längerem darüber diskutiert, ob das Land nicht eine eigene Atomstreitmacht brauche, um Indien davon abzuhalten, seine konventionelle Überlegenheit für einen Militärangriff zu nutzen. Diese These hatte der pakistanische General a.D. Abdul Rahman Siddiqi, Chefredakteur der halbamtlichen Zeitschrift The Defence Journal, bereits vor mehr als zehn Jahren vertreten.

Die Vereinigten Staaten hatten damals versucht, Islamabad von dieser Ausrichtung abzubringen. Der amerikanische Botschafter in Pakistan meinte gar, anstelle eigener Atomwaffen solle Pakistan eher den Schutz einer ausländischen Macht suchen, etwa in Form einer amerikanischen oder chinesischen Raketenabwehr, und sei es nur, um Indien keinen Vorwand für den Bau einer eigenen Bombe zu liefern. Desweiteren liege es nahe, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen, um Indien zum selben Schritt zu nötigen. Diese Ansicht wurde in „Nuclear Stalemate or Conflagration“ von Akhtar Ali alsbald aufgegriffen und fand auch in der halbamtlichen Zeitschrift Pakistan and Gulf Economist Zustimmung.3

Die „Garantien“, die der amerikanische Diplomat ansprach, wurden allerdings als zu vage und auf militärischer Ebene als unseriös erachtet. Schließlich verabschiedete der US-Kongreß eine Reihe von Ausnahmeregelungen, damit Pakistan nicht unter das Symington- Amendment fiel, wonach Ländern, die im Verdacht stehen, Atomwaffen zu entwickeln, jegliche Unterstützung entzogen wird. In Anbetracht dieser Umstände war es vorauszusehen, daß Pakistan auf die indischen Atomversuche reagieren würde.

Im übrigen hat der Westen nicht erkannt, daß sich die politischen Vorstellungen, auf denen die indische Außenpolitik seit der Unabhängigkeit basiert, in einer tiefen Krise befinden. Zusammengebrochen ist erstens das Dogma, die Unterstützung durch die Sowjetunion sei unerläßlich, um die Unabhängigkeit und Blockfreiheit Indiens gegenüber den Vereinigten Staaten und China zu garantieren. Zweitens hat Japan trotz seiner augenblicklichen Schwierigkeiten offensichtlich einen uneinholbaren Vorsprung erlangt, auf wirtschaftlicher, technologischer und – als privilegierter Bündnispartner der Vereinigten Staaten – vielleicht auch strategischer Ebene. Und drittens scheint die rapide Entwicklung Chinas zur Supermacht mittel- und langfristig ebenfalls ein unvermeidliches Ungleichgewicht zu schaffen. Kurz, Indien lief Gefahr, gegenüber den anderen asiatischen Mächten endgültig ins Hintertreffen zu geraten: Beim Bruttoinlandsprodukt liegt das Land auf Platz 140 der Weltrangliste, China auf Platz 102 und Japan auf Rang 8.

Neu-Delhi versuchte in den letzten zwei Jahren, dieser Gefahr entgegenzutreten. Ein Bericht des indischen Rats für außenpolitische Beziehungen vom Januar 1997 verzeichnet denn auch eine positive Entwicklung in der Indienpolitik der Vereinigten Staaten, nicht nur in puncto Technologietransfer, sondern auch mit Blick auf Waffenverkäufe und militärische Zusammenarbeit. Der Besuch des chinesischen Staatsoberhaupts Jiang Zemin Ende 1996 zeugt vom gemeinsamen Willen, die zwischenstaatlichen Beziehungen zu normalisieren. Die Unterzeichnung eines Abkommens zur Truppenreduzierung entlang der gemeinsamen Grenze bestätigt zudem eine informelle Vereinbarung über die beiderseitige Anerkennung des derzeitigen Grenzverlaufs. Die Atomtests hielt die indische Führung ungeachtet der absehbaren negativen Reaktionen für ein geeignetes Mittel, um auch der übrigen Welt ins Gedächtnis zu rufen, daß Indien eines der wichtigsten Länder der internationalen Gemeinschaft ist.

Die amerikanische Pakistanpolitik wird sich sicherlich nicht ändern – zu entscheidend ist das Land im strategischen Beziehungsgeflecht, das die USA in Südwestasien geknüpft haben. Auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs erreichte die amerikanische Diplomatie den Beitritt Pakistans zur 1959 gegründeten Central Treaty Organization (Cento), die nach dem Austritt des Irak aus dem Bagdadpakt gegründet wurde und den militärischen Einflußbereich der Nato bis an die Südgrenze der UdSSR ausdehnen sollte.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Bedeutung Islamabads für die amerikanische Strategie noch weiter gestiegen. Zunächst Rückzugsgebiet des Widerstands gegen die Rote Armee und das prosowjetische Regime in Afghanistan, hat Pakistan dann unter entscheidender Mithilfe der Vereinigten Staaten die Taliban in den Sattel gehievt, bewaffnet und finanziert, die nunmehr den größten Teil Afghanistans in ihrer Gewalt haben.4 Das bedeutet für Washington den direkten Zugang zu den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien, ein wirtschaftlich und politisch bedeutender Trumpf.

Dieser Teil Zentralasiens, der sich bis zum Kaspischen Meer erstreckt, gilt als eine der reichsten Erdölregionen der Welt und wird in ihrer Bedeutung nur vom Nahen Osten übertroffen. Den Vereinigten Staaten ist daran gelegen, hier an vorderster Front mitzumischen, zumal in Turkmenistan. Die riesigen Erdöl- und Erdgasvorkommen dieses Landes, in dem sich eine amerikanische Ölgesellschaft bereits den ersten Platz gesichert hat, sollen über afghanisches Staatsgebiet bis an die pakistanische Küste am Indischen Ozean transportiert werden.

Darüber hinaus wollen die USA verhindern, daß sich hier erneut eine ähnliche Vormacht herausbildet wie die ehemalige Sowjetunion. Sie versuchen daher, den Einfluß Rußlands möglichst zu reduzieren und die muslimischen Republiken der ehemaligen UdSSR nach Südwesten und Südosten zu orientieren, das heißt in Richtung Türkei und Pakistan, den Hauptpfeilern der US-Strategie. Einerseits wollen die Vereinigten Staaten also Pakistan zur Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags und zur Einstellung seiner Atomversuche bewegen, gleichzeitig aber betrachten sie das Land auch weiterhin als einen wichtigen Partner.

Gleiches gilt für Indien. Das demographische Gewicht und ein jährliches Wirtschaftswachstum von etwa 7 Prozent machen das Land zu einem erheblichen Machtfaktor. Dennoch hielt es die politische Führung für nötig, auf das zu reagieren, was als „strategische Einkreisung“ wahrgenommen wird. Drei Hauptfaktoren spielen hier zusammen, wie das Institute for Defence Studies and Analysis angibt: Der Indische Ozean wird von amerikanischen Luft- und Seestreitkräften kontrolliert, wobei die USA ihre militärische Präsenz durch die Errichtung einer Militärbasis auf Diego Garcia in der Schlußphase des Kalten Kriegs und durch die ständige Truppenstationierung im Golf seit dem Irakkrieg weiter ausgebaut haben. Die militärische Aufrüstung Pakistans nimmt ständig zu, und China entwickelt sich zu einem immer bedeutenderen Machtfaktor in der Region, seit Rivalität und Bedrohung seitens der ehemaligen Sowjetunion weggefallen sind.5

Diese Analyse, die in weiten Teilen bereits vor dem ersten Atomversuch im Jahr 1974 Grundlage der indischen Außenpolitik war, bestimmte auch in den folgenden zwanzig Jahren die strategischen Überlegungen und militärischen Entscheidungen Neu-Delhis. Ihre theoretische Basis findet sich in den Schriften des Institute for Defence Studies and Analysis und in den Veröffentlichungen seines Leiters, K. Subrahmalyam, insbesondere im Sammelband „India and the Nuclear Challenge“6 , in dem explizit der Aufbau eines nuklearen Waffenarsenals aus 30 bis 50 Bombern, 50 ballistischen Raketen mit 3000 Kilometern Reichweite und 100 Atomsprengköpfen gefordert wird.

Nach Auffassung der indischen Führung hat der Aufstieg des Landes zur Atommacht das strategische Kräfteverhältnis in Asien wieder ins Gleichgewicht gebracht. China wird nicht mehr als einziger Staat des Kontinents über Atomwaffen verfügen. Zwischen den beiden Staaten wird sich das System der gegenseitigen Abschreckung herausbilden, das in den vergangenen Jahrzehnten ein gewisses Gleichgewicht zwischen Ost und West gesichert und offene Konflikte verhindert hat. Strategisch hat Indien daher mit China „gleichgezogen“. Auch das Verhältnis zu Japan hat sich verändert, da dieses Land eine tiefgreifende wirtschaftliche und demographische Krise durchlebt und sich fragt, welche Rolle es im System der fernöstlichen Mächte künftig spielen wird.

Daß sich in Asien ein neues Kräfteverhältnis herauskristallisiert, steht außer Frage. Keiner der drei Machtpole – Japan, China und Indien – darf von den Hauptakteuren der internationalen Gemeinschaft vernachlässigt werden. Entgegen den wiederholt geäußerten Befürchtungen der politischen Klasse Japans werden die Vereinigten Staaten dieses Land angesichts der zunehmenden Macht Chinas weiterhin als unersetzlichen Bündnispartner betrachten. Die Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung durch US-Präsident Clinton und den japanischen Premierminister am 17. April 1996, in der die beiden Staaten ihre gemeinsame Verantwortung für die „Sicherheit in der Region“ bekräftigten, ist dafür Beweis genug. Andererseits zeigte die spektakuläre Reise des amerikanischen Staatsoberhaupts nach Peking im Juli 1998, daß Washington in Anbetracht der neuen Machtstellung Chinas keine andere Wahl bleibt, als mit Peking einen Ausgleich zu finden und diesen potentiellen Gegner als Partner zu behandeln.

Die möglichen Folgen der indischen Atomversuche sind in ihrer ganzen Tragweite vielleicht noch nicht absehbar, doch eines steht bereits jetzt fest: Indien ist in den Kreis der Großmächte aufgestiegen. Und falls die Charta der Vereinten Nationen abgeändert werden sollte, wird Japan sicherlich nicht als einzige asiatische Macht einen Sitz als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats innehaben.

dt. Bodo Schulze

* Journalist, Autor von „Dernier Empire. Le XXIe siècle sera-t-il américain?“, Paris (Grasset) 1996.

Fußnoten: 1 Vgl. „Washington s'assure la suprématie dans la nouvelle donne stratégique“, Le Monde diplomatique, November 1991. 2 Vgl. Maurice Najman, „Dr. Seltsam plant für das nächste Jahrhundert“, Le Monde diplomatique, Februar 1998. 3 Zitiert nach Jean Alphonse Bernard und Michel Pochoy, „L'Ambition de l'Inde“, Paris (Fondation pour les études de défense nationale) 1988. 4 Vgl. Stéphane Allix, „De la résistance à la prise de Kaboul, l'histoire secrète des talibans“, Le Monde diplomatique, Januar 1997. 5 Verteidigungsministerium, „Annual Report, 1985-1986“. 6 K. Subrahmalyam (Hg.), „India and Nuclear Challenge“, Neu-Delhi 1986; insbesondere die Beiträge von Jasgit Singh („Threat of Nuclear Weapons“) und Rikhi Jaipal („The Indo-Pakistan Nuclear Options“).

Le Monde diplomatique vom 11.09.1998, von PAUL-MARIE DE LA GORCE