Der lebenslange Aufenthalt in ruhigen Gewässern
DIE Geburtsstunde der Berliner Republik schlug am 3. Oktober 1990, dem Datum der Vereinigung der Bundesrepublik mit der DDR. Damals wußten Enthusiasten wie Skeptiker der Einheit ziemlich genau, was von dem neuen Staat zu erwarten wäre. Erstere erinnerten sich Thomas Manns und statuierten: „Für ein europäisches Deutschland, und nicht für ein deutsches Europa“. Letztere sahen die Gefahr einer neuen deutschen Großmacht heraufziehen, die an die alte Hegemonialpolitik des Deutschen Reiches anknüpfen würde. Heute, im Wahlsommer 1998, weiß niemand mehr so genau, wofür die neue „Berliner Republik“ eigentlich steht. Doch jenseits des starren Blicks auf das Nationalgefüge fehlt es auch an zivilgesellschaftlichen Visionen – vom Standort Europa hinaus in die Welt.
Von CHRISTIAN SEMLER *
In den guten alten Zeiten der Bundesrepublik, der heute so viele nachtrauern, gab es eine zentrale Parole der Selbstberuhigung. Sie war dem Titel eines einflußreichen Buches aus den fünfziger Jahren entlehnt und lautete: „Bonn ist nicht Weimar!“ Und je älter die alte Bundesrepublik wurde, desto stärker wurde – gerade im Milieu der Linken – das Vertrauen auf die demokratische Stabilität des Gemeinwesens, auf den scheinbar unaufhaltsamen Prozeß seiner Zivilisierung. Diese Zuversicht, Grundlage aller Lebensplanung, überdauerte die Krise des Sozialstaats, die sich schon in den siebziger Jahren abzeichnete. Jetzt, zu Beginn der „Berliner Republik“, scheint sie nachhaltig erschüttert.
Man muß weit zurückgehen, bis in die letzten beiden Regierungsjahre Konrad Adenauers 1962/63, um einen Vergleich zur gegenwärtigen Stimmungslage der Deutschen zu finden. Damals hatte man den uralten Patriarchen zum Rücktritt gezwungen, aber an der Grundlage seiner Politik, „Keine Experimente wagen!“ wollte man nicht rütteln. Als dann mit dem ökonomischen und politischen Wirbelsturm Mitte der sechziger Jahre der Ruf nach einem Wechsel gebieterisch wurde, ging das nur mit der wohldosierten Mixtur aus Kontinuität und Erneuerung, sprich der Großen Koalition.
Noch nie hat es in der deutschen Nachkriegszeit eine Opposition geschafft, durch Wahlen die Regierung zu übernehmen: 1969 waren die Sozialdemokraten bereits drei Jahre Juniorpartner der CDU, ehe sie durch das Bündnis mit den Liberalen den Sprung ins Kanzleramt schafften. 1982 scherten die Freien Demokraten nach dreizehn Regierungsjahren aus der sozialliberalen Koalition aus und ebneten der endlos langen Regierungszeit Helmut Kohls den Weg. Und auch jetzt neigt die Mehrheit in Meinungsumfragen einer rot- schwarzen Koalition mehr zu als einer rot- grünen. Bis heute dominiert das Sicherheitsbedürfnis alle politischen Leidenschaften der Deutschen. Wenn schon was Neues, dann mit Sicherheitsnetz.
1966 beziehungsweise 1969 war das „Neue“ ein Modernisierungsschub sowie eine Entspannungspolitik, welche die veränderte internationale Lage reflektierte. 1982 ängstigte man sich (von heute aus gesehen verrückterweise) vor der Last der Staatsverschuldung. Das „Neue“ erhoffte man von einem Sparsamkeitsregime und von steuerlicher Entlastung – bei Beibehaltung der Grundfesten des Sozialstaats. Aber was fürchten, was hoffen die Deutschen heute – 1998?
Es gibt im Deutschland dieser Tage ein Grundgefühl, das sich in alle Ritzen des politischen Gebälks eingenistet hat, das alle Erfolgsmeldungen der Regierung, sogar die frohe Botschaft über den neuen ökonomischen Aufschwung, unterminiert: das Gefühl des Überdrusses. Aber der Überdruß dieses Wahlsommers hat seinen Schatten vergessen: die Hoffnung auf Besserung. So weit wir auch blicken, nirgendwo treffen wir im deutschen Gemüt auf die Zuversicht, eine neue Regierung werde neu beginnen. Gerhard Schröder, Kanzlerkandidat der SPD, vermittelt keinen Augenblick das Gefühl, daß nach dem 27. September die Karten neu gemischt würden. Aber das erwartet auch kaum jemand, vor allem die Erstwähler nicht. Wer 1980 geboren wurde, wer in seinem Leben nie eine andere Verkörperung der Macht gesehen hat als diesen unerschütterlichen Fleischberg Kohl – er bleibt am Wahltag zu Hause oder reduziert seine Erwartungen auf eine Sache: Kohl muß weg.
Aber wer ist Kohl, was ist das „System Kohl“, von dem so viele so sehr genug haben? Helmut Kohl ist wie kein anderer Christdemokrat Geschöpf und Protagonist seiner Partei, der CDU. Von Jugend an hat er nichts anderes betrieben als Parteiarbeit und Parteikarriere. Er ist der große Strippenzieher, hat die Seinen unter Kontrolle, unterdrückt Palastrevolten im frühen Stadium, verbannt Unliebsame, fördert Gefügige. Dieser Mann Kohl, so behäbig, so treuherzig, so deutsch in seinem Erscheinungsbild, er kann kämpfen, er ist ein Machtmensch, der niemanden neben sich duldet, vor allem keine besserwisserischen Intellektuellen.
Heute ist die Partei Wachs in seinen Händen. Und von dem einst vielgliedrigen Honoratiorenverein CDU ist nichts geblieben als die Machtmaschine. Diese Entwicklung lag sicher in der Logik des deutschen Parlamentarismus, der – nach 1945 – den Parteien im politischen System einen überragenden Platz eingeräumt hatte. Auch die Sozialdemokratie unterlag und unterliegt programmatischer Auszehrung und Einebnung ihrer politischen Flügel. Aber sie blieb immer Programmpartei, und niemand hat es je geschafft, ihr weltanschauliche Flausen und ideologischen Streit endgültig auszutreiben. Bei den Konservativen ist das eine leichtere Aufgabe, derer Kohl sich allerdings wahrhaft gründlich angenommmen hat.
So zupackend seine Parteiherrschaft war, so träge, so aufs Aussitzen der Probleme bedacht war seine Regierungstätigkeit. Im Rahmen festgefügter internationaler Beziehungen, gestützt auf eine scheinbar endlos expandierende Ökonomie, schaltete und waltete er nach gutväterlicher Art und rechnete damit, daß die Tage, die die Bundesrepublik im stillen Winkel des Weltgeschehens verbrachte, endlos dauern würden. Seine einzige große politische Leidenschaft galt der europäischen Vereinigung. Glücklicherweise ließen sich alle wichtigen deutschen Interessen „im Namen Europas“ abwickeln, wie Timothy Garton Ash es in seinem gleichnamigen Werk1 nachgewiesen hat. Denn das westliche Europa war nicht nur Kohl, sondern den Bundesdeutschen alles in einem: Fluchtpunkt für die erschütterte nationale Identität, Markt für den Exportchampion, operativer Rahmen für die „neue Ostpolitik“ Brandts, die durch ihre europäische Einbindung den Verdacht eines deutschen Sonderwegs Richtung Osten erfolgreich zerstreuen konnte. So hätte es immerzu weitergehen können, aber dann kam das Jahr 1989.
Niemand, weder Freund noch Feind, konnte damals ahnen, mit welcher Entschlußkraft sich Kohl der Herausforderung der deutschen Einheit stellen würde. Er überzeugte die zögernden Verbündeten, gewann Gorbatschow, drückte jedermann an die Wand und wurde zum Vater der deutschen Vereinigung. Sein größter Sieg wurde jedoch zur Quelle seiner größten Niederlage. Es wäre ihm damals ein Leichtes gewesen, die Mehrheit der sonst so sicherheitsbedürftigen, jetzt aber aufgerüttelten Bundesrepublikaner mit einer Rede im Churchillschen Gestus „blood, sweat and tears“ für außerordentliche Opfer zu gewinnen. Statt dessen versprach er im Osten „blühende Landschaften“ und statuierte, daß es niemandem nach der Vereinigung schlechter gehen werde als zuvor. Dieses „Alles wird gut“, Folge eines lebenslangen Aufenthalts in ruhigen Gewässern, ist mitverantwortlich für die Schärfe des heutigen Ost-West-Gegensatzes.
Im Jahr 9 der deutschen Einheit tritt klar hervor, daß sich die in den achtziger Jahren aufgeschobenen Strukturprobleme der alten Bundesrepublik mit den durch die Vereinigung neu geschaffenen nicht einfach überlappen. Sie schaukeln sich vielmehr gegenseitig auf. In den achtziger Jahren war in der westdeutschen Öffentlichkeit ein Krisenbewußtsein entstanden, das sich an fünf Problemkreisen orientierte: an der prekären Lage des deutschen Sozialstaats angesichts schrumpfender Steuereinnahmen, an der Zukunft der Arbeitsgesellschaft, an der zunehmend ungünstigen demographischen Entwicklung2 , am künftigen Charakter der deutschen Gesellschaft als multiethnischer und multikultureller und last but not least an der Notwendigkeit des ökologischen Umbaus der Industrie. Daß zu dieser Zeit in allen genannten Bereichen in der Öffentlichkeit Positionen an Terrain gewannen, die den Status quo überschritten, daß diese Positionen sogar die „etablierten“ politischen Parteien erreichten, ist hauptsächlich das Verdienst der Grünen. Wider alles Erwarten hatten sie das scheinbar abgeschottete politisch-administrative System der Bundesrepublik gesprengt und gesellschaftliches Problembewußtsein in die politische Sphäre übersetzt.
Für die Bearbeitung dieser Probleme brachte die Vereinigung einen schweren Rückschlag. Die demokratische Revolution in der DDR führte in keiner Weise dazu, auch die hergebrachten Grundsätze westdeutscher Politik in Frage zu stellen, was sich im kläglichen Ende des Versuchs zeigte, eine neue deutsche Verfassung auszuarbeiten. Westliche Gesetze, westliche Experten, westliche Konsumartikel, alles ergoß sich in einer gewaltigen Flutwelle aufs Territorium der „neuen Länder“. Im Unterschied zur Situation in Osteuropa hätte der neue Osten Deutschlands ohne einen einzigen ostdeutschen Fachmann gemanagt werden können, und in vielen Bereichen von Staat und Gesellschaft war die Realität von diesem Maximum so weit nicht entfernt. Sicher war die DDR, die strikt dem Primat der materiellen Produktion gefolgt war, überindustrialisiert, die Betriebe waren überbelegt, und dies bei hoffnungslos niedriger Kapital- und Arbeitsproduktivität. War die „tabula rasa“, die Entindustrialisierung ganzer Regionen mit Massenarbeitslosigkeit in ihrem Gefolge, wirklich unabwendbar? Tatsache ist auf alle Fälle, daß sich viele Menschen der vormaligen DDR überrollt und in ihren Biographien entwertet fühlten. Auf diesem Terrain blühen heute zwei sehr unterschiedliche Pflanzen: die eine riecht nach verlorenen Illusionen, nach Überanpassung an die Ellbogengesellschaft. Die andere nach Trotz und Sehnsucht nach einer verlorenen Wärme, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat.
Hier gärtnert die PDS, dieser kreuzbrave Verein, DDR-nostalgisch an der Basis, altbacken reformistisch in der Führung. Sie muß jetzt für Pastor Hintze den Satan spielen, der die SPD versucht. Aber der Bannstrahl aus dem Bonner Adenauerhaus, der jetzt gegen die angeblich drohende Volksfront SPD-PDS geschleudert wird, verfehlt jede Wirkung. Im Westen interessiert's keinen, im Osten ist der einzige Effekt verstärkte Solidarität mit der Ossi-Heimatpartei.
Das Totgewicht des Immobilismus
DER aus der Vereinigung herrührende Problemdruck verdeckte nur kurze Zeit die hausgemachten westdeutschen Schwierigkeiten. Ihre Rückkehr auf die Tagesordnung war von allgemeiner politischer Regression begleitet. Die CDU/ FDP-Regierung plazierte den Kampf um den industriellen „Standort Deutschland“ ins Zentrum ihrer Strategie. Je fühlsamer die Beschneidung des Kostenfaktors Arbeit, desto einladender das Klima für Investitionen. Mehr Investitionen, mehr Arbeitskräfte, so das simple Credo bis heute. Die Sozialdemokratie antwortete darauf zweistimmig: Lafontaine vertritt die klassische, keynesianisch unternähte Vollbeschäftigungslinie, Schröder will die Arbeitslosen qualifizieren, spielt mit staatlichen Lohnsubventionen und will, in der Hoffnung auf Arbeitsplätze, Zukunftsindustrien fördern. Das war's. Zum demographischen Abwärtstrend fällt den großen Beteiligten im politischen Spiel nichts anderes ein als eine Fortschreibung des geltenden Rentensystems, das den heutigen Erwerbsbiographien ohnehin immer weniger gerecht wird, vor allem aber zunehmend schwer zu finanzieren ist. Auch die ökologischen Standards rutschten im Gefolge der Vereinigung nach unten: Bürgerbeteiligung und Bürgerkontrolle bei Projekten, die die Lebensumwelt der Betroffenen tangieren, sind gesetzlich eingeschränkt worden. Noch regressiver gestaltete sich die politische Programmatik in Sachen Multikulturalismus und Staatsbürgerrecht. Das in der Verfassung garantierte Grundrecht auf Asyl wurde gekippt, die restriktive Einbürgerungspolitik aber blieb. Immer noch bestimmt das Blut, wer Deutscher ist. Immer noch werden Türken selbst der dritten Generation die staatsbürgerlichen Rechte vorenthalten. Mehr noch: CDU und SPD überbieten sich mittlerweile gegenseitig in Zusicherungen, kriminelle Ausländer außer Landes zu schaffen. Da ist die Vorstellung vom gesunden deutschen Volkskörper, den es zu schützen gelte, nicht sehr weit.
Aus dem Problemdruck wird im Wahljahr 1998 der Problemstau. Wobei Problemstau von der Regierungsseite als Reformstau definiert wird. Diese von der CDU geschickt dem Autoverkehr entlehnte Metapher nimmt den Begriff „Reform“, traditionell eine Domäne der Linken, für konservative Projekte in Anspruch, vor allem für eine Steuerreform, die die großen Einkommen begünstigt, ohne der verbreiteten Steuervermeidung ein Ende zu setzen. Diese „Reform“ scheiterte am Bundesrat, wo die SPD-Länder die Mehrheit stellen. Indem die Regierung der Opposition „Blockade“ vorwirft, sucht sie sich nun als zukunftsfrohe, dynamische Kraft zu stilisieren.
Aber drückt auf Deutschland nicht wirklich das Totgewicht des Immobilismus, verteidigen nicht Regierende wie die Mehrheitsklasse der Regierten ihre Besitzstände? Ist das Klima quer durch die gesellschaftlichen Milieus nicht der Innovation, dem Wagemut feindlich gesonnen? Es ist diese Diagnose, die Roman Herzog seit einiger Zeit umtreibt, weshalb er in seiner berühmten „Ruck-Rede“ dazu aufforderte, die psychisch definierte Selbstblockade zu brechen.
Tatsächlich werden die sieben Kardinaltugenden im deutschen Verständnis, nämlich Disziplin, Fleiß, Pflichterfüllung, Zuverlässigkeit, Beharrlichkeit, Ordnungsliebe und technische Perfektion jetzt von Wehklagen aus allen Ecken Deutschlands überschwemmt. Noch immer erwartet man von Lichtgestalten an der Spitze des Staates, daß sie erklären, wo es langgeht, damit wieder im ersehnten Hafen der Sicherheit festgemacht werden kann. Erst Weizsäcker, dann Herzog – noch immer dürsten die Bürger nach Sinnvermittlung von oben herab.
Aber ein Hang zur Autorität bedeutet noch lange nicht, sich die Ohren zu verstopfen. Seit die Massenarbeitslosigkeit chronisch geworden ist, durchzieht die Forderung nach Gerechtigkeit alle Bereiche des öffentlichen Lebens, findet aber keinen konsistenten politischen Ausdruck. Auch die gesellschaftlichen Initiativen der achtziger Jahre suchen heute vergeblich nach einem Fokus, um eine zeitgemäße soziale Bewegung ins Leben zu rufen. Zwischen innovativem Denken in der Gesellschaft und der politischen Elite sind die ohnehin sehr dünnen Fäden gerissen, die Osmose funktioniert nicht mehr. Ideenreiche Minderheiten werden abgestoßen und ausgegrenzt, das Bürgerengagement wird zerrieben. Trotz vielfacher entgegengesetzter Beteuerungen wird alles getan, damit die in Deutschland exotische Pflanze Zivilcourage verdorrt.
Es gehört zu den Vertracktheiten deutscher Politik in diesem Wahlsommer, daß Gerhard Schröder, der mit großer Wahrscheinlichkeit neuer deutscher Bundeskanzler werden wird, trotz seiner aufmunternden Modernitätsrhetorik wenig Anstalten macht, seinerseits den „Problemstau“ aufzulösen. Im Wahlkampf setzt er einen starken Akzent auf die Notwendikeit einer konsensuellen Politik in Fragen der Ökonomie und Ökologie. Darunter versteht er freilich Absprachen im Dreieck zwischen Staat, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, eine Neuauflage des korporativistischen Regierungsstils, der die Schmidt-Regierung in den siebziger Jahren auszeichnete. Also nicht gerade ein innovationsträchtiges Unternehmen.
Ambivalent ist auch Schröders Haltung zur Frage des Staatsbürgerrechtes, von der entscheidend die weitere zivile Entwickung Deutschlands abhängt. Zwar favorisiert die SPD in ihrem Aktionsprogramm die doppelte Staatsbürgerschaft, aber die bisherigen Positionen Schröders lassen kaum hoffen, daß er den Kampf für die Beseitigung des „ius sanguinis“ durchfechten wird. Er ist eben deutscher Sozialdemokrat. Noch weniger verheißungsvoll sind Schröders Haltungen zur europäischen Integration, speziell zur Einführung des Euro. Selbst als seine Partei letztes Jahr auf dem Parteitag in Hannover ein spektakuläres Bekenntnis zur Europa-Vision Jacques Delors' ablegte, blieb Schröder reserviert. Seine Koordinaten decken sich mit der deutschen Staatsgrenze.
Und seine potentiellen Bündnispartner, die Grünen, sind gegenwärtig auf keinem der beiden genannten Schlüsselbereiche der Politik in der Lage, ihn vorwärtszudrängen. Reden wir nicht von den diversen Idiotismen ihres Wahlkampfs, sondern von ihrem objektiven Dilemma. Einerseits verfügen sie nicht über den gesellschaftlichen Rückhalt, um ihr Projekt, den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, an einer zentralen Forderung, der nach der Öko-Steuer, festzumachen und durchzukämpfen. Verwischen sie aber diese Kontur, so fragt man sich zu Recht, warum man sie wählen soll.
Verbal ist sich die politische Elite in Deutschland darin einig, daß jedwedes Reformprojekt im europäischen Rahmen verwirklicht werden muß. Für die Konservativen lösen sich die Schwierigkeiten einer europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik in dem simplen Postulat auf: „Der Euro spricht deutsch“ (Theo Waigel). Den Sozialdemokraten hat Jürgen Habermas kürzlich vor dem Kulturforum der SPD Nachhilfeunterricht erteilt. Er setzte sich mit der Frage auseinander, ob politische Gemeinschaften jenseits der Grenzen der jeweiligen Nationalstaaten eine kollektive Identität ausbilden könnten, wodurch die supranationale Demokratie eine Legitimationsgrundlage erhielte. Habermas' Blick galt natürlich Europa. Seiner Meinung nach gibt es die Chance, daß sich verschiedene vorweggenommene Formen dieser Identität wie in einem Kreisprozeß gegenseitig stützen und stimulieren. Er sprach davon, daß sich die Geschichte Europas durch einen rhythmischen Wechsel von Öffnungen und Schließungen auf erweiterter Grundlage auszeichne. Folgt man dieser These des Philosophen, so stehen wir Deutschen mitten in einer neuen Periode der Öffnung. Unsere politische Elite ist auf dieses Wagnis jedoch schlecht vorbereitet.
Doch Habermas meinte noch eine andere Öffnung, eine der Gesellschaften: nicht nur der europäischen Gesellschaften untereinander, sondern Europas zur Welt hinaus. Wäre das nicht ein Thema, um den Überdruß in dieser öden Wahlzeit niederzukämpfen?
* Journalist in Berlin, früherer Osteuroparedakteur der taz, schreibt heute über Deutschland, Osteuropa und die Perspektiven der Zivilgesellschaft.