11.09.1998

Das Leben in Algerien wird unerträglich

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Das Leben in Algerien wird unerträglich

Von DJILLALI HADJADJ *

MITTEN im Fastenmonat Ramadan, im Januar 1998. Wir sind tief im Bergmassiv von Ouarsenis, östlich von Algier. Ein ergreifender und zugleich unwirklicher Anblick: Vor Anbruch der Nacht kommen die Bewohner von Had Sekkala aus den Bergen, um in den besser gesicherten Ortschaften Schutz zu suchen, am nächsten Morgen werden sie wieder in ihr Dorf hinaufgehen. Mehr als hundert Einwohner von Had Sekkala sind bereits umgebracht worden. In Rélizane wie in Médéa, von der Mitidja-Ebene bis zu den Bergen, haben die Massaker und die allgemeine Unsicherheit eine Fluchtwelle ausgelöst, Tausende mittellose Familien sind unterwegs. Die Behörden tun wenig, um die Not dieser Menschen zu lindern, erst wenn die Unzufriedenheit in Rebellion umzuschlagen droht, dämmt man die Unruhe durch fixe Versprechungen ein – die zumeist nicht eingehalten werden. Der Bürgerkrieg hat den Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften beschleunigt, was nicht nur die „Binnenflüchtlinge“ erfahren müssen, sondern weite Teile der gesamten Bevölkerung.

Betroffen ist auch das Schulwesen, eine der wichtigsten Leistungen Algeriens nach der Unabhängigkeit. Inzwischen funktioniert es als Selektionsinstanz: Jahr für Jahr sinkt die Zahl der Schüler (aller Schulstufen) um etwa 400000, von hundert Kindern im ersten Grundschuljahr erreichen nur neun das Abitur und nur fünf einen Universitätsabschluß; und diese wenigen haben keine Aussicht auf einen angemessenen Arbeitsplatz.1 Der Analphabetismus nimmt bedenklich zu: Mehr als sieben Millionen Algerier können nicht lesen und schreiben, viele Familien schicken angesichts ihres ständig sinkenden Lebensstandards ihre Kinder – und besonders die Mädchen – nicht mehr in die Schule. Die langen Reihen von Kindern auf dem Weg zur Schule, die man früher selbst in entlegenen Dörfern sehen konnte, sind inzwischen viel dünner geworden.

Die Lebensbedingungen verschlechtern sich in einem Tempo, das die schlimmsten Befürchtungen übertrifft. Das Elend ist nicht mehr zu leugnen: Dreißig Jahre lang hatte man keine Bettler gesehen, nun sind sie überall, nicht nur in den großen Städten, sondern selbst in den Dörfern. Die Bürgersteige in den Geschäftsvierteln sind Tag und Nacht von Obdachlosen und Bettlern bevölkert, oft sind es ganze Familien – Flüchtlinge aus Gebieten, wo die öffentliche Ordnung nicht mehr gesichert ist.

Der Niedergang setzte 1986 ein, als der Verfall der Ölpreise die Exporteinnahmen schrumpfen ließ. Kürzungen im Staatshaushalt ließen einige Grundnahrungsmittel knapp werden – bei den meisten Algeriern wuchs die Empörung. Es war kein Zufall, daß 1987 die Vorkämpfer einer „wirtschaftsliberalen Revolution“, wie sie vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank gefordert wurde, mit ihren ersten Sondierungen begannen. Zunächst machten sie eine Bestandsaufnahme, später folgte der Diagnose der Vorschlag einer „Schocktherapie“ zur wirtschaftlichen „Gesundung“: ein Dreijahresplan zur „strukturellen Anpassung“, der 1995 in Kraft trat.

Am 1. Januar 1998 gab es in Algerien, bei einer Gesamtbevölkerung von über 29 Millionen, fast 2,8 Millionen Arbeitslose (2,2 Millionen nach offiziellen Angaben). Das ist auf die Erwerbsbevölkerung bezogen eine Arbeitslosenquote von 30 Prozent, damit ist die Arbeitslosigkeit, nachdem sie dreißig Jahre rückläufig gewesen ist, fast wieder auf dem Stand von 1966 – damals hatte sie 33 Prozent betragen.2 Seit 1995 hatte diese Quote wieder einen Nettoanstieg verzeichnet, was vor allem auf Kosten der Frauen ging, und zwar in einer Zeit, da ihre Stellung auch durch ein neues Familiengesetzbuch geschwächt wurde.

Ein weiterer sichtbarer Ausdruck der sozialen Verwerfungen sind die über 200000 Arbeiter im Baugewerbe, die ab und zu mit Demonstrationen auf ihre Verarmung aufmerksam machen. Die Löhne halten mit der hohen Inflation nicht Schritt: Seit 1990 hat es keine nennenswerte Lohnerhöhung gegeben, zugleich wurden aber die Subventionen für Güter des Massenbedarfs abgebaut, und die nationale Währung erlebte einen schwindelerregenden Kursverfall. Breite Schichten der Bevölkerung mußten deshalb eine deutliche Senkung des Lebensstandards hinnehmen, wobei vor allem die Mittelschicht von der Entwicklung geradezu überrollt wurde.3

Daß man keine Warteschlangen vor den Milchläden mehr sieht, hat seinen Grund darin, daß sich der Milchpreis innerhalb weniger Jahre verzehnfacht hat und viele Kinder ohne Milch auskommen müssen. Die Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung haben sich verschlechtert, die Zahl der Impfungen ist gesunken, auch die Kindersterblichkeit nimmt mit 52 Todesfällen pro 1000 Geburten wieder zu. Durchfall und Infektionskrankheiten der Atemwege, die bis 1989 rückläufig gewesen waren, bleiben die häufigsten Todesursachen.4 Ansteckende Krankheiten, deren Ausbreitung durch Impfungen zu verhindern ist und die bereits besiegt waren – so etwa die Masern und die Diphtherie –, treten wieder auf und haben zahlreiche Opfer gefordert. Während es an Impfstoffen fehlte, importierten die Gesundheitsbehörden Computertomographen für die Universitätskliniken.

Auch die Tuberkulose hat wieder beunruhigend zugenommen.5 Verschlechtert hat sich auch die Qualität der Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern, die nach Rentabilitätskriterien geführt werden, und die allgemeine Korruption hat auch diesen Bereich erobert. Da immer mehr Algerier die Behandlung nicht bezahlen können, geraten vor allem die chronisch Kranken in eine verzweifelte Lage. Zunehmend werden die Erste-Hilfe- Stationen in Anspruch genommen, weil dort die Leistungen weniger kosten. Menschen mit geringem Einkommen können sich nicht einmal mehr die allernötigsten Medikamente leisten. Daß es keine staatliche Arzneimittelpolitik mehr gibt, ermöglicht es einer neuen Mafia, das ehemals staatliche Importmonopol an sich zu bringen. Die allgemeine Lebenserwartung, die früher real angestiegen war, ist wieder gesunken: Sie liegt jetzt bei 67 Jahren (ohne die Massaker einzurechnen, die das Land erlebt).

Parallel zum Niedergang der öffentlichen Gesundheitsversorgung hat sich in diesem Bereich ein privater Sektor entwickelt, dessen Leistungen und Tarife nicht der Kontrolle durch staatliche Behörden unterliegen. Nur eine Minderheit kann sich solche Dienste kaufen. Im Bereich der Sozialversicherung zeigen sich ähnlich gravierende Fehlentwicklungen. Der Nationale Wirtschafts- und Sozialrat (CNES) stellt in seinem jüngsten Bericht fest, daß „der Rückgang der Beitragszahler, der sich aus dem Stellenabbau in den Betrieben und dem Mangel an neugeschaffenen Arbeitsplätzen ergibt, die Zahlungsprobleme der Sozialkassen verschärft und sogar den Fortbestand des Systems in Frage stellt, das sich in einer ernsten finanziellen Krise befindet“6 .

Bereits 1988 hatte die Weltbank angeregt, die Bemessungsgrundlagen für die Sozialversicherung nach unten zu korrigieren.7 Die Geldgeber in Washington setzten Algerien unter Druck, ein Sozialversicherungssystem der „drei Geschwindigkeiten“ einzuführen: erstens einen „garantierten Mindestlohn für alle Berufe“, der allen Einzahlern die Mindestrente zum Überleben sichern sollte, zweitens eine (kapitalisierte) Zusatzversicherung, verwaltet von einer halbstaatlichen Einrichtung, und drittens einen lizenzierten Markt für private Sozialversicherer, deren Leistungen nur für die wohlhabenden Schichten in Frage kamen.

Gibt es ein Potential für Widerstand?

DIE ersten Auswirkungen dieser Reform zeigten sich bei den Renten der Lohnabhängigen. Seit einem Jahr hat der Rentenfonds große Schwierigkeiten, einer Million seiner Beitragszahler das Ruhestandsgehalt auszuzahlen – obwohl die Hälfte von ihnen nur Anspruch auf die gesetzliche Mindestrente von 4000 Dinar (130 Mark) hat. Nur dem militanten Auftreten des Nationalen Verbands der Arbeiter im Ruhestand ist es zu verdanken, daß ihre Rentenkasse nicht bereits 1997 dichtgemacht hat. Aber der Kreis der Hilfsbedürftigen hat sich erweitert, was an dem Zulauf abzulesen war, den im Fastenmonat Ramadan die „Volksküchen“ (die sogenannten „Herbergen des Herzens“) fanden.

Nach Angaben des CNES leben eine Million Algerier, die ohne Arbeit und eigenes Einkommen sind, von Sozialleistungen, wobei 80 Prozent von ihnen eine Familie zu versorgen haben. Sie beziehen entweder Arbeitslosengeld (1000 Dinar im Monat, also etwas über 30 Mark), oder aber, wenn sie weitere Ansprüche haben, eine staatliche Sozialhilfe, von der man nicht leben kann und die oft auch noch mit großer Verzögerung ausgezahlt wird. 1998 lebten zehn Millionen Algerier (40 Prozent der Bevölkerung) unterhalb der Armutsgrenze.8 Auch die Wohnverhältnisse sind äußerst problematisch. Offiziell ist jede Wohnung mit durchschnittlich 7,4 Personen belegt, eine der höchsten Quoten weltweit, auf die man überdies nur kommt, wen man die jährlich geplanten 300000 neuen Wohnungen zugrunde legt – von denen tatsächlich höchstens 80000 gebaut werden.9

Die Krise beeinträchtigt auch Lebensqualität und Umweltbedingungen. Daß immer weniger für die Instandhaltung der Sanitärsysteme getan wurde, hat zur Ausbreitung von Seuchen und Krankheiten beigetragen, die über das Trinkwasser übertragen werden. Typhusfälle sind bereits vorgekommen, und selbst Cholera muß befürchtet werden. Unzureichende Wasserspeicher sind der Grund für die Rationierung des Trinkwassers (oft fließt es nur jeden dritten Tag aus den Leitungen), die vor allem für die Ärmsten eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen bedeutet.

In der Arbeitswelt hat der Widerstand merklich nachgelassen.10 Das liegt an den kontinuierlich sinkenden Beschäftigungszahlen, aber auch an der Erstarrung des Gewerkschaftsapparats, der unter Bedingungen der Unterdrückung und Isolierung arbeiten muß und zu Teilen schlicht bestechlich ist. Vor allem die Führung der größten Gewerkschaft, der Union Générale des Travailleurs Algériens (UGTA), ist inzwischen von den Machthabern vereinnahmt: Leitende Funktionäre haben sich einen Platz in den „gewählten“ Institutionen verschafft, also in den beiden Kammern des Parlaments oder in regionalen Gremien. Das in der neuen Verfassung verankerte Recht auf Gründung neuer Gewerkschaften wurde bislang kaum in Anspruch genommen.

Seit einigen Monaten gibt es Anzeichen dafür, daß die Empörung der Bürger den Bannkreis von Angst und Gewalt durchbrechen könnte. Trotz staatlicher Unterdrückung gibt es immer wieder Streiks, Kundgebungen, Proteste und andere Formen des Widerstands, wobei jugendliche Arbeitslose zusammen mit ihren Eltern demonstrieren, die ebenfalls arbeitslos geworden sind.

Im April 1998 hat der CNES (den Staatspräsident Liamine Zéroual wegen der bedrohlichen Ausmaße der Arbeitslosigkeit konsultierte) eine beängstigende Bilanz gezogen: „Die Verschlechterung der Lebensbedingungen und die Verarmung großer Teile der Bevölkerung sind alarmierende Hinweise auf gesellschaftliche Friktionen, die den nationalen Zusammenhalt bedrohen könnten.“11 Aber die Machthaber, die sich auf ihr Devisenpolster so viel zugute hielten, scheinen nicht zu begreifen, was die Stunde geschlagen hat. Wenn der Ölpreis weiter fallen sollte, könnte es ohne weiteres zu Hungerrevolten kommen. Wenn die Einnahmenverluste Algeriens die 2-Milliarden-Dollar-Grenze übersteigen, wäre die Summe erreicht, die man jährlich für Lebensmitteleinfuhren ausgeben muß.

dt. Edgar Peinelt

* Journalist

Fußnoten: 1 Siehe „La politique nationale en matière de population“, Conseil national économique et social (Nationaler Wirtschafts- und Sozialrat – CNES), Algier, August 1996. 2 Nach Ermittlungen des Nationalen Amts für Statistik (ONS) auf der Basis einer Umfrage von 1995 über die Höhe der Lebensstandards, ONS Nr. 226, 1996. 3 1997 hat sich die Inflation merklich abgeschwächt, ohne daß dies zur Belebung des Konsums geführt hätte. 4 Epidemologischer Monatsbericht des Nationalen Instituts für das Gesundheitswesen, Nr. 8, September/ Oktober 1996. 5 „Constat et perspectives“, Cenre national d'études et analyses en planification, Algier, Januar 1997. 6 „Conjoncture du second semestre 1997“, CNES, April 1998. 7 „Le système des soins de santé en Algerie“, Weltbank-Report, Washington, März 1988. 8 Geschätzt auf der Grundlage einer vergleichenden Interpretation verschiedener Statistiken des Sozialministeriums. 9 „Les conditions de logement en Algérie en 1995“, ONS, Nr. 224, August 1996. 10 Nach Angaben im Jahresbericht der Aufsichtsbehörde (Inspection générale du travail) ist die Zahl der Streiks von 1996 auf 1997 um 66 Prozent zurückgegangen. 11 „Conjoncture du second semestre 1997“, CNES, April 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.09.1998, von DJILLALI HADJADJ