11.09.1998

Weder Krieg noch Frieden in Bosnien

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Weder Krieg noch Frieden in Bosnien

FÜR die Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) haben die Kämpfe dieses Sommers eine klare Niederlage gebracht. Die serbischen Truppen kontrollieren wieder weite Teile der Provinz, die zu 90 Prozent von Albanern bewohnt ist. Neben dem militärischen Sieg kann Slobodan Milošević auch einen politischen Sieg verbuchen: Sanktionen der Europäer oder der internationalen Gemeinschaft sind ausgeblieben. Doch die unerbittliche serbische Repression hat die Mehrheit der Albaner radikalisiert. Inzwischen sind mehr als 200000 Menschen entwurzelt. Hunger, Durst und die serbische Politik der verbrannte Erde haben etwa 70000 Flüchtlinge über die Grenzen getrieben, unter anderem nach Makedonien, wo eine weitere Destabilisierung dieser Republik mit ihrer unruhigen albanischen Minderheit droht. Auch die Entwicklung in Bosnien ist wenig ermutigend: die Dayton-Abkommen haben die Probleme, die dem Aufbau eines multiethnischen Bosnien im Wege stehen, nicht gelöst. Auch nicht das dringlichste: Noch immer wollen oder können die Flüchtlinge nicht in ihre Häuser zurück.

Von unserem Korrespondenten THOMAS HOFNUNG *

Das kleine Café inmitten der Ruinen von Stari Rasadnik, einem Vorort von Brčko im Nordosten Bosnien-Herzegowinas, hat diesen Namen kaum verdient: ein Kühlschrank für das Bier, drei Tische unter einer Plane und einige spärliche „Kunden“, Serben und Muslime, die das Schicksal gemeinsam haben, daß sie Flüchtlinge sind: Serben, die im März 1996 Sarajevo verlassen haben, als die Hauptstadt unter der Regierung von Alija Izetbegović wiedervereinigt wurde, und Muslime, die zu Kriegsbeginn von serbischen Extremisten aus Brčko vertrieben wurden und erst allmählich wieder zurückkehren. Nun sitzen sie an diesem schattigen Plätzchen beieinander und unterhalten sich. Ein Bild, das man sich noch vor einem Jahr nicht vorstellen konnte.

Das an der Save gelegene Brčko mit seinem Hafen war zu Kriegsbeginn von den bosnischen Serben erobert worden und ist für sie lebenswichtig, weil es die beiden Teile der Republika Srpska (RS) miteinander verbindet und somit den territorialen Zusammenhalt gewährleistet. Die Stadt wird aber auch von Sarajevo beansprucht, und zwar mit dem Argument, daß die Mehrheit der Vorkriegsbevölkerung Muslime waren. Nachdem beide Seiten bei den Friedensverhandlungen in Dayton jeden Kompromiß abgelehnt hatten, wurde eine internationale ad hoc-Schiedskommission gebildet, die (spätestens bis zum 15. Januar 1999) eine Entscheidung über den Status der Stadt treffen soll. Bis zu diesem Datum hat man Brčko den Serben überlassen, die Stadt aber gleichzeitig der Kontrolle eines internationalen Verwalters, des US-Amerikaners Robert Farrand, unterstellt.

Farrand ist der eigentliche starke Mann in der Stadt – neben dem Spanier Carlos Westendorp, der als Hoher Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft für Bosnien-Herzegowina1 eine ständig wachsende Machtposition in diesem Land innehat, das nur langsam wieder auf die Beine kommt. Farrand wie Westendorp sind befugt, Lokalpolitiker abzuberufen, die sich der Zusammenarbeit widersetzen. Farrand betreibt ein ehrgeiziges Befriedungsprogramm, das er seit einem Jahr umzusetzen versucht. Demzufolge sollen Polizei, Gerichte, Gemeindeversammlung und Verwaltung – die vier Stützen der Gesellschaft – gemeinsam den Wiederaufbau eines multiethnischen Brčko vorantreiben.

Aufgrund von Wahlmanipulationen, die im Westen kaum zur Kenntnis genommen wurden, gingen die Serben im September 1997 als stärkste Kraft aus den Kommunalwahlen hervor. Trotz des fragwürdigen Wahlergebnisses kam eine aus allen drei Volksgruppen zusammengesetzte Gemeindevertretung zustande. Auch die Gerichte und die Polizei sind seit einigen Monaten nach einem genauen ethnischen Proporz zusammengesetzt: 52 Prozent Serben, 39 Prozent Muslime und 9 Prozent Kroaten. „Nur in der Verwaltung gibt es noch Probleme“, verkündet mit Genugtuung Edward Joseph, Vertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Im Zentrum der Bemühungen steht die Rückkehr der kroatischen und muslimischen Flüchtlinge. In den letzten eineinhalb Jahren haben sich rund 3000 Flüchtlinge auf serbischem Territorium am Stadtrand neu angesiedelt. Verglichen mit den gescheiterten Wiedereingliederungsversuchen, die das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) an anderen Orten der Serbischen Republik registriert hat, ist dies ein echter Erfolg. Weniger begeistert ist Perida Drijo, die Vorsitzende einer muslimischen Vereinigung in Stari Rasadnik: „Niemand von uns hat bisher Arbeit gefunden. Und wir haben immer noch Angst, ins Zentrum von Brčko zu fahren.“ Im übrigen zieht sie es vor, ihre Kinder jenseits der Demarkationslinie in der Bosniakisch-kroatischen Föderation in die Schule zu schicken, auch wenn sie dafür 18 Kilometer fahren müssen.

Brčko kann ohne Übertreibung als Spiegel für Bosnien gelten. Als im Dezember 1995 in Paris die Friedensabkommen unterzeichnet wurden, die man in Dayton ausgehandelt hatte, machten die westlichen Schutzherren des Vertragswerkes zwangsläufig auf Optimismus (oder Naivität, wie einige meinten). Die bosnische Frage, so hieß es, werde in ein paar Monaten geregelt sein. Unter dem Druck der Vereinigten Staaten hatte der Generalstab der Nordatlantischen Allianz (Nato) eingewilligt, die Präsenz der Nato- Truppen in Bosnien um ein weiteres Jahr zu verlängern. Die ersten „freien und demokratischen“ Wahlen, die im September 1996 abgehalten wurden, sollten der Auftakt zu einem geordneten Rückzug der 60000 Soldaten der Ifor (Implementation Force) sein.

Wenn sich die Bosnier zwei Jahre später, am 12. und 13. September 1998, im Rahmen allgemeiner Wahlen2 erneut zu den Urnen begeben werden, sind die Nato- Truppen noch immer im Land. In einer Atmosphäre allgemeiner Gleichgültigkeit hat die SFOR (Stabilization Force) mit ihren annähernd 30000 Soldaten ihr Mandat verlängert, wobei erstmals kein Abzugsdatum festgelegt wurde.

Daß der Rückzug der ausländischen Truppen nicht mehr auf der Tagesordnung steht, heißt nicht, daß man ein neuerliches Aufflammen des Krieges befürchtet. Niemand in Bosnien-Herzegowina glaubt heute noch an erneute Feindseligkeiten. Der militärische Teil des Friedensabkommens war in der Tat von Erfolg gekrönt. Im zivilen Bereich ist das Scheitern dagegen offensichtlich. Hunderttausende Flüchtlinge, die mit vollem Recht um ihre Sicherheit besorgt sind, weigern sich zurückzukehren oder werden direkt daran gehindert. Eine Versöhnung zwischen den drei Volksgruppen (Bosniaken, Kroaten und Serben), die sich dreieinhalb Jahre lang erbittert bekämpft haben, scheint mehr denn je unmöglich. In Bosnien ist die Trennung nach ethnischen Kriterien nach wie vor die Regel. Und die Wahl wird an diesem Zustand, der weder Krieg noch Frieden ist, aller Voraussicht nach nichts ändern.

Wie schon 1996 dürften auch bei den jetzigen Wahlen vor allem die nationalistischen Kräfte der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) und der Demokratischen Aktionspartei (SDA, muslimisch) ihre Vorherrschaft im Land bestätigt sehen; die Serbische Demokratische Partei (SDS) verliert dagegen an Einfluß. An dieser Tatsache kann auch der Westen nichts ändern, trotz offener und sogar finanzieller Unterstützung für diejenigen Bewegungen und Politiker, die bereit sind, das Dayton-Abkommen umzusetzen. Die pax americana hat versagt, doch die internationale Staatengemeinschaft scheint gelähmt und unfähig, neue Lösungen zur Umstrukturierung einer Gesellschaft anzubieten, die während des Krieges buchstäblich implodiert ist. Ein Szenario „à la Zypern“ zeichnet sich ab. „Wenn wir in derselben Richtung weitermachen, sind wir in dreißig Jahren noch immer hier“, versichert Christopher Bennett, Leiter des think tanks International Crisis Group (ICG).

An den politischen Gegebenheiten, die seit dem Dayton-Abkommen herrschen, werden die Wahlen nichts grundlegend ändern. Dennoch könnten sie einen Schritt auf dem Weg zur Normalisierung darstellen. Das Schreckgespenst eines Krieges, das noch bis vor einem Jahr im Raum stand, hat sich verflüchtigt. Und auch die hartnäckigen Gerüchte über eine unmittelbar bevorstehende Offensive der Sarajevo unterstellten Armija – die vom Pentagon im Namen der Wiederherstellung des strategischen Gleichgewichts der lokalen Kräfte ausgerüstet und trainiert wird3 – sind aus der bosnischen Presse verschwunden.

Wenn Panzer zu Verkehrsstaus führen

DER von der SFOR überwachte Waffenstillstand verwandelt sich somit schrittweise in einen dauerhaften Frieden. Die Armeen der drei Konfliktparteien wurden voneinander getrennt und zum Teil demobilisiert. Der Auftrag der Nato- Soldaten beschränkt sich mittlerweile auf Routinekontrollen in den Kasernen. Immer häufiger sind sie aber auch für die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig, wenn es bei der Rückkehr von Flüchtlingen zu gewalttätigen Kundgebungen kommt, wie im April im kroatisch kontrollierten Drvar4 im Westen des Landes. Im übrigen wirkt die Präsenz der Panzer in den Straßen von Sarajevo zunehmend unangebracht. Die Einwohner der Hauptstadt machen sie vor allem für Verkehrsstaus im Zentrum verantwortlich, sofern sie nicht mit Gleichgültigkeit reagieren.

Seit über einem Jahr hat sich die SFOR eine zusätzliche Aufgabe gestellt: die Festnahme mutmaßlicher Kriegsverbrecher, die vor dem Internationalen Tribunal für Verbrechen im früheren Jugoslawien (ITCY) in Den Haag angeklagt sind. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen hatte es der Nato-Stab lange abgelehnt, aktiv zu werden.5 Doch seit im Juli 1997 in einer ersten Kommandoaktion britische Soldaten in Prijedor im Nordwesten des Landes zwei verdächtigte bosnische Serben festnahmen, ist es vorbei mit der völligen Straffreiheit, die bis dahin für die Verantwortlichen von Greueltaten gegolten hatte. Unmittelbar danach führte die SFOR mehrere weitere Operationen dieser Art durch und brachte damit auch andere Angeklagte dazu, sich freiwillig der internationalen Gerichtsbarkeit zu stellen.6 Die zwei Hauptverantwortlichen für die „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien-Herzegowina, die bosnischen Serben Radovan Karadžić und Ratko Mladić, befinden sich jedoch noch immer auf freiem Fuß. Laut amerikanischen Pressemeldungen sollen die USA letztes Frühjahr beschlossen haben, sich nicht mehr weiter um ihre Verhaftung zu bemühen.

Es ist allerdings äußerst fraglich, inwieweit man die weit verbreitete Angst überwinden und die Versöhnung zwischen den drei Volksgruppen vorantreiben kann, indem man mutmaßliche Verbrecher unschädlich macht und vor Gericht stellt. Die Dayton-Abkommen haben dadurch, daß sie den Status quo des Kriegsendes zur Grundlage nahmen, die Ergebnisse der „ethnischen Säuberungen“ festgeschrieben. Die beiden auf ethnischer Grundlage errichteten Gebietseinheiten Bosnien-Herzegowinas – die Bosniakisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska – sind durch einen entmilitarisierten Streifen voneinander getrennt. Beiderseits dieses Streifens, der lange Zeit ein unüberwindbares Hindernis darstellte, dominiert noch immer die Angst vor dem jeweils anderen und verhindert den Handel, der doch gerade für eine neuerliche Vertrauensbildung unabdingbar wäre.

Seit Frühjahr 1998 bekommt die unsichtbare Mauer erste Risse. Der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft hat die drei Volksgruppen gezwungen, ein gemeinsames Autokennzeichen einzuführen. Bis dahin konnte man von den Nummernschildern auf die ethnische Zugehörigkeit des jeweiligen Besitzers schließen (eine Lilie für die Bosniaken, rot-weiße Schachbrettmuster für die Kroaten und die jugoslawische Fahne für die Serben). Dadurch wurde jede Fahrt in das Gebiet der ehemaligen Gegner zu einem gefährlichen Unternehmen.

Entgegen allen Erwartungen haben sehr viele Bosnier spontan auf diese Symbole ethnischer Zugehörigkeit verzichtet, wobei allerdings die internationale Staatengemeinschaft deutlich nachhalf: Fahrzeuge mit alten Nummernschildern dürfen das Land nicht mehr verlassen. Die Einwohner Sarajevos und Mostars, die nach Jahren des Verzichts in diesem Sommer erstmals wieder ihre Ferien an der kroatischen Adria verbringen wollten, akzeptierten die neuen Schilder ebenso rasch wie die Menschen aus Banja Luka (RS), die auf dem direktesten Weg (nämlich durch die Bosniakisch-kroatische Föderation) an die montenegrinische Küste fahren wollten.

Die Minderheiten sind rechtloser als je zuvor

DIE wiedergewonnene Bewegungsfreiheit ist eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Voraussetzung für die Rückkehr der Flüchtlinge. Zur Zeit befindet sich dieses entscheidende Thema des Friedensabkommens (Anhang VII)7 an einem toten Punkt. Von den rund 2,1 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, die zu Kriegsende gezählt wurden (rund die Hälfte der bosnischen Vorkriegsbevölkerung), „warten“ 1,4 Millionen „noch auf eine Lösung“, wie es das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) verschämt nennt. „Alle Menschen, die aus Gegenden geflohen sind, in denen die eigene Volksgruppe nach wie vor die Mehrheit darstellt, sind zurückgekehrt“, erklärt Ariane Quentier, Sprecherin des UNHCR in Sarajevo. „Die restlichen 90 Prozent sind jene, die eigentlich in eine Gegend zurückkehren müßten, wo sie zur Minderheit gehören würden.“ Und das wagen die meisten immer noch nicht. Denn wer heute in Bosnien zur Minderheit zählt, ist rechtloser denn je zuvor.

Deshalb sind die Serben genausowenig in die Vororte Sarajevos zurückgekehrt wie die Muslime nach Srebrenica. In Mostar leben Bosniaken und Kroaten in Angst und igeln sich in ihren jeweiligen Stadtteilen ein. In den nagelneuen Räumen des bosnischen Fernsehens in Mostar gibt sich Alija Behram, der Direktor des Senders, dennoch zuversichtlich: „Die Zusammenstöße zwischen den Volksgruppen werden weniger, und die Jugendlichen beider Seiten haben wieder gemeinsame Treffpunkte.“ Das mag stimmen, doch die Atmosphäre bleibt gespannt, und manchmal genügt ein kleiner Anlaß, um die Gemüter zu erhitzen. So feuerten Anfang Juli Fußballfans, die den WM-Sieg der kroatischen Mannschaft gegen die Deutschen „feierten“, Schüsse in Richtung des muslimischen Stadtteils, durch die zwei Menschen getötet wurden.

Seit Kriegsende hat das UNHCR ohne sichtbaren Erfolg versucht, Flüchtlinge und Vertriebene auch dort wieder anzusiedeln, wo sie in der Minderheit wären. Die meisten dieser Versuche endeten mit mehr oder weniger schweren Zwischenfällen; schuld sind zumeist die lokalen Behörden, die sich der Rückkehr einer dem „feindlichen Lager“ zugerechneten Bevölkerung heftig widersetzen. Um die Nationalisten zurückzudrängen, hat das UNHCR seit über einem Jahr das originelle Konzept der „offenen Städte“ eingeführt: Gemeinden, die aktiv die Rückkehr von Flüchtlingen ermöglichen, erhalten diese begehrte Auszeichnung und kommen damit in den Genuß beträchtlicher finanzieller Hilfsgelder durch die internationale Gemeinschaft. Die bisher zwölf Städte (acht in der Bosniakisch-kroatischen Föderation und vier in der Republika Srpska), die zur Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen bereit waren, haben insgesamt rund 60 Millionen Dollar erhalten. Das Ergebnis ist allerdings eher enttäuschend. Im ersten Halbjahr 1998 konnten nur rund 13000 Menschen wiederangesiedelt werden. Bei diesem Tempo würde die Rückkehr aller Flüchtlinge über fünfzig Jahre dauern.

Ein verkapptes Protektorat

DOCH das Haupthindernis für die Rückkehr der Flüchtlinge ist politischer Natur. In diesem Jahr hat das UNHCR in Sarajevo und Banja Luka, wo die Behörden sich zur Zusammenarbeit bereit erklärt haben, zwei internationale Konferenzen abgehalten. Bezüglich der bosnischen Hauptstadt, dem ehemaligen Symbol der Multiethnizität, haben sich die Vereinten Nationen das Ziel gesetzt, in diesem Jahr 20000 Flüchtlinge zurückzuführen. Bis Juli 1998 sind jedoch erst 700 Menschen in die Hauptstadt zurückgekehrt.

Für Srdzan Dizdarević, den Vorsitzenden des Helsinki-Komitees in Sarajevo, „müßten alle Städte des Landes offen werden, und nicht nur zwölf“. Doch wie soll das gehen? Schließlich war das erklärte Ziel der serbischen und kroatischen Nationalisten während des Krieges in Bosnien- Herzegowina ja gerade die Errichtung „ethnisch reiner“ Gebiete.

Solange in Bosnien die Personen am Ruder bleiben, die gerade durch die Zersplitterung Jugoslawiens an die Macht gekommen sind, bleibt die Wiederherstellung der Multiethnizität illusorisch. Deshalb liegt das Hauptaugenmerk der internationalen Staatengemeinschaft trotz anderslautender Beteuerungen zur Zeit nicht auf der Rückkehr möglichst vieler Flüchtlinge, sondern auf der Stabilisierung der politischen Errungenschaften, die bislang alles andere als gesichert sind.

Die Wahlen vom September 1996 hatten wie erwartet die Legitimität der nationalistischen Führungen untermauert; damals konnten sich SDS, HDZ und SDA problemlos gegen ihre desorganisierten Gegner durchsetzen. Heute, zwei Jahre später, hat sich die Lage ein wenig gewandelt, und paradoxerweise ist der Wahlausgang gerade in der Serbischen Republik am wenigsten eindeutig.

Mit aktiver Unterstützung der internationalen Gemeinschaft haben seit letztem Winter die „Gemäßigten“ im serbischen Teil die Zügel in die Hand genommen. Die Präsidentin Biljana Plavšić und vor allem ihr sozialdemokratischer Ministerpräsident Milorad Dodik bekunden offen, daß sie konsequent zum Dayton-Abkommen stehen. Doch ihr Spielraum ist äußerst begrenzt. Nachdem die Präsidentin voriges Jahr das Parlament der Republik Srpska aufgelöst hatte, erreichte sie bei den darauffolgenden Neuwahlen im November nur dadurch knapp die Mehrheit, daß sie mit den fünfzehn Abgeordneten der Sozialistischen Partei von Zivko Radisić (SPRS, die Schwesterpartei von Slobodan Milošević' SPS) und vor allem mit den achtzehn nichtserbischen, mehrheitlich muslimischen Abgeordneten ein Bündnis einging. „Ein Verrat an der serbischen Sache“ lautet der plakative Vorwurf ihrer Gegner – sowohl des SDS als auch der noch radikaleren Serbenpartei SRS.

Diese Scharfmacher nutzen die derzeitige Kosovokrise schamlos aus, um wieder an die Macht zu gelangen. „Wenn die Nato Jugoslawien bombardiert, können wir nicht tatenlos zusehen“, warnt Dragan Ćavić, Spitzenkandidat der SDS für die Parlamentswahlen. Der vierzigjährige Politiker ist eines der neuen Gesichter in der (lange Zeit von Radovan Karadžić geführten) Partei; sie wurden zunehmend in den Vordergrund geschoben, während eine Reihe anderer Personen nicht zuletzt wegen ihrer Verstrickung in diverse Korruptionsaffären diskret in den Hintergrund gedrängt wurden.

Am Glaubensbekenntnis der SDS hat sich gleichwohl nichts geändert. „Wir werden jedem Versuch der Wiedervereinigung Bosniens entgegentreten“, erklärt Dragan Ćavić. „Die internationale Gemeinschaft versucht über ihren Mittelsmann Milorad Dodik die Souveränität unserer territorialen Einheit einzuschränken. Das ist eine Verletzung der Friedensabkommen.“ Über die Rückkehr der nichtserbischen Flüchtlinge befragt, verweist Ćavić, dessen Partei sich selbst aktiv an den „ethnischen Säuberungen“ beteiligt hat, auf „das Recht jedes Menschen, zu leben, wo er will“; doch dann fügt er hinzu: „Man sollte die Menschen nicht zur Rückkehr zwingen.“

Angesichts des näherrückenden Wahltermins schlagen auch die Anhänger des Sozialdemokraten Milorad Dodik einen härteren Ton an, denn sie befürchten, die Kosovo-Krise könnte bei den Wählern – im Verein mit der nach wie vor schwierigen Wirtschaftslage – einen Meinungsumschwung bewirken. Dabei hat die internationale Gemeinschaft zu ihrer Unterstützung beträchtliche Summen zur Verfügung gestellt: Die EU überwies kürzlich 27 Millionen Mark, um die Löhne der Staatsbediensteten auszahlen zu können. Im Mai 1998 beschloß die vierte Geberkonferenz in Brüssel eine Hilfe für Bosnien in Höhe von 1,25 Milliarden Dollar, von denen knapp ein Drittel für den serbischen Teil vorgesehen sind.

Doch konkrete Ergebnisse lassen bislang noch auf sich warten. In Banja Luka hat sich die Stimmung dem äußeren Anschein nach verändert. Im Stadtzentrum ist eine gewisse Betriebsamkeit zu spüren. An den Kiosken scharen sich Neugierige um Produkte, die dank der Wiederaufnahme der Verkehrsverbindungen aus dem benachbarten Kroatien importiert werden. Auf dem Flughafen landen Flugzeuge aus Serbien, aber auch aus Österreich und Deutschland. Doch diese Geschäftigkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Fabriken nach wie vor geschlossen sind und die Jugendlichen keine Aussicht auf einen Beruf haben. Ihre einzige Hoffnung ist, das Land zu verlassen. Angesichts dieser schwierigen Situation hütet sich die Regierung von Milorad Dodik in stillem Einverständnis mit dem Westen, die Rückkehr der Flüchtlinge in die Serbische Republik zu beschleunigen.

Ein Sieg der serbischen Nationalisten würde die Bemühungen der Völkergemeinschaft völlig zunichte machen. Denn die politische Lage in der Bosniakisch- kroatischen Föderation ist im besten Falle festgefahren. Angesichts der Gefahr, daß diese Föderation implodiert, hat sich die SDA dazu durchgerungen, die internen Streitereien zwischen den Anhängern eines multiethnischen Bosnien und denen eines muslimischen Staates beizulegen und ihren Patriarchen, den 73jährigen Alija Izetbegović, erneut als Kandidaten für das gemeinsame Staatspräsidium aufzustellen. Die sozialdemokratische Opposition vermochte sich nicht gegen ihn zusammenzuschließen und läuft nun Gefahr, erneut überrollt zu werden.

Im kroatischen Lager zeigen sich im Block der HDZ die ersten Risse. Krešimir Žubak, der kroatische Repräsentant im Staatspräsidium, hat mit der Neuen Kroatischen Initiative seine eigene Bewegung gegründet. Ungeachtet des Drucks aus Zagreb hat der schüchterne Jurist beschlossen, sich auf eigene Füße zu stellen. Der aus der Posavina, einer vor dem Krieg mehrheitlich kroatisch bewohnten Region im Norden des Landes, stammende Žubak wirft der HDZ vor, die Kroaten in Zentralbosnien zugunsten der an Kroatien angrenzenden Herzegowina zu opfern. Seine Rebellion erweckt bei Diplomaten und Anhängern eines multiethnischen Bosnien große Hoffnungen. Doch da seine Partei keine größeren Verbündeten hat und die HDZ in der Herzegowina allmächtig ist, stehen die Aussichten für diesen „kroatischen Dodik“ schlecht. Srdzan Dizdarević äußert sich dennoch positiv zu den Wahlen: „Sie haben einen demokratisierenden Effekt, 1996 erhielt die Opposition fast 20 Prozent der Stimmen. Dieses Mal dürfte sie auf 30 bis 40 Prozent kommen.“

Der zu erwartende Sieg der nationalistischen Parteien in der Bosniakisch-kroatischen Föderation und die Tatsache, daß trotz aller Absichtserklärungen konkrete Schritte der „Gemäßigten“ in der Serbischen Republik ausgeblieben sind, lassen für die Flüchtlinge nichts Gutes erwarten. Nur wenn die internationale Gemeinschaft auch nach den Wahlen ihre Bemühungen und ihren Druck fortsetzt, wird eine Zusammenarbeit der verschiedenen Seiten möglich sein. Bisher haben die aus den letzten Wahlen 1996 hervorgegangenen gemeinsamen Instanzen nicht gegriffen. Kroaten und Bosniaken gelingt es nicht, sich im Rahmen der föderativen Strukturen zu einigen, und den Serben geht es vor allem darum, ihr Gebiet zu konsolidieren, das sie mit Waffengewalt erobert haben. Die einzigen realen Fortschritte wurden von der internationalen Gemeinschaft erzwungen.

Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, hat der Westen die Rolle des Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina beträchtlich aufgewertet. Seit der Konferenz von Bonn im Dezember 1997 darf dieser „bindende Interimsentscheidungen“ fällen und „provisorische Maßnahmen“ ergreifen. Carlos Westendorp hat diese neuen Rechte umgehend genutzt und neben den gemeinsamen Nummernschildern auch einen einheitlichen Paß, eine Einheitswährung (die an die Deutsche Mark gebundene „konvertibilna marka“, KM), ein Staatsbürgerschaftsgesetz und eine neue Fahne durchgesetzt, wobei man letztere höchstens in Sarajevo gehißt sieht.

Der Hohe Repräsentant ist auch berechtigt, „demokratisch“ gewählte Abgeordnete abzusetzen, wenn es zu Zwischenfällen kommt. In Stolac und in Drvar hat er von diesem Recht tatsächlich Gebrauch gemacht: In den beiden kroatisch kontrollierten Städten war es im Zuge der Rückkehr von Flüchtlingen aus Minderheiten- Volksgruppen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen. Einer der 127 internationalen Mitarbeiter von Carlos Westendorp, dessen Büro in Sarajevo nur wenige Schritte vom Sitz des bosnischen Präsidenten entfernt liegt, gesteht: „Wir verwandeln uns zunehmend in eine Art verkapptes Protektorat.“

Dieses Protektorat mangels einer bessere Lösung zeitigt bereits jetzt absurde Nebeneffekte. Viele Lokalpolitiker tendieren dazu, gar nicht mehr nach Kompromissen zu suchen, da sie wissen, daß der Hohe Repräsentant in letzter Instanz entscheiden wird. Im übrigen besteht die Gefahr, daß die von der internationalen Gemeinschaft geschaffene Rechtsprechung von der Bevölkerung als künstlich aufgepfropft empfunden wird. Ob sie einen übereilten Rückzug der Europäer überleben würde, ist sehr fraglich.

Auf jeden Fall kann nur ein langfristiges Engagement der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina einen Erfolg bringen, das heißt ihr Bemühen um ein schrittweises Zurückdrängen der Hardliner aller Lager, ihre Unterstützung einer glaubwürdigen Opposition, ihre finanziellen Mittel für den Wiederaufbau des zerstörten Landes sowie ihre Soldaten, die den Frieden sichern. Darin liegt die enorme Herausforderung für die Völkergemeinschaft, sofern sie sich weiterhin an den Rahmen des Dayton-Abkommens halten will, dessen inhärente Widersprüche (die Wiederherstellung der Multiethnizität im Rahmen von zwei Gebietseinheiten, die auf ethnischer Grundlage entstanden sind) allerdings eine zunehmend gewichtige Hypothek darstellen.

Die Bosnier stimmen unterdessen mit den Füßen ab. Jahr für Jahr verlassen rund 50000 Personen das Land, um in Skandinavien, Australien, Kanada oder den USA eine neue Existenz aufzubauen.

dt. Birgit Althaler

* Journalist, 1996 und 1997 Korrespondent zunächst in Zagreb, dann in Sarajevo.

Fußnoten: 1 Der Hohe Repräsentant wird vom Lenkungsausschuß zur Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton ernannt, dem Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Rußland, Großbritannien, die Vereinigten Staaten, das Land mit dem EU-Vorsitz, die EU-Kommission und die Organisation der Islamischen Konferenz angehören; die Nominierung wird vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bestätigt. Die Nominierung von Carlos Westendorp wurde am 12. Juni 1997 ratifiziert. 2 Zwei Millionen Wähler in Bosnien-Herzegowina und 500000 Flüchtlinge im Ausland sind aufgerufen, das dreiköpfige bosnische Staatspräsidium (mit je einem kroatischen, einem bosniakischen und einem serbischen Vertreter), den Präsidenten der serbischen Gebietseinheit (der Republika Srpska), die Parlamente der beiden bosnischen Gebietseinheiten, das Zentralparlament sowie die Parlamente der zehn Kantone der Föderation zu wählen. Die Wahlen werden von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) organisiert und überwacht. 3 Das Pentagon hat im Herbst 1996 das Programm „Train and Equip“ (Trainieren und ausrüsten) gestartet, das auf der Überzeugung aufbaut, die Wiederherstellung eines militärischen Gleichgewichts zwischen den Kräften vor Ort erlaube die Sicherung des Friedens und den Abzug der Nato-Truppen. Innerhalb von zwei Jahren hat Washington, unterstützt durch arabische Länder wie Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate, Rüstungsgüter im Wert von 250 Millionen Dollar geliefert. Die Ausbildung der Truppen der Bosniakisch-kroatischen Föderation wird von der Gesellschaft Military Professional Resources Inc. (MPRI) mit Sitz in Virginia überwacht. 4 Am 24. April 1998 haben kroatische Demonstranten in Drvar Autos und Gebäude angezündet und ein Dutzend Personen, darunter der serbische Bürgermeister der Stadt, verletzt. Diese Gewalt eskalierte einen Tag nach antikroatischen Ausschreitungen in der Serbischen Republik. Die SFOR griff ein, um die internationalen Beschäftigten in Drvar zu schützen und die Ruhe wiederherzustellen. Vor dem Krieg war die Bevölkerung der Stadt mehrheitlich serbisch. Seit mehreren Monaten bemüht sich das UNHCR darum, wieder serbische Flüchtlinge in Drvar anzusiedeln. 5 Laut dem Vertragstext des Dayton-Abkommens sind die lokalen Behörden dazu verpflichtet, die Angeklagten an das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ITCY) auszuliefern. Die Nato-Soldaten dürften sie eigentlich nur dann festnehmen, wenn sie bei Kontrollen auf bosnischen Straßen zufällig aufgegriffen werden. 6 Nach dem Selbstmord des ehemaligen serbischen Bürgermeisters von Vukovar, Slavko Dokmanović, am 28. Juni 1998 und dem tödlichen Unfall des bosnischen Serben Milan Kovaćević am 1. August hält das ITCY im Gefängnis von Scheveningen noch 26 Angeklagte fest. 29 Angeklagte werden von der internationalen Justiz noch gesucht. 7 Nachzulesen ist der Text des Abkommens u. a. unter http://www.nato.int/ifor/gfa/gfa-home.htm.

Le Monde diplomatique vom 11.09.1998, von THOMAS HOFNUNG