Indonesiens Angst vor der Balkanisierung
Die neue Regierung Indonesiens hat Verhandlungen mit Portugal über die Zukunft Osttimors aufgenommen. Die Vereinten Nationen sehen die ehemalige Kolonialmacht Portugal als legitimen Verwalter Osttimors. Schlüsselfrage der Gespräche ist die timoresische Forderung nach einer Volksabstimmung über den künftigen Status des Landes. Sie ist der Stein des Anstoßes für Indonesiens Präsident Jusuf Habibie, der das Auseinanderfallen des Inselstaates befürchtet. Für Indonesien bedeutet die Unabhängigkeit Osttimors ein Risiko, das mit dem Angebot einer Teilautonomie abgewendet werden soll.
Von JEAN-PIERRE CATRY *
Am 5. August 1998 wurde ein bedeutender Schritt in Richtung einer Lösung der Ost-Timor-Frage gemacht. Das Land war 1975 von Indonesien besetzt und 1976 annektiert worden. Durch Vermittlung der UNO trafen sich in New York die Außenminister Portugals und Indonesiens, Jaime Gama und Ali Alatas. Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Ost-Timor, Jamsheed Marker, teilte nach dem Treffen mit, beide Seiten hätten sich darauf geeinigt, bis Jahresende ein Autonomiestatut des gegenwärtig besetzten Territoriums auszuarbeiten. Außerdem erklärte Indonesien sich bereit, die Okkupationstruppen schrittweise abzuziehen und die politischen Gefangenen freizulassen.1
Jakarta hatte seine Entscheidungen bereits vorab in einer großen Kampagne angekündigt, um die internationale öffentliche Meinung positiv zu stimmen, vor allem aber um sich das Wohlwollen der Kreditgeber zu sichern, auf die Indonesien wesentlich angewiesen ist. Immerhin erlaubt das Abkommen Portugal und der UNO, an der inhaltlichen Definition der Autonomie mitzuwirken, macht allerdings keine abschließenden Aussagen über den künftigen Status des Territoriums – Eingliederung in den indonesischen Staat oder Unabhängigkeit. Doch es verleiht Portugal und der UNO das Recht, von Jakarta Rechenschaft über die eingegangenen Verpflichtungen – Truppenabzug und Freilassung der Gefangenen – zu fordern. Diese Entwicklung wäre ohne die Krise, von der Indonesien seit Monaten erschüttert wird, und ohne den Rücktritt von Präsident Suharto nicht vorstellbar gewesen.2
Am 14. Mai 1998, als noch nichts auf den baldigen Sturz des alten Diktators hinwies, wurde auf einer demokratisch einberufenen Versammlung, an der sowohl inländische Timoresen wie auch solche aus dem Exil teilnahmen, die Gründung des Osttimoresischen Widerstandsrats (CNRM) beschlossen. Dieser Zusammenschluß vereinigt alle Kräfte, die eine Eingliederung Osttimors in den indonesischen Staat ablehnen. Xanana Gusmão, der immer noch inhaftierte ehemalige Befehlshaber des bewaffneten Widerstandes, wurde zum Vorsitzenden gewählt.
Gusmão spielt für die Unabhängigkeitsbewegung eine wichtige Rolle. Durch seine Verhaftung im Jahre 1992 entstanden zwei neue Kampfschauplätze: Zum einen in Indonesien selbst, wo Gusmão im Gefängnis von Cipinang freundschaftliche Kontakte zu indonesischen Gewerkschaftsführern und Politikern knüpfte, die ebenfalls Opfer des Militärregimes geworden waren. Vor allem aber auf internationaler Ebene, zumal ihn politische und diplomatische Persönlichkeiten im Gefängnis besuchen durften3 . So forderte etwa der südafrikanische Präsident Nelson Mandela von Suharto die Freilassung Gusmãos, nachdem er diesen während seines Indonesien-Besuches im Gefängnis aufgesucht hatte. Dieser Forderung schlossen sich UN-Generalsekretär Kofi Annan und zahlreiche andere Politiker an.
Als sich in Indonesien die Krise abzeichnete, riefen Gusmão und die beiden osttimoresischen Friedensnobelpreisträger von 1996, José Ramos Horta und Bischof Carlos Felipe Belo, die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren. Im Mai 1998 kam es in Ost-Timor zu keinen gewaltsamen Aktionen, im Gegensatz zu den Ausschreitungen in vielen Städten Indonesiens. Der Sturz Suhartos und vor allem der seines Schwiegersohns General Prabowo, Gründer der Rajawali und der Gardapaksi – der beiden militärischen und paramilitärischen Parteien, die die Zivilbevölkerung von Timor terrorisierten – eröffneten die Möglichkeit tatsächlicher Veränderungen. Diese Hoffnung verstärkte sich noch, als bei einem Hubschrauberunglück am 4. Juni 1998 zwölf indonesische Offiziere, die gesamte militärische Spitze der Besatzungstruppen, ums Leben kamen.
Während die meisten Beobachter die Lage in Indonesien nur unter dem Blickwinkel der Menschenrechte beurteilten, ging es bei einer Initiative der UN, wie erst später durch eine indonesische Indiskretion bekanntwurde, in erster Linie um den politischen Status von Ost-Timor. Am 23. April 1998, also noch vor dem Sturz Suhartos, übermittelte Jamsheed Marker als Sonderbeauftragter von Kofi Annan den Vorschlag, die festgefahrenen Verhandlungen zwischen Jakarta und der ehemaligen Kolonialmacht Portugal wiederaufzunehmen.
Dieser Vorschlag sieht als Ausgangspunkt eine Autonomieregelung vor, die einen Mittelweg darstellt zwischen der gewaltsamen, von den Vereinten Nationen nie anerkannten Annexion durch Indonesien und dem Recht auf Selbstbestimmung, das die UNO und Portugal der timoresischen Bevölkerung zuerkennen. Nach Suhartos Rücktritt lag es an seinem Nachfolger Jusuf Habibie, auf diesen Vorschlag zu reagieren.
Abilio Osorio, der Gouverneur von Ost-Timor, der noch von Suharto ernannt und von Habibie im Amt belassen worden war, rief am 6. Juni 1998 wichtige timoresische Persönlichkeiten zusammen und bat sie um ihre Unterstützung für den Sonderstatus, den ihre Provinz innerhalb des indonesischen Staates erhalten sollte. In der Annahme, ihre Meinung frei äußern zu können, forderten jedoch fast alle Redner unter starkem Beifall den Rückzug der indonesischen Truppen, die Freilassung von Xanana Gusmão und die Abhaltung eines Referendums über die Selbstbestimmung.
Präsident Habibie erklärte trotz dieses gescheiterten Vorstoßes drei Tage später: „Ich bin bereit, Ost-Timor den gleichen Sonderstatus zu gewähren, wie ihn bereits Jakarta, Jogyakarta und Aceh genießen.“ Als einzige Bedingung forderte er, daß die Vereinten Nationen und Portugal diesen Status anerkennen. Ein Sprecher des portugiesischen Außenministers entgegnete darauf: „Ein Abkommen, das die Eingliederung [Osttimors] in Indonesien zur Vorbedingung hat, kann für uns niemals eine Verhandlungsbasis darstellen.“
Das Steinchen im Schuh von Indonesien
HABIBIES Vorschlag wurde auch von den timoresischen Politikern abgelehnt und löste große Kundgebungen für ein Selbstbestimmungsreferendum aus. Am 12. Juni 1998 demonstrierten 1300 in Indonesien lebende timoresische Studenten vor dem Außenministerium in Jakarta. Die Armee löste die Veranstaltung mit brutaler Gewalt auf. Am nächsten Tag kam es auch in Dili, der Hauptstadt Osttimors, zu Kundgebungen, die trotz des ursprünglichen Verbots von der Besatzungsarmee toleriert wurden. Ende Juni, angesichts des bevorstehenden Besuchs der Botschafter der EU-„Troika“ (Großbritannien, Österreich und Niederlande) in Timor, weiteten sich die Demonstrationen aus. Die Versuche der Regierung, Gegendemonstrationen zu veranstalten, verschärften die Spannungen, und mehrere Personen wurden von Armee-Einheiten getötet. Die „Troika“ beschloß, ihren Besuch abzubrechen, doch ihr Bericht unterstützte die Forderungen der Unabhängigkeitsbewegung: „Uns erscheint eine Lösung der Ost-Timor-Frage ohne (...) eine direkte Befragung der Bevölkerung nicht möglich.“6
Die „Troika“ unterstützt nicht nur die Forderung nach einer Volksabstimmung, sondern empfiehlt auch, die Timoresen an den Verhandlungen über ihre Zukunft zu beteiligen und die politischen Gefangenen freizulassen. Der Rückzug der indonesischen Truppen habe „absolute Priorität“. Auch Marker betonte diese Priorität, als er am Ende seines Besuches erklärte: „Der Truppenabzug wäre ein (...) wesentlicher Schritt.“7 Der indonesische Vorschlag – Autonomie als Lösung des Problems – und der von Marker – Autonomie als Ausgangspunkt für Verhandlungen – liegen noch weit auseinander. Kurz vor Markers Besuch im Juli 1998 zirkulierte der Text seines Vorschlages in Dili, gleichzeitig versuchte der indonesische Außenminister Alatas den Eindruck zu erwecken, die UNO habe sich dem indonesischen Standpunkt angeschlossen. Das Durchsickern dieser Informationen, das ein UN-Sprecher als „bedauerlichen diplomatischen Vertrauensbruch“7 qualifizierte, zielte darauf ab, die Beziehungen zwischen den Timoresen und der UNO zu vergiften.
Eines der größten Probleme bleibt nach wie vor der Rückzug der Besatzungstruppen. Am 24. Juni 1998 hatte der Bischof von Dili, Belo, diese Frage zum Hauptanliegen seines Besuchs bei Präsident Habibie gemacht. Belo zeigte sich nach der Unterredung optimistisch und erklärte, der Präsident habe einem stufenweisen Truppenabzug zugestimmt und Ali Alatas in diesem Sinne instruiert – was dieser bald darauf dementierte.
Am 27. Juli 1998 wurden von der indonesischen Regierung 90 Journalisten nach Dili gebracht, um dem Rückzug von 1000 Soldaten beizuwohnen. Letztendlich waren es nur 400 Mann, aber das hat nicht viel zu sagen, da niemand weiß, wie viele Soldaten wirklich in Ost-Timor stationiert sind. Die indonesischen Behörden sprechen von 5000 Mann, westliche Diplomaten schätzen die Zahl jedoch auf 10000 bis 15000, ohne allerdings die Polizeieinheiten mitzurechnen, die den bewaffneten Kräften zuzurechnen sind. Mario Carrascalo, Berater von Präsident Habibie und ehemaliger Gouverneur von Ost-Timor, schätzt diese Polizeikräfte auf 35000 bis 50000 Mann. Entscheidend ist in jedem Falle, daß der Truppenrückzug von internationalen Beobachtern kontrolliert wird.
Am 9. Juni 1998 kündigte Präsident Habibie an, fünfzehn politische Gefangene freizulassen. Fünf von ihnen hätten jedoch längst entlassen sein sollen, denn sie waren nach Demonstrationen anläßlich des Besuchs des UNO-Generalsekretärs am 23. März 1997 zu zwölf Monaten Haft verurteilt worden und hatten ihre Strafe bereits verbüßt. Am 11. Juli 1998 versprach Justizminister Mulladi, in der darauffolgenden Woche neunzig Gefangene freizulassen – aber Anfang August warteten sie immer noch, weil die Armee sich jeder Begnadigung widersetzt.9 Und die Freilassung Xanana Gusmãos hat „die Anerkennung Osttimors als integralen Bestandteil Indonesiens“ zur Voraussetzung, wie Habibie und Alatas betonten.10
23 Jahre hatte die offizielle indonesische Propaganda die alte Leier wiederholt, die Timoresen hätten um ihre Eingliederung in den indonesischen Staat ersucht und Ost-Timor sei die „siebenundzwanzigste Provinz“. Erst jetzt, mit der Rückkehr einer bescheidenen Pressefreiheit, entdecken viele Indonesier die Wahrheit, daß etwa 20000 Soldaten und 200000 Zivilisten diese Eingliederung mit dem Leben bezahlt hatten. Im Juli 1998 erklärten die beiden bedeutendsten Oppositionsführer, Megawati Sukarnoputri, Führerin der Demokratischen Partei Indonesiens (PDI), der größten demokratischen Partei, und Abdurrahman Wahid, Chef der Nahdlatul Ulama, der mächtigsten muslimischen Partei des Landes mit 35 Millionen Mitgliedern, daß sie die Forderung von Bischof Belo unterstützen, ein Referendum zur Beilegung des Konflikts abzuhalten.11
Der dritte oppositionelle Politiker, Amien Rais, Führer der 28 Millionen Mitglieder zählenden Muhammadiyah, hatte sich bereits vor Suhartos Sturz in diesem Sinne geäußert. Allerdings zeigt er sich zugleich besorgt über „das jugoslawische und sowjetische Zerfallssyndrom, das nun auch Indonesien befällt“12 . Seine Sorge gilt vor allem Irian Jaya, der sechsundzwanzigsten Provinz des Landes, die früher zu Niederländisch-Indien gehörte und nun, wie ein Berater von Präsident Habibie erklärt, „einen rechtmäßigen Teil“13 des Landes darstellt.
Natürlich sollte man die Gefahren einer indonesischen Implosion nicht bagatellisieren, allerdings hängt der Zusammenhalt des Landes nicht davon ab, ob Ost-Timor das Selbstbestimmungsrecht erhält oder nicht. Wenn man anerkennt, daß die ehemalige portugiesische Kolonie nie ein Teil von Indonesien war, könnte dies sogar den in weiten Kreisen gefürchteten Dominoeffekt vermeiden. Vor einigen Jahren hat Ali Alatas Ost-Timor gar als „Steinchen im Schuh von Indonesien“ bezeichnet. „Mit dem Anbruch der Reformasi-Epoche halte ich den Augenblick für gekommen, das Problem ein für allemal aus der Welt zu schaffen“, so ein indonesischer General, Berater von Präsident Habibie.14
Die timoresischen Führer sind bereit, eine Zeit des Übergangs zu akzeptieren. Bischof Belo erklärte: „Die Autonomie [innerhalb Indonesiens] kann nur eine provisorische, nicht aber eine endgültige Lösung darstellen. Über die endgültige Lösung muß das Volk entscheiden“15 ; Xanana Gusmão erklärte sich damit einverstanden, das Referendum in den nächsten drei bis fünf Jahren abzuhalten.
„Wie inzwischen allgemein bekannt ist, hat Suharto viele Fehler gemacht. Doch von all seinen Taten waren die Annexion von Ost-Timor 1975 und die Methoden, mit denen diese aufrechterhalten wurde, am wenigsten entschuldbar“, heißt es in einem Leitartikel der Financial Times16 . Auch die internationale Gemeinschaft muß ihre Verantwortung eingestehen, hat sie doch das korrupte Regime des Diktators über Jahrzehnte militärisch und finanziell unterstützt.
Der Sicherheitsrat beschloß am 22. Dezember 1975 und am 22. April 1976 zwei Resolutionen über den Abzug der indonesischen Truppen und „das unveräußerliche Recht des timoresischen Volkes auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit“; die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete zwischen 1975 und 1982 acht entsprechende Resolutionen. Alle blieben folgenlos, denn Indonesien war im Kalten Krieg schließlich ein Verbündeter des Westens und ein guter Handelspartner! Der US-amerikanische Senat hat soeben an diese Texte erinnert und die Notwendigkeit angemahnt, sie in die Praxis umzusetzen17 . Die internationale Gemeinschaft muß Jakarta zu verstehen geben, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, „das Steinchen aus dem Schuh zu entfernen“. Wenn das nicht geschieht, wird ein Teil der internationalen Hilfsgelder des IWF und der Beratungsgruppe für Indonesien18 , die dem Land aus der Krise helfen sollen, die weitere Stationierung der Besatzungsarmee in Ost-Timor finanzieren.
dt. Andrea Marenzeller
* Initiator der Vereinigung „Der Frieden in Ost-Timor ist möglich“, Lissabon.