11.09.1998

Spuren einer Ansteckung

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Spuren einer Ansteckung

DER Film „Der Fall Carpentras“1 ist ein Film über das Zusammenspiel der rechtsextremen Presse mit den großen Medien: Radio, Fernsehen und Zeitung.“ Harte Worte, gewiß, doch was steckt dahinter? Am 10. Mai 1990, wenige Stunden nach der Schändung des jüdischen Friedhofs von Carpentras, erklärte der damalige Innenminister Pierre Joxe: „Hier geht es um Rassismus, Antisemitismus, Intoleranz. Die ganze Welt empfindet Trauer und Anteilnahme.“ Auf die drängende Frage eines Journalisten, wer die Urheber der Schändung seien, antwortete er: „Ich habe sie genannt.“

Jean-Marie Le Pen, Parteichef des rechtsextremen Front National, reagierte sofort. Er riet, die Urheber „im Umfeld der Kommunisten und ihres trojanischen Pferds, dem MRAP“ zu suchen (Bewegung gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft). Obwohl die Fährte des Rechtsextremismus auf der Hand liegt, wird sie gerade mal vier Monate verfolgt. Der Damm bricht, als der inzwischen verstorbene Jean-Marie Domenach, ein über alle Zweifel erhabener linker Christ und einstiger Herausgeber der Zeitschrift Esprit, am 31. Oktober 1990 in Le Monde von „Manipulation“ spricht und fragt: „Durch wen und warum? Im Namen der Wahrheit können wir es nicht dulden, daß man eine Sache, auch wenn es die richtige ist, auf Lügen stützt.“

Fünf Jahre lang kann sich die These von der „lokale Fährte“ halten, die der Staranwalt Maitre Gilbert Collard, das Blatt wendend, in die Welt setzte: Man müsse die Täter vor Ort suchen. Ein Journalist des Vaucluse Matin griff diese Ansicht auf und verbreitete sie: Er will sich endlich einen Namen machen, sich als investigativer Journalist hervortun, was ihm – leider – auch gelingt, denn die Kollegen der überregionalen Medien greifen seine tendenziösen Texte auf. Favorisiert wird die „lokale Fährte“ auch von Monsieur Tissot, dem kurz zuvor von der RPR zum „Aufräumen“ eingesetzten Staatsanwalt. Die „lokale Fährte“ aber basiert einzig und allein auf der Zeugenaussage von Jessie Foulon, einer ausgeflippten Jugendlichen.

Fast alle „großen“ Journalisten unterstützen also die Hypothese, die Gräber seien von Jugendlichen verwüstet worden, die „einen draufmachen wollten und eine Dummheit angerichtet“ hätten, was den Figaro zu der erleichterten Feststellung veranlaßt, man brauche „nicht mehr von Rassismus und Antisemitismus sprechen“. In Paris-Match vom 28. Juni 1990 ist zu lesen, die Staatsanwaltschaft sei überzeugt, daß es sich bei den Tätern um Leute aus der Region handele, die weder über politische Verbindungen verfügten, noch rassistische Motive besäßen.

Diese, wie Jean-Louis Comolli es nennt, „Balzacsche Konstellation, mit wahrhaft Balzacschen Figuren, dieser unablässige Druck, der von einem Teil der Gesellschaft ausgeht“, führt schließlich dazu, daß der Untersuchungsrichterin Sylvie Mottes der Fall entzogen wird. Sie hatte die rechtsextreme Fährte stets weiterverfolgt, ohne jedoch verfrüht jemanden unter Anklage zu stellen. Man muß sich diese junge Frau vor der Kamera ansehen, mit ihrem blonden Haar und dem akkuraten Scheitel – wie ein Schulmädchen, das gerade erst das Abitur bestanden hat. Arglos beteuert sie ihren Glauben an den Rechtsstaat und die Druckerschwärze und wundert sich, wie das Geschrei der Medien die Oberhand gewinnen konnte.

Dagegen steht die abgeschmackte Arroganz eines Jacques Pradel, oder der betroffene Ernst eines Patrick Meney, Fernsehproduzent und Chefredakteur der TF-1-Sendung „Zeuge Nr. 1“. Beide recherchierten, verteidigten und traten monatelang die „Jugendlichen-Fährte“ breit, dabei dachten sie an nichts anderes als an ihre Einschaltquoten. In immer neuen Aufgüssen präsentierten sie die ewigselben Argumente aus der Presse des Front National (Présent, National Hebdo). Serge Martinez läßt sich in „Minute“ schließlich allen Ernstes zu einem neuen „J'accuse“2 hinreißen. Im September 1995 verlangt Jean-Marie Le Pen im Namen des Front National, der Staat müsse sich offiziell entschuldigen. Die Argumente, die Sprache und die Rührigkeit des FN verfehlen ihre Wirkung nicht; die großen Medien fühlen sich schuldig.

WIE, wenn man sich getäuscht haben sollte? Wenn die Mitglieder, Sympathisanten und Wähler des Front National wirklich „die Juden von heute“ wären, wie es Bruno Mégret vom FN formuliert hat? Unter all den Dutzenden Presseausweis-Besitzern, die in der Affaire ihren Stand vertreten haben, gab es nur eine einzige Frau, die sich sagte, im Städtchen Carpentras müsse etwas faul sein. Sie heißt Nicole Boulanger, ein Name, der ihre Familie während des Zweiten Weltkriegs schützte. Am 10. Mai 1990, also am Tag nach der Friedhofsschändung, beschloß sie, sich daran zu erinnern, wie ihr ursprünglicher Name lautete: Nicole Leibovitz. Inzwischen hat sie das Buch „L'Affaire Carpentras“3 verfaßt.

Sechs Jahre nach der Tat gesteht der junge Yannick Garnier, daß er zusammen mit drei Freunden die Gräber verwüstet hat: unter dem Einfluß des rechtsextremistischen PNFE (Parti Nationaliste Français et Européen). Die Richterin Sylvie Mottes hat also Recht behalten. „Die Medien begehen Verbrechen“, so Jean-Louis Comolli, „aber – und das ist eine Wahrheit des Kinos – sie können die Spuren des Verbrechens niemals verwischen.“

EDGAR ROSKIS

Fußnoten: 1 „Der Fall Carpentras. Ein politisches Schmierentheater“, Frankreich 1998, 94 Minuten. Der Film wird am 16. September um 20.45 Uhr auf Arte gezeigt. 2 „J' accuse ...!“ war Zolas berühmter offener Brief an den Präsidenten der Französischen Republik überschrieben, in dem er die Justiz beschuldigte, den jüdischen Hauptmann Dreyfus trotz vorliegender Entlastungsbeweise wegen Spionage verurteilt zu haben (Anm. d. Ü.). 3 Nicole Leibovitz, „L'Affaire Carpentras“, Paris (Plon) 1997.

Le Monde diplomatique vom 11.09.1998, von EDGAR ROSKIS