11.09.1998

Heilige Kriege

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Heilige Kriege

Von ALAIN GRESH

PURE Selbstverteidigung, meinten die Vereinigten Staaten, als sie in Afghanistan mehrere „Trainingslager für Terroristen“ und im Sudan eine Arzneimittelfabrik unter Beschuß nahmen. Da die internationale Staatengemeinschaft das Gesetz des Dschungels nun einmal ablehnt, mußte das State Department für die Raketenangriffe vom 20. August 1998, mit denen die Souveränität mehrerer Staaten verletzt wurde, irgendeine juristische Rechtfertigung beibringen und griff auf Artikel 51 der UN-Charta zurück. Dort ist eine Ausübung des Selbstverteidigungsrechts indes allein für den Fall eines „bewaffneten Angriffs“ vorgesehen, und auch dies nur, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Hatten die Vereinigten Staaten wirklich einen „bewaffneten Angriff“ abzuwehren? Haben sie sich nur „verteidigt“, bis der Sicherheitsrat die „erforderlichen Maßnahmen“ trifft?

Zweifel sind angebracht. Nach Bekunden zahlreicher amerikanischer Regierungsvertreter bedeuten die Militäraktionen vom letzten Monat vielmehr eine Wende in der US-Strategie. Künftig wollen sich die USA im Konfliktfall nicht mehr damit belasten, einen internationalen Konsens anzustreben und die Zustimmung der Vereinten Nationen abzuwarten. „Die Operation diente der Abschreckung“, betonte ein hoher Beamter, „juristische Spitzfindigkeiten sind hierbei fehl am Platze.“1 Also ab auf den Müllhaufen mit dem Völkerrecht; ein Sheriff hat noch nie um Erlaubnis ersucht, einen Gesetzlosen abknallen zu dürfen.

Dabei konnten sich die USA auf das Völkerrecht um so weniger berufen, als die Beteiligung von Ussama Bin Laden an den kriminellen Anschlägen auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania erst noch zu beweisen ist. Als die Tomahawk-Raketen schon ihr Ziel ansteuerten, betonte FBI-Direktor Louis French ausdrücklich: „Wir befinden uns noch im Stadium der Voruntersuchung“, und seine Stellvertreterin vor Ort erklärte, daß der verhaftete Hauptverdächtige Siddiq Odeh weder geständig sei noch Ussama Bin Laden belastet habe.2 Im übrigen haben mehrere ausländische Techniker, die in der bombardierten Fabrik von Khartum beschäftigt sind, der Ansicht widersprochen, man könne dort Substanzen für chemische Waffen produzieren. Und daß die USA es ablehnten, eine UN- Untersuchungskommission zu entsenden, spricht auch nicht gerade dafür, daß sie es mit dem Völkerrecht sonderlich ernst meinen.

In der muslimischen Welt löste diese Arroganz zornige Reaktionen aus. Manche Kommentatoren meinten, Clinton wolle schlicht von der Lewinsky- Affäre ablenken. Andere sagten: „Eine terroristische Reaktion auf einen terroristischen Anschlag ist inakzeptabel.“3 Moderatere Stimmen gaben zu bedenken, daß militärische Mittel nur begrenzt wirksam seien. „Die Schlagkraft des Pentagon mag helfen, den Terrorismus zu bekämpfen“, leitartikelte die ägyptische Wochenzeitung Al-Ahram Weekly, „doch solange es Unzufriedenheit und Widerstandswille [in der muslimischen Welt] gibt, können militärische Einsätze nur begrenzt wirken. Besser wäre eine politische Wende zugunsten der Unterdrückten, vor allem der Palästinenser.“4

Ähnlich äußerte sich Robert M. Gates, unter George Bush Direktor der CIA. Was wir brauchen, ist „eine Politik und eine Strategie, die den Terrorismus langfristig bei der Wurzel packt“, und dazu müßten wir im Nahen Osten eine Friedenspolitik verfolgen, die sich „nicht ständig der Obstruktionspolitik von Benjamin Netanjahu und seinem Verrat am Erbe Jitzhak Rabins beugt“5 .

DENN der Terrorismus wächst auf dem Boden der Krisen und Enttäuschungen, die zunehmend die muslimische Welt heimsuchen, von Libyen und dem Sudan über Palästina und den Irak bis hin nach Kaschmir und Indonesien. Natürlich geht nicht alles Unglück in der Region auf das Konto der Vereinigten Staaten, aber als „einzige Supermacht“ der Welt, die politisch und militärisch überall präsent ist, sind sie nun einmal für das mörderische Embargo gegen die irakische Bevölkerung, die Sanktionen gegen Libyen und den Sudan, den endlosen Leidensweg der Palästinenser, die fortdauernde Besetzung Jerusalems und des Golan verantwortlich. Man braucht durchaus kein „fanatischer Muslim“ zu sein, um sich zu fragen, inwiefern Washington für all dieses Leid verantwortlich ist, oder um festzustellen, daß sich der Westen, obgleich er die Demokratie ständig im Munde führt, bestens mit den Diktaturen in Saudi-Arabien und Indonesien und den autoritären Regimen in Ägypten und Pakistan versteht.

Ussama Bin Laden ist in den Vereinigten Staaten also zum Staatsfeind Nummer eins aufgerückt. Besseres konnte dem ehemaligen „Freiheitskämpfer“ kaum geschehen! Tausende junger Muslime werden seine Vorverurteilung zum Anlaß nehmen, um sich seinem „Heiligen Krieg“ anzuschließen. Altersgenossen, die anders denken, sind hingegen zum Schweigen verurteilt, weil sie sonst in den Verdacht geraten, Komplizen einer Macht zu sein, deren Demokratie- und Völkerrechtsgerede offenbar nur ihr Interesse am Fortbestand einer ungerechten Gesellschaftsordnung kaschieren soll.

Die Vereinigten Staaten verrennen sich nolens volens in einen „Krieg der Kulturen“ und tragen dazu bei, den Bruch zwischen der muslimischen und der westlichen Welt zu vertiefen. Dabei stehen entscheidende Umbrüche bevor. In wenigen Jahren werden die wichtigsten Führer des Nahen Ostens tot sein: Jassir Arafat, König Hussein von Jordanien und König Fahd von Saudi-Arabien sind krank, der syrische Staatspräsident Hafis al-Assad bereits 78 Jahre alt. Eine gefahrenreiche Übergangszeit hat begonnen, während der die aus der Kolonialzeit herrührenden Grenzen und Staatsgebilde in Frage gestellt werden könnten. Wie in anderen Teilen der Welt streben auch die Völker dieser Region nach Frieden, Freiheit, nationaler Unabhängigkeit, Wohlstand und Demokratie. Nicht durch einen heiligen Krieg gegen den „islamischen Terrorismus“, sondern nur wenn wir auf diese Bestrebungen eingehen, schaffen wir die Voraussetzungen für einen geregelten Übergang.

Wie Maxime Rodinson schreibt, diente der Panislamismus Ende des 19. Jahrhunderts schon einmal als Schreckbild. „Das siegreiche Europa sieht überall dort, wo seiner Herrschaft Widerstand entgegengesetzt wird, verkommene Subjekte am Werk – eine finstere Verschwörung, der man nach einem aus der Ideologiegeschichte wohlbekannten Mechanismus eine einheitliche Führung, gewissenhaften Fleiß bei der Verwirklichung ihrer dunklen Absichten und verräterische, grausame und machiavellistische Methoden zuschreibt.“6 Diese Verblendung wird den Westen wie die Menschen in der Region noch teuer zu stehen kommen.

Fußnoten: 1 „America Runs Out of Patience for Building Consensus Against Its Ennemies“, International Herald Tribune, Paris, 24. August 1998. 2 „U.S. Seeks Proof on Saudi's Role“, International Herald Tribune, Paris, 22./23. August 1998. 3 Al-Chark, eine Tageszeitung aus Bahrein, zitiert nach Mideast Mirror, London, 21. August 1998. 4 Al-Ahram Weekly, Kairo, 13.-19. August 1998. 5 „No Easy Remedies Against Anti-American Terrorism“, International Herald Tribune, Paris, 18. August 1998. 6 Maxime Rodinson, „Die Faszination des Islam“, München 1985.

Le Monde diplomatique vom 11.09.1998, von ALAIN GRESH