11.09.1998

Sechs Milliarden Blicke auf die Welt

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Sechs Milliarden Blicke auf die Welt

In der Männerwelt des afrikanischen Filmschaffens gewinnen Frauen seit zwanzig Jahren an Terrain. Mit ihrem Blick durch die Kamera dokumentieren sie ihre Welt, ertasten Ort und Zeit der aktuellen afrikanischen Wirklichkeit zwischen Tradition und Moderne.

Von ÉLISABETH LEQUERET *

FRAUEN hinter der Kamera? „Das gab es in den siebziger Jahren kaum. Ein paar auf den Antillen, außerdem Safi Faye aus dem Senegal und mich. Wissen Sie, das Kino ist keine Frauensache.“ Heute könnte dieser Satz der Filmemacherin Sarah Maldoror als eine leise Provokation, als liebenswürdiges Paradox durchgehen, doch vor zwanzig Jahren war er Realität. Damals gab es nur wenige Pionierinnen: Thérèse Sita Bella drehte 1963 einen Kurzfilm über tradirtionelle kamerunische Tänze („Tam Tam“), Sarah Maldoror 1970 ihren Kurzfilm „Monangambee“; Safi Faye schuf mit „Lettre paysanne“ (1975) den ersten Spielfilm einer Afrikanerin.

In den achtziger Jahren trat dann eine Schar junger Regisseurinnen hervor. Auf dem letzten panafrikanischen Filmfestival in Ouagadougou (Fespaco) 1997 beispielsweise stammten vier der neunzehn Spielfilme des Wettbewerbs von Frauen.1 „Solch ein Zahlenverhältnis ist in Cannes nicht zu finden“, unterstreicht Dominique Wallon, der frühere Direktor des Centre National de la Cinématographie (CNC) in Paris.

Anders als ihre männlichen Kollegen hegen die Frauen eine deutliche Vorliebe für das Dokumentarische. In ihren Filmen entsteht ein Porträt des heutigen Afrika mit seinen Städten und Dörfern, klapprigen Fahrrädern und luxuriösen Mercedes-Limousinen, wohlhabenden Vierteln und Slums. Ein Afrika der Frauen vor allem. Denn direkt oder indirekt drehen sich die meisten der Filme um ihre Lebensbedingungen, Kämpfe, Wünsche und Träume. Im ewigen Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne zeigen sich die Regisseurinnen wagemutiger als ihre männlichen Kollegen. „Was diese Filme so spannend macht, ist die Antwort, die sie auf diesen Gegensatz finden“, erläutert Olivier Barlet2 , ein Kenner des afrikanischen Kinos. „Eine Frau, die eine Zwangsheirat ablehnt, lehnt die Tradition ab, aber nicht unbedingt im Namen der Modernität. Sie werden der Tradition untreu, suchen aber nach einer Treue zu sich selbst.“

Die Tradition und die Last des sozialen Gefüges werden häufig an Themen wie Heirat und Trennung aufgezeigt. In „Mossane“ von Safi Faye wird ein junges Mädchen, das sich in einen Studenten verliebt hat, von seinen Eltern gezwungen, einen alten Mann zu heiraten, und bringt sich schließlich um. Die Heldin in Wanjiru Kinyanjuis „La bataille de l'arbre sacré“ flüchtet vor ihrem gewalttätigen Ehemann, trifft aber in ihrem Heimatdorf auf wenig Unterstützung.

Weil das Soziale unweigerlich zum Politischen führt, steht letzteres im Mittelpunkt der zumeist dokumentarisch angelegten Filme. Gerade hier zeigt sich, daß die Besonderheit des weiblichen afrikanischen Kinos weniger im Inhalt (also in der Themenwahl) liegt als in der Form. Denn selbst bei Themen wie Krieg, Apartheid oder den Mißerfolgen der „Democratie à l'africaine“ ist es den Filmemacherinnen wichtig, Momente des Innehaltens, ja Momente der Anmut einzufangen, die sich manchmal auch in den schwierigsten Situationen herstellen. Ihr freier Ton, ihr Sinn fürs Konkrete und manchmal auch ihr Sinn für Humor könnten wohl manche männlichen Kollegen neidisch machen.

Dies gilt etwa für Anne-Laure Folly, die in „Les oubliées“ den Verheerungen des angolanischen Bürgerkriegs nachgeht. So schmerzlich die Wirklichkeit, die sie uns vorführt, auch ist, sie gewährt uns dabei Momente des Aufschubs, indem sie zeigt, wie eine Gruppe Menschen gemeinsam den Trinkwasser- oder Strommangel bekämpft oder wie Frauen sich zusammentun, um ihren Fernseher an die Parabolantenne eines Nachbarn anzuschließen. „Man spürt bei Anne- Laure Folly, daß sie die Menschen respektiert, die sie interviewt, was man von ihren männlichen Kollegen nicht immer sagen kann“, bemerkt Sarah Maldoror. „Unser Afrika kennt keine Helden, es ist ein Afrika des Alltags, mit all seinen Hoffnungen und Niederlagen.“

Dieser Respekt und diese intellektuelle Aufrichtigkeit kommen auch in „My vote is my secret“ zum Ausdruck. Hier läßt die Südafrikanerin Julie Henderson während der ersten freien Wahlen nach dem Ende der Apartheid, im April 1994, mehrere Frauen zu Wort kommen. Als reagierten sie auf die Freiheit, mit der die Regisseurin ihre Kamera führt, legen sie offen ihre Zweifel vor Julie Henderson dar. Die Frauen sind politisch zwar nicht immer einer Meinung, doch es gibt etwas, das sie eint: der Wunsch, ein Miteinander zu finden. „Man kann nicht mit jemandem zusammenleben, ohne ihm zu verzeihen“, sagt eine von ihnen über die weißen Machthaber; und eine andere bestätigt: „Selbst wenn wir die Wahlen gewinnen, müssen wir mit unserem bisherigen Unterdrücker weiter zusammenleben.“

Eine andere Südafrikanerin, Lindy Wilson, erzählt in ihrem Streifen „Last supper in Hortsley Street“ (1978) das Drama von Hunderten schwarzen Familien, die ihre Häuser in der Nähe des Kaps verlassen müssen. Auch sie macht sich zum Sprachrohr der Menschen ihres Films, indem sie ihnen das Wort erteilt: „Mich widerte es an, den offiziellen Vertretern zuzuhören, die immer in irgend jemandes Namen sprechen, die Männer im Namen der Frauen, die Weißen im Namen der Schwarzen.“

„Ich wollte damals eigentlich keinen Film machen, sondern nur Augenzeugenberichte sammeln, bevor diese Familien umgesiedelt wurden. Niemand sollte später sagen können: Wir haben nichts gewußt.“ Dasselbe gilt wohl auch für die Filmarbeit von Sarah Maldoror. Nach einem Filmpraktikum in Moskau ging sie nach Angola, wo sie zur Kamera griff, weil „ich festhalten wollte, was geschah. Ständig wurde von Vietnam geredet, aber nie von den Kriegen in Afrika“. So entstand 1972 „Sambizanga“, ein Film über die Folter in angolanischen Gefängnissen.

Die Welt informieren zu wollen über einen Krieg oder einen vergessenen Konflikt kann ebenso am Beginn einer Filmlaufbahn stehen wie der Wunsch, den Blick der (Welt-)Öffentlichkeit auf eine allzu wenig bekannte oder im Untergang begriffene Kultur zu lenken.3 Aus diesem Grund drehte Anne-Laure Folly ihren ersten Dokumentarfilm „Le gardien des femmes“ (1990), über die Voodoo-Kultur. „Ich hatte festgestellt, daß es kaum Bilder über Afrika gab. Als ich den Film drehte, ging es mir nicht darum, die Öffentlichkeit zu informieren. Ich wollte, daß von dieser Kultur, die im Verschwinden begriffen war, eine Spur zurückbleibt.“

Gelegentlich entsteht der Wunsch, einen Film zu machen, auch aus dem Bedürfnis, ein Bild zu korrigieren oder sich die eigene Kultur wieder anzueignen, die vom Kino oder den Medien der nördlichen Hemisphäre allzu oft verzerrt dargestellt wird.4 Mit ihrer betonten Bildsprache zeugen die Dokumentar- und Spielfilme von Safi Faye alle von dem Bedürfnis, ein positives Bild von Afrika zu vermitteln. „Mein Kontinent wird als der Kontinent der Armut, der Hungersnöte und der politischen Unruhen abgestempelt. Ich versuche, andere Bilder von Afrika zu verbreiten“, sagt die Regisseurin. Es ist immer der gleiche Wunsch: Realität zu bezeugen, von der eigenen Gemeinschaft zu sprechen. „Für mich gibt es keine Trennung zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktionalen. Ich kann nur von der Gesellschaft reden, aus der ich komme.“

Wenn es nicht mehr darum geht, Kinofilme zu produzieren, sondern nur darum, Bilder vom heutigen Afrika zu zeigen, löst sich das ewige Dilemma zwischen Dokumentar- und Spielfilm auf. Wenn nötig, werden auch pädagogische Ziel verfolgt. So sagt Kadiatou Konaté aus Mali: „Es gibt kein besseres Erziehungsmittel als den Film. In einem Land, in dem 80 Prozent der Menschen Analphabeten sind, ist es wichtig für mich, die Menschen in deren Alltagssprache zu erreichen.“

Scheinbar eine Männerperspektive

MOMIQUE PHOBA aus Zaire hat gerade einen Dokumentarfilm gedreht über jene kongolesischen Krankenpfleger, denen die Kolonialmächte vor der Unabhängigkeit das Medizindiplom verweigerten, weil es den Weißen vorbehalten war: „Unsere Geschichte wird nicht ausreichend gelehrt. Filme zu machen ist auch eine Form, das Band zwischen den Generationen neu zu knüpfen, denn wir sollten nicht auf Europa setzen, um uns unserer Vergangenheit bewußt zu werden.“

Dieses Bedürfnis, die Wirklichkeit abzubilden und dergestalt auf die gesellschaftliche Realität einzuwirken, hängt sicher auch damit zusammen, daß die Mehrheit der Frauen, anders als ihre männlichen Kollegen, Seiteneinsteigerinnen sind.

Bei Regina Fanta Nacro war das ein Job als Scriptgirl, und Kadiatou Konaté stieg als Produktionsassistentin ein. Julie Henderson und Lindy Wilson kommen aus dem Umfeld der südafrikanischen Bürgerbewegungen. Anne-Laure Folly, eigentlich Juristin von Beruf, erwarb ihre Erfahrung in der Praxis; ebenso Monique Phoba, die ursprünglich als Journalistin arbeitete.

Die Regisseurinnen pochen einmütig und sehr vernehmlich darauf, daß sich ihre Sichtweisen nicht prinzipiell von denen der Männer unterscheiden. „In meinem Film ,Le truc de Konaté‘ hätte ich das Thema Aids vom Blickwinkel der Waisenkinder aus angehen können oder unter dem Aspekt der Arbeit der Hilfsorganisationen. Aber mich interessierte das Kondom“, sagt Regina Fanta Nacro. „Oder in ,Un certain matin‘, wo ich eine Geburt zeige. Vor zwei, drei Jahren hätte ich mich für die Schmerzen der Frau interessiert, ich hätte ihr Gesicht gezeigt. Heute interessiert mich die Befreiung, die Entbindung, die Art, wie das Baby herauskommt. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, das sei eine typische Männerperspektive.“

Und Anne-Laure Folly bemerkt: „Natürlich ist es leichter, eine Frau zu filmen, wenn man selber eine Frau ist. Aber wenn sich jeder auf sein Geschlecht beschränken wollte, würde das heißen, daß uns die Hälfte der Menschheit verschlossen bleibt. Und im übrigen gibt es ja nicht einen einzigen Blick auf die Welt, sondern sechs Milliarden.“ Afrikanische Filmemacherinnen fordern eine eigene, individuelle Filmsprache ein, keine per se weibliche, keine per se „afrikanische“.

dt. Eveline Passet

* Journalistin bei Radio France Internationale.

Fußnoten: 1 Zum Fespaco-Festival siehe Carlos Pardo, „Afrikas Kino: Zeit der Rückeroberung“, Le Monde diplomatique, Mai 1995. 2 Verfasser von „Les Cinémas d'Afrique francophone“, Paris (L'Harmattan) 1996. 3 Vgl. Thérèse-Maris Deffontaines, „Des films pour croire en l'avenir de l'Afrique“, Le Monde diplomatique, Mai 1991. 4 Vgl. Denise Brahimi, „Cinéma d'Afrique francophone et du Maghreb“, Paris (éditions Nathan) 1997.

Le Monde diplomatique vom 11.09.1998, von ÉLISABETH LEQUERET