Das belgische Beispiel
BELGIEN war genau wie Frankreich in Ruanda mit wirtschaftlichen, militärischen und persönlichen Verbindungen präsent. Bei der Suche nach der Wahrheit haben sich die beiden Länder jedoch sehr unterschiedlich verhalten. Während sich Frankreich beharrlich in Schweigen hüllte, setzte Belgien einen finanziell gut ausgestatteten parlamentarischen Untersuchungsausschuß ein, um die Voraussetzungen für die Durch- und Weiterführung des Genozids ebenso aufzudecken wie die Verantwortung der belgischen Regierungs-und Armeestellen.
So hat ein Ad-hoc-Ausschuß des belgischen Senats zahlreiche Dokumente und Berichte gelesen und viele Anhörungen durchgeführt, insgesamt 730 Arbeitsstunden im Jahre 1997 (die Reisen nicht eingerechnet).1 In Belgien haben die beiden Parlamentskammern das Recht, Untersuchungen durchzuführen (Artikel 56 der Verfassung). Sie können Petitionen der Bürger an die Minister weiterreichen und diese zwingen, auf Anfragen zu antworten.
In Frankreich setzte die Abgeordnetenkammer erst Anfang dieses Jahres aufgrund der wachsenden internationalen Kritik einen Informationsausschuß unter dem Vorsitz von Paul Quilès ein, der sich aus Abgeordneten der Mehrheitsparteien und der Opposition zusammensetzt. Anders als bei einem Untersuchungsausschuß haben Zeugenaussagen vor einem Informationsausschuß keine strafrechtlichen Konsequenzen; entsprechend ist eine eidesstattliche Erklärung nicht vorgesehen. Zudem verfügt der Ausschuß weder über die finanziellen noch über die juristischen Mittel, um wirkliche Kontrollen vor Ort und eine Indizienermittlung durchführen zu können.
Die Untersuchungskommission des belgischen Senats hatte zwar große Schwierigkeiten mit der mangelnden Kooperationsbereitschaft der französischen Geheimdienste und der Instanzen der Vereinten Nationen4 , aber im Zentrum der belgischen Zivil- und Militärmacht konnte sie ausgiebig und ungehindert forschen. Die Verantwortung der Minister und der Armeebefehlshaber wird im Detail aufgearbeitet, sowohl in bezug auf ihre Komplizenschaft mit dem Regime von Habyarimana als auch hinsichtlich des Zeitraums vor dem Genozid und des Massakers von zehn belgischen Blauhelmsoldaten am 6. April 1994 im Militärlager in Kigali.
Der Bericht betont die mangelnde Vorbereitung der belgischen Truppen, die nur drei Wochen lang zu Friedensbewahrungsoperationen ausgebildet wurden. „Die Information über die politischen Ereignisse reichte nur bis ins Jahr 1990“; die „Informationen über die Region, in der die Truppen operieren sollten, waren zu allgemein oder falsch“, und „die Belgier vor Ort konnten mit der lokalen Bevölkerung nicht in ihrer Sprache kommunizieren.“ Der Verantwortliche für den Sektor Kigali gesteht: „Ich besaß nicht einmal eine Zusammenfassung der Texte der Minuar (Mission des Nations Unies pour l'assistance au Rwanda) und auch keine spezifischeren Direktiven zu meiner Aufgabe als Oberkommandierender der belgischen Truppen in Ruanda.“5
Die Senatoren sezieren in aller Öffentlichkeit die diplomatischen Schritte, die traditionell als Staatsgeheimnis behandelt werden. So beleuchtet der Bericht ausführlich auch die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft. Der Sicherheitsrat habe „fortwährend und systematisch die Truppenstärke reduziert: von 8000 Mann im Rahmen des Idealfalls wurden es 4500 als notwendiges Minimum und schließlich 2548 Mann als realistische Option. Die Rolle der Minuar, wie sie von der Resolution 872 festgelegt wird, ist auch begrenzter als im Abkommen von Arusha vorgesehen, insbesondere im Protokoll zur Einrichtung einer neutralen internationalen Truppe.“
Während im Arusha-Protokoll von „einem Beitrag zum Aufspüren von Waffenverstecken und zur Neutralisierung bewaffneter Banden“ die Rede ist sowie von „einem Beitrag, um die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu gewährleisten“, definiert die UNO-Resolution die Rolle der Minuar sehr viel begrenzter und schwammiger als „Beitrag zur Sicherheit innerhalb der entwaffneten Zone der Stadt Kigali“ und „zur Kontrolle der allgemeinen Sicherheit“. Diese Definition sollte später ausschlaggebend werden für die Einsatzmöglichkeiten der Minuar vor Ort.
„Das Mandat klammert die Entwaffnung von Zivilisten aus, und das ist weder ein Zufall noch eine Unterlassung, sondern Ausdruck einer klaren Entscheidung. Die USA haben deshalb in der Tat durch eine nachträgliche Änderung den Bezug auf den Bericht des UN-Generalsekretärs vom 24. September herausstreichen lassen, denn darin geht es um die Entwaffnung von Zivilisten. (...) Die USA haben ebenfalls die Möglichkeit begrenzt, die Sicherheit von zurückkehrenden Flüchtlingen aus dem In- und Ausland zu gewährleisten.“
Die diplomatische Vertretung Belgiens bei den Vereinten Nationen war sich „dieser Abschwächung bewußt“ und hat Premierminister Jean-Luc Dehaene darüber informiert. Außenminister Willy Claes hat die abwartende Haltung Brüssels bestätigt: „Niemand hat mich um eine Aufwertung des Mandats gebeten, denn niemand hat es für notwendig gehalten. Wir haben uns also nicht eingeschaltet, aber selbst wenn wir es getan hätten, wären wir ganz sicher auf eine kategorische Weigerung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats gestoßen.“
Die Abgeordneten stellen also fest, daß Belgien „seine Schlüsselstellung als potentiell bedeutendster Truppenlieferant nicht ausgenutzt hat, um diplomatische Initiativen zu ergreifen, die die Resolution der Vereinten Nationen hätten verändern können.“ Alexis Brouhns, der belgische UN-Botschafter, rechtfertigt diese Haltung so: „Die Länder, die Truppen bereitstellten, hatten keinerlei Einfluß auf den Entscheidungsprozeß.“ Und er fügt hinzu: „Es hat keine Weigerung Belgiens gegeben, ohne ein stärkeres Mandat aktiv zu werden. Das hätte die Entscheidung im übrigen nicht geändert, sondern nur verzögert ...“6
ANNE-CÉCILE ROBERT