11.09.1998

Die französische Ruanda-Politik auf dem Prüfstand

zurück

Die französische Ruanda-Politik auf dem Prüfstand

SEIT einigen Monaten wird in Paris ein Thema diskutiert, das zu einem „Ruandagate“ werden könnte. Linke wie rechte französische Regierungen hatten zwischen 1990 und 1994 in Ruanda ein Regime unterstützt, auf dessen Konto in der Folgezeit einer der vier Völkermorde des 20. Jahrhunderts gehen sollte. Seit März 1998 arbeitet ein parlamentarischer Informationsausschuß an der Aufarbeitung dieser Politik. Die späte Gewissensprüfung anläßlich dieses dramatischen Falls hilft womöglich der ehemaligen französischen Kolonialmacht, die weiter ihrer afrikanischen „Berufung“ nachhängt, die Grundlagen für eine neue Art von Partnerschaft in der Region der Großen Seen wie auch in ganz Afrika zu legen. Das setzt voraus, die Bedingungen für Auslandseinsätze der französischen Streitkräfte neu zu definieren. Zugleich könnte Frankreich damit auch einige offene Rechnungen mit sich selbst begleichen.

Von PHILIPPE LEYMARIE *

Seit April 1998 tagt in Paris der parlamentarische Informationsausschuß zu Ruanda. In zwei Monaten soll der Bericht veröffentlicht werden, aber schon jetzt haben die meisten Mitglieder das Gefühl, daß künftig nichts mehr sein wird wie zuvor. Es wurden unendlich viele Dokumente zusammengetragen (Hunderte diplomatischer Telegramme, militärische Sondermeldungen, Lageberichte der Geheimdienste, Unterlagen über den Export von Militärgütern). Und es wurden viele und gewichtige Zeugen gehört, um herauszufinden, aufgrund welcher Verkettung von Ereignissen, Beweggründen, Entscheidungen und Handlungen die französische Regierung sich zwischen 1990 und 1994 in diesem kleinen Land in der Region der Großen Seen diplomatisch und militärisch so engagiert hat, daß einige Kommentatoren schließlich Frankreich der „Komplizenschaft“ beim Völkermord bezichtigen konnten.1

Die Nachforschungen des Ausschusses sind um so beeindruckender, als hier in einem offenen Forum ein Teil des nationalen Selbstbildes zur Debatte steht; es geht um eine zentrale Frage der Außenpolitik, die in Frankreich traditionell in die alleinige Kompetenz der Exekutive fällt, und hier wiederum um ein Thema, das lange Zeit ein Tabu war: die Afrikapolitik. Dieser Versuch einer Introspektion, der vielleicht sogar das Thema der Verantwortung nicht aussparen wird, zeugt davon, daß nach Jahren des Schweigens und der Kollektivschuld in Frankreich nunmehr der Wille existiert, die Interventionen im Ausland einer Prüfung zu unterziehen, aus dem französisch-ruandischen Schlamassel herauszukommen und ein neues geopolitisches Konzept zu entwickeln; der Wille also, den Weg der Partikularinteressen und „Einflußzonen“ hinter sich zu lassen und die Existenz eines „anderen Afrikas“ zur Kenntnis zu nehmen.

Als die ersten der obersten Entscheidungsträger aus der damaligen Zeit – ob linker oder rechter Couleur – zu Anfang vor den Mitgliedern des Informationsausschusses aussagten, hatte man den Eindruck, sie wollten die von Frankreich damals vertretene Haltung lediglich kritiklos darstellen und verteidigen. Admiral Jacques Lanxade, Generalstabschef der Armee von 1991 bis 1995, hielt die Kritik der in- und ausländischen Presse an der französischen Ruandapolitik für „äußerst ungerecht“. Edouard Balladur, Premierminister von 1993 bis 1995, sprach von einer „Haßkampagne“, und Bernard Debré, von 1994 bis 1995 Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, sah darin einen Ausdruck von „Selbstkasteiung und Einheitsdenken“. Und das, obwohl Frankreich damals „hoffnungslos alleine“ dastand, wie Hubert Védrine meinte (Berater für diplomatische Angelegenheiten und danach Generalsekretär des Präsidialamts von 1991 bis 1995), also „das einzige Land der Europäischen Gemeinschaft war, das überhaupt etwas unternommen hat“ (Balladur) und laut Alain Juppé, Außenminister von 1993 bis 1995, „mit gutem Beispiel voranging“. Die meisten versicherten wie Roland Dumas, Außenminister von 1988 bis 1993, sie würden „nichts an dem damaligen Vorgehen bereuen“, ja wären sogar „mit Recht stolz“ darauf (Juppé).2

Ganz so, als sei diese Politik nicht letztendlich auf allen Ebenen gescheitert: Das gilt für die ungeschickte Unterstützung des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana, die weder die Radikalisierung des Regimes noch die erste Welle von Massakern in den Jahren 1991 und 1992 verhindern konnte; für das völlige Verkennen von Wesen und Strategie der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), des bewaffneten Arms der nach Uganda geflüchteten Tutsi und ihrer „gemäßigten“ Hutu-Verbündeten; schließlich für die Unfähigkeit, die Friedensabkommen von Arusha umzusetzen, was schließlich im entsetzlichen Genozid von 1994 endete.

Alle Aussagen der damals Verantwortlichen belegen, wie selbstverständlich man der traditionellen geopolitischen Denkweise der Militär- und Politikkreise verhaftet war. Für Präsident Mitterrand (so Admiral Lanxade) war „die Aggression von seiten der RPF ein bewußter Angriff auf ein frankophones Gebiet“. Laut Debré sah Mitterrand in der US-amerikanischen Unterstützung für Uganda – und in dem von Uganda ausgehenden Vordringen ausländischer Kräfte nach Ruanda – ein „Hegemonialbestreben der Amerikaner“ am Werk. Hinzu kam (so Christophe Mitterrand, von 1986 bis 1992 Berater für afrikanische Angelegenheiten in der Regierung seines Vaters), daß kaum jemand außer „Präsident Habyarimana die Rede des französischen Präsidenten von La Baule zur Demokratisierung Afrikas positiv aufnahm“; „man konnte nicht einfach zusehen, wie eine legitime Regierung gestürzt wird“ (so Védrine), denn Frankreich hätte sonst (erklärte Dumas) „an Prestige und Autorität verloren“. Es ging also darum, „ein klares Signal“ zu setzen (Admiral Lanxade), da sich „die Tutsi-Minderheit anschickte, mit Material- und Truppenhilfe aus Uganda einen Eroberungsfeldzug durchzuführen“ (Balladur).

Diese einhellige Argumentationsweise basiert auf traditionellen Denkschemata: alle Ausführungen der ehemaligen und derzeitigen Verantwortungsträger folgen offensichtlich der Vorstellung von einer kulturellen und politischen „Front“, von einer Aufteilung der Einflußsphären, die sie – wie zu Zeiten der Kolonialreiche oder des Kalten Kriegs – gegen den Ansturm feindlicher Mächte verteidigen und deren Grenzverlauf sie sichern müssen, wie „Paten“, die sich gegenüber ihren jeweiligen „Schützlingen“ beweisen müssen. Einige Mitglieder des Parlamentsausschusses zeigten sich verblüfft, daß ihnen bezüglich des Afrikas der Großen Seen fast unverändert die Idee vom „Pseudokrieg der Einflußbereiche“ vorgetragen wurde, der Frankreich angeblich bereits den „Verlust von Zaire“ eingetragen habe. „Die RPF schickte sich an, in Ruanda die Macht zu erobern – na und?“ meinte einer der Parlamentarier. Seiner Ansicht nach hätte Frankreich bereits im Oktober 1990 aus Ruanda abziehen müssen, gleich nach der Evakuierung seiner Staatsangehörigen3 , und nie das Risiko eingehen dürfen, dort ins Kriegsgeschehen hineingezogen zu werden.

Doch genau diese Einstellung stand im Zentrum der Analyse, die der Ausschuß vornahm. Handelte es sich ab dem ersten Angriff der RPF im Oktober 1990 um einen klassischen Eroberungskrieg zwischen zwei Ländern oder eher um einen Bürgerkrieg? Bei seiner Anhörung erklärte der damalige Außenminister Roland Dumas: „Ich nenne das eine von außen kommende Aggression. Das heißt nicht, daß sie nicht auch legitime Forderungen beinhaltete. Es handelte sich um eine Minderheit, die ihr Recht einforderte, und dieses Recht hätte sich in dem demokratischen Regime, das wir einführen wollten, artikulieren können. War es wirklich gerechtfertigt, von außen Hilfe zu holen unter Bedingungen, wie wir sie heute kennen, um eine legitime, international anerkannte Regierung zu bekämpfen?“

Michel Rocard, der ehemalige Premierminister, widersprach dieser Analyse jedoch heftig: „Aus der heutigen Sicht der Ruander hat die RPF den Genozid beendet. Sie war eine Befreiungsarmee, die aus dem Ausland kam, genauso wie die Division Leclerc (im Zweiten Weltkrieg), die aus England kam und Paris befreite. Meiner Ansicht nach handelt es sich um einen Bürgerkrieg, und die Befreiungsarmee gegen das verhaßte Regime wurde im Ausland ins Leben gerufen, weil sie im Inneren nicht entstehen konnte (...).“

Präzise Fragen – vage Antworten

FÜR die Verteidiger der damaligen französischen Politik war die Unterstützung für das ruandische Regime keineswegs so monolithisch wie behauptet: Frankreich habe „Präsident Habyarimana mehrmals unter Druck gesetzt“ (Védrine), um ihn „zu Verhandlungen, zur Versöhnung und zu einer Teilung der Macht zu veranlassen“ (Juppé). Die Bemühungen Frankreichs, die Spannungen in Ruanda zu verringern, waren „notwendig, berechtigt und verdienstvoll“ (Edith Cresson, Premierministerin von 1991 bis 1992). Die Militärs, so führte sie aus, entwickelten eine „indirekte Unterstützungsstrategie“, indem sie vor Ort nicht direkt eingriffen, aber Ausbildungskurse und Materiallieferungen organisierten sowie Truppen aufstellten, deren Stärke variierte, je nachdem, welches „Signal“ man geben wollte. Man sah darin eine Methode, um „Zeit zu gewinnen und eine politische Lösung zu ermöglichen“, wie General Christian Quesnot erklärte, der von 1991 bis 1995 Chef des militärischen Sonderstabes im Präsidialamt war. Doch für die Hutu- Extremisten war die Botschaft nicht einsichtig, da die Angehörigen der „Abordnung für intermilitärische Zusammenarbeit“ (DAMI) im selben Zeitraum weiterhin ruandische Truppen ausbildeten, die Mitarbeiter der Technischen Militärassistenz (AMT) weiterhin ihre einheimischen Kollegen bei der Durchführung der Militäroperationen berieten und die Truppen der Operation Noroit stationiert blieben. (Die Operation Noroit war der Name für die französische Militärintervention an der Seite Habyarimanas gegen die RPF im Jahr 1990.)

Die Radikalisierung der Machthaber in Kigali war dem französischen Führungskreis zwar nicht entgangen, aber man entschied sich, dennoch „Präsident Habyarimana weiterhin zu unterstützen, der als gemäßigt galt und zur Teilung der Macht bereit schien“, wie es Jean-Christophe Mitterrand formulierte. In der Folgezeit schien der französische Präsident „die Massaker seitens der Hutu, die von Frankreich so lange unterstützt worden waren, als persönlichen Verrat“ anzusehen, so Bernard Debré, der ehemalige Minister, der später Mitterrands Arzt war4 . Mitterrand erklärte ihm: „Ich wußte, daß der Sturz Habyarimanas eine Destabilisierung der gesamten Region bedeuten würde.“

Mitterrand persönlich steuerte aus dem Elyseepalast die Außenpolitik Frankreichs, insbesondere die Afrikapolitik – in enger Abstimmung mit dem Außenministerium und den Ministerien für Verteidigung bzw. Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Michel Rocard gab vor dem Ausschuß an, daß er im Oktober 1990 – damals war er Premierminister – „nie etwas über Ruanda gehört“ und „von der Operation Noroit erst durch die Presse erfahren“ habe. Der ehemalige Außenminister Roland Dumas rechtfertigte sich: „Das System, auf dessen Grundlage wir arbeiteten, insbesondere die zentralisierten Entscheidungsstrukturen und die Machtkonzentration, stammte aus der Fünften Republik.“

1992 waren die Friedensverhandlungen in Ruanda offensichtlich nicht die vordringlichste Frage. „Zu jener Zeit gab es jede Woche eine andere Krise“ (in Afrika), so Edwige Avice, Ministerin für Wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1991 bis 1992. Das ruandische Dossier sei genauso behandelt worden „wie die anderen afrikanischen Krisen: mit Zurückhaltung, aber ohne Geheimhaltung“ (General Christian Quesnot). Der parlamentarische Ausschuß, dem auch hohe Beamte und Offiziere angehörten, die damals vor Ort gewesen waren, wird genau herausfinden müssen, auf welche Weise welche Informationen gesammelt und weitergegeben wurden und wie genau der Mechanismus der Entscheidungsfindung und -umsetzung beschaffen war, dessen Fäden im Elyseepalast zusammenliefen.5 Ferner wird er nach der Legalität der Operation Noroit fragen müssen, die von Oktober 1990 bis Dezember 1993 währte und von der der Vorsitzende des Informationsausschusses, Paul Quilès6 , jetzt schon sagt, sie habe „den Rahmen der Kooperationsabkommen verlassen“, da die französischen Truppen auch dann noch vor Ort blieben, als die französischen und belgischen Staatsangehörigen bereits evakuiert waren, zu deren Schutz man die Truppen gerade entsandt hatte.7

In der Zeit vor dem Abschluß des Abkommens von Arusha im August 1993 überschlugen sich die Ereignisse: Gewalt, militärische Offensiven und Waffenlieferungen begleiteten die mehrfachen Bemühungen um eine Verhandlungslösung. Für die meisten der angehörten ehemaligen französischen Verantwortlichen war es die RPF, die durch ihren Angriff auf Ruanda den Krieg auslöste, der zum Genozid führte. „Die RPF hatte sich für den militärischen Sieg und gegen den Weg des politischen Kompromisses entschieden“, dabei hätte dieser als einziger eine Lösung geboten, um „eine derart komplexe Gesellschaft“ zu verwalten, erklärte General Christian Quesnot8 . Seiner Meinung nach gab es erst „ziemlich spät“ Kontakte zu den Rebellen – als „Haß und Angst vor dem anderen“ längst um sich gegriffen hatten und ein „grausamer und totaler“ Krieg herrschte, bei dem „wenige Gefangene gemacht“ wurden.9

Diesem hohen französischen Offizier zufolge rührte der Ausbruch des Völkermords von der Art und Weise, wie das Abkommen von Arusha die Macht zwischen dem hutudominierten Regime und der Tutsi-Minderheit aufteilte. Da der RPF darin ein „außergewöhnlich hoher Machtanteil“ (55 Prozent der Offiziere und 40 Prozent der Truppen) zugebilligt wurde, „ahnte ich damals, daß dies nur schwer umsetzbar sein würde“, erklärte der ehemalige Generalstabschef beim Präsidialamt. Dann erinnert er daran, daß Präsident Habyarimana erst nach „sehr starkem Druck“ unterschrieben hatte, während die Verbündeten der RPF ihren Schützling nicht so sehr beeinflußt hätten. Nach dem ehemaligen ruandischen Verteidigungsminister James Gasana10 allerdings bestand damals ein „starkes Ungleichgewicht“ zwischen der französischen Militärpräsenz in Ruanda und der Untätigkeit des französischen Vertreters bei den Verhandlungen in Arusha, was „den falschen Eindruck erweckte, Paris setze auf eine militärische Lösung.“

Über das Ausmaß der Beteiligung französischer Truppen an den Auseinandersetzungen mit der RPF, über die Waffenlieferungen an die ruandischen Regierungstruppen und über den Status der Operation Turquoise (bei der französische Fallschirmeinheiten gegen Ende des Völkermordes versuchten, eine Schutzzone für Flüchtlinge einzurichten) erhielten die Parlamentarier auf ihre vielen Fragen meist nur ungenaue Antworten. Das zeigt, daß die Armee im wesentlichen an ihrem Schweigekodex festhält, auch wenn einige höhere Offiziere sich erstmals zu Zeugenaussagen durchgerungen haben, einige sogar öffentlich und aus eigenem Antrieb. So hat General Christian Quesnot versichert, „seiner Kenntnis nach“ hätten die französischen Soldaten von der „Technischen Militärassistenz“ im wesentlichen nur ihre Aufgabe erfüllt, die einheimischen Truppen in der Bedienung der gelieferten militärischen Geräte auszubilden, wie auch in der Taktik, wie Infanterie und Artillerie koordiniert werden – ohne jemals selbst an Kämpfen teilzunehmen.

Möglicherweise, so konstatieren diverse Zeugen, waren „die Beziehungen einiger französischer Militärvertreter (bzw. des Geheimdienstes) zu Habyarimana zu eng“ (Védrine), und möglicherweise hat sich „unser Personal aufgrund der territorialen Enge des Landes mitunter in der Nähe von Kampfhandlungen befunden“ oder gar die ruandische Uniform getragen, „um ihre Identität geheimzuhalten“ (Admiral Lanxade). All diese Punkte werden derzeit überprüft. James Gasana hat bestätigt, ein höherer französischer Offizier sei in den Generalstab der ruandischen Armee abgeordert worden. Außerdem „kam es vor, daß die Ausbilder mit ihren Schülern in Kampfzonen fuhren“, doch sie „haben ihnen keine operationellen Anweisungen gegeben“, auch wenn, wie Gasana betont, „die schweren Waffen nur mit französischer Erlaubnis eingesetzt wurden“.

Im parlamentarischen Ausschuß verhehlt man nicht, daß man ein Thema noch „weiter bearbeiten“ will, nämlich die Zusammensetzung und die Aufgaben des berüchtigten DAMI, dessen Mitarbeiterzahl aufgestockt worden war und das möglicherweise an geheimen Operationen teilgenommen hat. Auch die damalige Praxis französischer Soldaten, bei Straßenkontrollen die Angehaltenen nach ihrer ethnischen Herkunft zu befragen, ist Gegenstand der Untersuchungen. Der ehemalige Leiter der französischen Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda, Michel Cuingnet, meinte dazu, die französische Armee habe sich wie eine „Besatzungsmacht“ verhalten.11 Das gilt auch für den zeitlichen Ablauf der Waffenbestellungen und -lieferungen. Im Zentrum des Interesses stehen ferner die Verstärkung der ruandischen Regierungstruppen unmittelbar vor dem Abkommen von Arusha sowie die Umstände ihrer Ausbildung und Ausrüstung durch die Franzosen, die dazu führten, daß in jener Zeit 70 Prozent der Ausgaben des ruandischen Staatshaushalts für Kriegszwecke ausgegeben wurden.

Wer ermordete Habyarimana?

EIN weiteres brisantes Thema ist die tragische Verkettung der Ereignisse von 1994 selbst. Woher stammte die mysteriöse Rakete, die Habyarimanas Flugzeug abschoß und damit den Genozid auslöste? Über dieses Schlüsselereignis hat es bislang keinerlei offizielle Untersuchung gegeben. Man ist also weiterhin auf Mutmaßungen oder unbewiesene Halbwahrheiten angewiesen.

Gibt es eine Spur, die nach Frankreich führt? Das wäre „einem Schuß ins eigene Bein“ gleichgekommen, meint General Quesnot. War es demnach ein Anschlag der Hutu-Extremisten, die das Abkommen von Arusha torpedieren wollten? Manche Informationen, die dem Ausschuß zur Verfügung stehen, scheinen in diese Richtung zu deuten. Auch einige Experten tendieren zu dieser Erklärung, darunter Gérard Prunier, der Beweise dafür haben will. Oder aber war es eine Aktion der Rebellen, eingefädelt vom amerikanischen Geheimdienst? Dieser Überzeugung ist etwa der ehemalige Minister Bernard Debré. Beiläufig äußern alle Beteiligten Vermutungen über die Herkunft der Rakete. Doch ist fraglich, ob der parlamentarische Ausschuß die notwendigen Mittel haben wird, um in der finsteren Halbwelt der Geheimdienste und Söldner Nachforschungen anzustellen, wo sich unter anderen der ehemalige Gendarmerieoffizier Paul Barril aufhält, der seine geheimdienstlichen Fähigkeiten in den Dienst der Familie Habyarimana gestellt hatte.

Doch vor allem wird es notwendig sein, die Hintergründe der im Juni 1994 durchgeführten Operation Turquoise aufzuklären, die von allen Seiten als fragwürdig angesehen wird. Hat die von den zairischen Städten Goma und Bukavu aus unternommene Schaffung einer „sicheren humanitären Zone“ für die Flüchtlinge in Südwestruanda wirklich Menschenleben gerettet, wie die damaligen Verantwortlichen bei ihrer Anhörung erneut behauptet haben, und wenn ja, wie viele, wo doch der eigentliche Genozid bereits weitgehend abgeschlossen war? Oder hat diese Operation vielmehr wesentlich zu einer weiteren Verschärfung der Lage und Destabilisierung der Region beigetragen? Schließlich sind damals in seiner Folge Hunderttausende Ruander nach Ostzaire geflohen: die Folgen davon sind noch heute in der Region zu spüren. „Wir konnten keine Verbrecher verhaften, das war in unserem Mandat nicht vorgesehen“, erklärte Edouard Balladur bei seiner Anhörung, worauf Jean-Hervé Bradol von Médecins Sans Frontières erklärte: „Einen Genozid bekämpft man nicht mit Kisten voller Kekse.“

Der für Oktober erwartete Bericht des Ausschusses muß viele Fragen beantworten. Es scheint, als habe man das klassische Schema der französischen Interventionspolitik in Afrika, das seit dreißig Jahren angewandt wird, auf ein Land und eine Situation übertragen, für die es nicht geeignet war. War man sich eigentlich darüber im klaren, welch zerstörerische Auswirkungen die mechanistische Anwendung „demokratischer“, auf Mehrheitsentscheidungen beruhender Grundsätze in einer Region haben kann, die noch nie nach dem Prinzip „ein Mensch, eine Stimme“ funktioniert hat? Wäre es nicht klüger gewesen, anstatt die RPF als Aggressor zu etikettieren, in Rechnung zu stellen, daß gerade der politische Druck und die Forderung der RPF nach Teilung der Macht zu einer Beschleunigung der Demokratisierung beigetragen hatte, bevor alles sich zum Bösen wandte?

Handelte es sich in erster Linie um einen „geopolitischen Fehler“, wie es Michel Rocard sieht, der meint, man habe sich „für die falsche Seite entschieden“? Hat Frankreich „aus Unwissenheit und Dünkel“ sich so verhalten (Michel Cuingnet)? Hat das Land dadurch, daß es sich zumeist auf Habyarimanas Seite stellte und dabei so manches Mal manipuliert wurde, zur „Machbarkeit des Genozids“ beigetragen (Prunier), selbst wenn es den Völkermord nicht kommen sah, geschweige denn herbeigewünscht oder begleitet hat, wie in manchen wahnhaften Andeutungen unterstellt wird?

„Wir haben es nicht getan, nicht gewollt, nicht orchestriert, aber wir waren da“, faßt es ein Parlamentarier vorab zusammen. Ist Frankreich vielleicht in diesem Sinne mehr „verantwortlich“ denn „schuldig“? Die Hauptfrage ist aber, ob das Land auch derart abgedriftet wäre, wenn die Verantwortung nicht in den Händen eines einzelnen (noch dazu kranken) Menschen gelegen hätte. Mit anderen Worten: wenn die wesentlichen Entscheidungen von mehreren getroffen und die gesamte Nation bzw. ihre Vertreter miteinbezogen worden wären. Statt dessen wurden sie systematisch von allen Entscheidungen ausgeschlossen, bei denen – wie zumeist bei militärischen Interventionen – die Souveränität und in einigen Fällen auch die Ehre des Landes auf dem Spiel stand.

dt. Christiane Kayser

* Journalist bei Radio France International, Paris.

Fußnoten: 1 Siehe dazu u.a. Colette Braeckman „Autopsie d'un génocide planifié au Rwanda“, Le Monde diplomatique, März 1995; François-Xavier Verschaeve, „Connivences françaises au Rwanda“, Le Monde diplomatique, März 1995; Philippe Leymarie „Litigieuse intervention française au Rwanda“, Le Monde diplomatique, Juli 1994. 2 Fast alle öffentlichen Anhörungen des parlamentarischen Informationsausschusses zu Ruanda können über eine Website eingesehen werden, die von den Initiatoren eines Aufrufs zur Schaffung einer Untersuchungskommission zur französischen Ruandapolitik gemeinsam mit Médecins Sans Frontières aufgebaut wurde. Adresse: http://www.paris.MSF.org. Ferner gibt es eine Website des internationalen Dokumentationsnetzwerks zur Region der Großen Seen, u.a. mit den Anhörungen des belgischen Senats und des internationalen Gerichtshofs zu Ruanda: http:// www.grandslacs.net. 3 Wie es im übrigen im Juni 1997 in Brazzaville geschah. Über die RPF vgl. „Au Rwanda, les massacres ethniques au service de la dictature“, Le Monde diplomatique, April 1993. 4 Professor Bernard Debré war Minister für Entwicklungszusammenarbeit und leitet jetzt den urologischen Dienst im Cochin-Krankenhaus in Paris, in dem Präsident Mitterrand mehrmals operiert worden ist. 5 General Christian Quesnot hat zum Beispiel zugegeben, daß die Informationen, die er im Sonderstab beim Präsidialamt benutzte, „zu 90 Prozent von der Direktion des militärischen Geheimdienstes stammten“ und daß es „keine schriftliche Zusammenfassung aller Informationen gab“. 6 Er war selbst von 1985 bis 1986 Verteidigungsminister. 7 Der Abschlußbericht des Ausschusses wird klären müssen, ob tatsächlich die Gefahr eines Angriffs der RPF auf Kigali bestand und was es mit den „Schüssen in die Luft“ der damaligen Regierungssoldaten auf sich hat. Der Universitätsprofessor Gérard Prunier meint dazu: „Wir sind manipuliert worden.“ 8 Für den ehemaligen Leiter des militärischen Kabinetts von Präsident Mitterrand ist es nicht verwunderlich, daß die RPF, „die ursprünglich eine militärische Bewegung war“, sich für den militärischen Weg entschied, „zu dem sie über die Mittel verfügte“. General Quesnot erinnert daran, daß der Gründer der RPF, Fred Rwigiema, vorher Generalstabschef der ugandischen Armee gewesen war und daß sein Nachfolger Paul Kagame, der jetzige „starke Mann“ Ruandas und ehemalige Leiter des militärischen Geheimdienstes Ugandas, in Tansania, Kuba und an der Kriegsschule und bei den Sonderkommandos der USA ausgebildet worden ist. 9 General Quesnot schätzte 1991 die Verluste der ruandischen Regierungstruppen (FAR) auf 5000 Mann. Zur gleichen Zeit schätzte man die gesamte Truppenstärke der RPF auf etwa 10000 Mann. 10 James Gasana war von 1992 bis 1993 ruandischer Verteidigungsminister. Neben Faustin Twagiramungu war er der zweite ruandische Hutu-Oppositionspolitiker, der vom Ausschuß angehört wurde. Beide waren im Rahmen der Politik der „Öffnung“, die Habyarimana nach dem Gipfel von La Baule und dem Ausbruch des Krieges eingeleitet hatte, der Regierung beigetreten. 11 Michel Cuingnet war von 1989 bis 1993 Leiter der französischen Delegation für Hilfe und Zusammenarbeit in Ruanda und hat als erster Beamter vor dem parlamentarischen Ausschuß die Politik Frankreichs in dieser Periode heftig kritisiert.

Le Monde diplomatique vom 11.09.1998, von PHILIPPE LEYMARIE