11.09.1998

Die Dämme der Weltwirtschaft geraten unter Druck

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Die Dämme der Weltwirtschaft geraten unter Druck

DIE Freigabe des Rubelkurses, die am 17. August angekündigt wurde, trägt zur Ausbreitung der weltweiten Wirtschaftskrise bei. Folge dieser faktischen Abwertung ist der Zusammenbruch von Banken, was wiederum den Niedergang der russischen Wirtschaft zu beschleunigen droht. Jelzins Entscheidung unterminiert seine eigene Glaubwürdigkeit, aber auch die des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Rußland einen Kredit gewährt hat, dessen extrem milde Bedingungen in krassem Gegensatz zu der Brutalität stehen, mit welcher der IWF die asiatischen Länder behandelt hat. Die internationale Krise rückt auch Europa immer näher. Rußlands Wirtschaftsbeziehungen mit den Ländern der EU, vor allem mit Deutschland, sind sehr eng. Dennoch liegt das Epizentrum dieser Finanzkrise mehr denn je in den Vereinigten Staaten, von deren Aktienmärkten alle anderen abhängen.

Von FRANÇOIS CHESNAIS *

In seiner Aussage vor dem Unterausschuß für das Bankenwesen beim Senat der Vereinigten Staaten hat Alan Greenspan, der Präsident der amerikanischen Federal Reserve (FED), am 21. Juli 1998 erneut vor dem „unrealistischen“ Preisniveau der Wall-Street-Aktien und den ebenso unrealistisch hohen Renditeprognosen der Börsenbeobachter gewarnt. Da die Märkte nach dem Ansteigen der Börsenwerte um 60 Prozent innerhalb der letzten achtzehn Monate immer noch keine Vernunft annehmen wollten, konnte Greenspan seinen Fatalismus nicht verhehlen: „Die Geschichte lehrt uns, daß es zu einer einschneidenden Kurskorrektur kommen wird, denn die Geschichte ist von periodischen Abschwungphasen geprägt, und da die menschliche Natur die gleiche bleibt, werden auch solche Phasen zweifellos immer wieder auftreten.“ Diesmal fand er Unterstützung beim Präsidenten der deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer.1 Denn die Schockwelle der Asienkrise ebbt nicht etwa ab, sondern wird eher noch stärker.

Vor etwas mehr als einem Jahr begann mit der erzwungenen Abwertung der thailändischen und der indonesischen Währung eine heftige Finanzkrise, die in weniger als sechs Monaten vier Länder (Süd- Korea, Malaysia, Indonesien und Thailand) heimgesucht und sämtliche Volkswirtschaften dieser Region in Mitleidenschaft gezogen hat.2 Von den drei Polen der Globalisierung wird ausgerechnet derjenige von der Krise ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen, der zehn Jahre lang als Musterbeispiel der „neuen liberalisierten und deregulierten“ kapitalistischen Wirtschaft gegolten und vor allem als Auffangbecken für die Kapitalüberschüsse der Länder der OECD (Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) hergehalten hat. Die zerstörerischen Folgen greifen in dem Maße um sich, in dem die Folgen der Entscheidungen sich bemerkbar machen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) empfohlen oder erzwungen hat.

In Ostasien hat die Krise schon zur Schließung von mehreren hundert großen und kleinen Produktionsbetrieben und damit zur Ausgrenzung eines beträchtlichen Potentials an Arbeitskräften geführt und vor allem zum Zusammenbruch der sozialen Grundlagen sowie der institutionellen Mechanismen des wirtschaftlichen Lebens. Dadurch wurden in Indonesien und Thailand Zehntausende Menschen einem Elend ausgeliefert, das noch tiefreichender ist als in Süd-Korea und in Japan.3

Gleichzeitig boomten jedoch die Aktienkurse in den westlichen Ländern. Diese Hausse beruht auch auf einem „subjektiven“ Element, über das sich die Börsianer einig sind, wiewohl sie sein Ausmaß unterschiedlich einschätzen: auf der Euphorie angesichts der weltweiten „Finanzblase“ an den Aktienmärkten und deren Angelpunkt, der Wall Street in New York.

Der Weltbank zufolge wurden aus den vier asiatischen Ländern, die am stärksten von der Krise betroffen waren, etwa 110 Milliarden Dollar abgezogen. Die Niedrigzins-Konjunktur wie auch die frenetische Börsenhausse stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem massiven Zufluß liquiden Kapitals, der sich auf die großen westlichen Finanzplätze konzentriert und dort die Euphorie der „neuen Investoren“ aus den oberen Mittelschichten immer weiter angeheizt hat. Während in Asien das Elend der Menschen sich in grausame Dimensionen steigert, gibt es anderswo keinerlei Skrupel, die „guten Seiten“ der Krise zu feiern.

Die sich anbahnenden Erschütterungen könnten Schockwellen von einer Stärke und symbolischen Ausstrahlung verursachen, daß kein Bereich der Weltwirtschaft vor ihnen geschützt sein würde. Das Epizentrum dieser Beben wird in den Vereinigten Staaten liegen. Aufgrund der hochgradigen Hierarchisierung der Finanzwelt besteht allein in New York und Chicago die Möglichkeit, eine Infektion des globalen Börsensystems abzublocken. Der Aktienkurs der Wall Street hängt großenteils von der amerikanischen Wirtschaftslage ab, die aber zugleich ein empfindlicher Seismograph für alle übrigen Entwicklungen in der Welt ist. Das gilt besonders für Asien, wo nach allgemeiner Einschätzung die Krise keineswegs beendet ist, weder in ihren rein regionalen Wirkungen noch als Auslöser eines Rezessions- und Deflationsmechanismus. Denn Asien bewegt sich gerade von einer Rezessions- in eine typische Depressionsphase.

Zunächst ist hier der Unterschied zwischen den beiden Begriffen zu klären. Von Rezession spricht man, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen intakt bleiben, auf denen die Komponenten der effektiven Nachfrage in dem jeweiligen Land basieren. Dabei ist zu einem gewissen Zeitpunkt bei Zunahme des privaten Verbrauchs und der Investitionen oder aufgrund von Ankurbelungsmaßnahmen der öffentlichen Hand mit einer zyklischen Erholung zu rechnen. Eine Depression hingegen liegt dann vor, wenn das Schrumpfen von Produktion und Handel sich gegenseitig derart potenzieren, daß die sozialen Grundlagen der wirtschaftlichen Aktivität Schaden leiden. In diesem Stadium wird es unmöglich, auf einen Umschwung der Entwicklungstendenzen zu bauen, und die Einleitung klassischer Wiederankurbelungsmaßnahmen ist entweder schwer zu realisieren oder sinnlos. Exakt in dieser Lage befinden sich derzeit viele Länder Asiens, was für die gesamte Region bedrohlich ist. Eine Depression erkennt man zudem am Zusammenbruch der wesentlichen institutionellen Grundlagen, womit nicht nur die Akkumulation von Kapital, sondern auch die elementare wirtschaftliche Aktivität schlechthin gemeint ist.

Ein regionaler Dominoeffekt

WELCHE Mechanismen haben durch ihr Zusammentreffen die Nachfrage in Ostasien so schwer beeinträchtigt? Die Abwertung des thailändischen Baht und der indonesischen Rupiah, und dann der übrigen Währungen, ließ die Märkte und das Finanzsystem zusammenbrechen. Der abrupte Rückzug der Banken und das Einfrieren der öffentlichen Ausgaben, die unmittelbar folgten, ähneln auf den ersten Blick der Entwicklung, die im Winter 1994/95 zu Beginn der mexikanischen Krise nach der Abwertung des Peso eintrat.4 Jedoch weist der asiatische Wirtschaftskomplex einige Besonderheiten auf: die vornehmlich private Außenverschuldung bei internationalen Banken; die Verflechtung von unterschiedlichen außenhandelsabhängigen Volkswirtschaften; die aus eigenen Schwierigkeiten resultierende Unfähigkeit Japans, gegenüber den zuerst betroffenen Ländern Thailand und Indonesien als Kreditgeber letzter Instanz einzuspringen, wie es die USA gegenüber Mexiko getan hatten; der Ausbruch der Krise auch in Korea und Japan als den wichtigsten exportorientierten Industriestaaten, die zugleich Hauptabnehmer der Lieferungen aus den Nachbarländern sind.

Der erste Schritt in die Depression ist Folge der engen Verflechtung von Volkswirtschaften, die alle auf dem Modell „Wachstum durch Exporte“ gründen5 und damit aufeinander angewiesen sind. 1997 wurden 50 Prozent des Außenhandels von Thailand, Indonesien, Malaysia, den Philippinen und sogar China auf interregionaler Ebene abgewickelt, wobei wiederum die Hälfte der Exporte nach Japan ging. Für Korea liegt der Außenhandelsanteil etwas niedriger, allerdings bei besserer Qualität der exportierten Produkte. Die Kapazitäten der koreanischen Konzerne orientierten sich an der Erwartung, das regionale Wachstum werde sich im Rhythmus der frühen neunziger Jahre fortsetzen.

Als es dann in jedem der betroffenen Länder zeitgleich zum Währungsverfall und zum Schrumpfen der Märkte kam, verpufften die Wirkungen, die man sich von den Abwertungen erhofft hatte; die Deflation war nicht mehr aufzuhalten. Im ersten Halbjahr 1998 hat Thailand sein Exportvolumen um 25 Prozent gesteigert, allerdings bei sinkenden Einnahmen infolge des Preisverfalls der Produkte. Zugleich gingen die Importe im selben Umfang zurück. Die gesamte Region unterliegt nun einer Deflationslogik, deren „automatische“ Wirkungen die politisch gewollten Strategien der Preiskonkurrenz noch verschärfen. In Volkswirtschaften mit großen Einkommensunterschieden kann ein Einbruch der Auslandsmärkte nicht durch den Binnenkonsum ausgeglichen werden. Im Gegenteil: Der Exportrückgang beschleunigt die Verminderung der Binnennachfrage, da die industriellen Erträge und die mageren Einkommen aus Lohnarbeit im gleichen Maße schwinden.

Der Neoliberalismus hat die Wirtschaft in den Rang einer autonomen Sphäre erhoben, die zur Herrschaft über die gesamte Gesellschaft berufen ist, und will damit von deren politischen und sozialen Grundstrukturen abstrahieren. Er erklärt die Marktgesetze zu Naturgesetzen, und damit für unveränderlich, sobald sie sich irgendwo scheinbar durchgesetzt haben.

Nur diese – für bewußt oder unbewußt totalitäres Denken typische – Blindheit kann erklären, daß Indonesien noch Anfang 1997, also schon während des Niedergangs des Suharto-Regimes, von den „Experten“ der Weltbank an der Spitze der Länder mit besonders erfolgreicher Entwicklung gesehen wurde.

Eine ähnliche Blindheit zeigt der IWF, wenn er zahlungsunfähige Staaten zwingt, brutale makroökonomische Maßnahmen zu ergreifen, die die Rezessionseffekte nur verstärken und in der Depression enden. Viele Beobachter werfen dem IWF vor, die Rezession noch zu verstärken, doch diese Kritik bleibt oberflächlich und wird von führenden Neoliberalen6 selbst vorgebracht. Das Auftreten des IWF in Asien ist typisch für die Zukunftsvorstellungen derer, die insgeheim die Strukturen für eine sanfte Diktatur des Kapitals errichten. Zu ihnen gehört auch Renato Ruggiero, der Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO), der das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) als „Grundlage der globalisierten Wirtschaft des 21. Jahrhunderts“ preist.7

Eine Studentenrevolte und Volksaufstände, die das Suharto-Regime beendeten, wurden im Aktionsprogramm des IWF ebensowenig berücksichtigt wie das soziale Chaos, das sich in Indonesien ausbreitete. Die Reaktion der koreanischen Arbeiterklasse und ihrer unabhängigen Gewerkschaften war zwar vorauszusehen, nicht aber ihr breiter Rückhalt in der Bevölkerung und der scharfe Antiamerikanismus, der ganz Korea erfaßt hat.

Diese politischen Aufstände sind inzwischen integraler Bestandteil der sich weiter ausbreitenden asiatischen Turbulenzen, die auf die übrige Weltwirtschaft ausstrahlen. In den kommenden Monaten wird kein Land dieser Region, auch nicht das von der Kommunistischen Partei an der Kandare gehaltene China, vor heftigen sozialen Unruhen gefeit sein.

Solange ein riesiger Brandherd weiterschwelt, bringt eine kurzfristige relative Beruhigung des Finanz- und Börsengeschehens nur eine trügerische Ruhe, von der sich nur täuschen läßt, wer es nötig hat, die öffentliche Meinung zu beschwichtigen. Im Bereich der Produktion und des Warenaustauschs (den man etwas schief als „reale Sphäre“ bezeichnet) wirken die Mechanismen der globalen Ausbreitung der Krise weiter. Sie lassen zunächst die Preise für Rohstoffe und Industrieprodukte sinken und verschärfen damit die Konkurrenz.8 So werden „Welle für Welle die Deiche der Weltwirtschaft getestet“9 , bis die spekulativen Angriffe überhandnehmen und die Finanzinstitutionen das letzte Wort sprechen.

Wo die Deiche am schwächsten sind, ist allgemein bekannt: in Rußland und Brasilien, aber auch in Asien selbst, in Hongkong, Singapur und vor allem in China. Der genaue Zustand dieses Riesenlandes ist ebensowenig bekannt wie der Spielraum, der seiner politischen Führung zur Verfügung steht. Aus US-amerikanischer Sicht ist allerdings Japan zur Zeit das am meisten gefährdete Glied in der Kette internationaler Wirtschaftsbeziehungen. Japan wurde von der Krise seiner Nachbarn in dem Moment voll erwischt, als es sich langsam von einem Rückfall in die seit 1991 latent anhaltende Rezession zu erholen begonnen hatte. In den neunziger Jahren hat Japan seine Wirtschaft sehr stark auf den asiatischen Regionalmarkt ausgerichtet, der 1997 41 Prozent seiner Exporte und 23 Prozent seiner Investitionen absorbierte.

Der Zusammenbruch des regionalen Handels hat Japan ebenso geschädigt wie die Nachbarländer. Die effektive Zahlungsunfähigkeit von Banken und Unternehmen der Region hat die 550 Milliarden Dollar an unsicheren Krediten in den japanischen Bankenbilanzen um 250 Milliarden Dollar aufgestockt. 1998 wird Japan ein negatives Wachstum verzeichnen (nach heutiger Schätzung minus 1,5 Prozent), so daß mittlerweile eine Rezession eingesetzt hat.10 Gerade Japan müßte aber in vorderster Reihe die brüchigen Deiche absichern.

Die Vereinigten Staaten und auch die europäischen G-7-Staaten erwarten – zumindest scheinbar –, daß Tokio die Binnennachfrage ankurbelt. Und dies so stark und so rasch, daß der Yen-Kurs und die Auslandsnachfrage gestützt werden, worauf die Exportländer der Region dringend angewiesen sind. Von dem neuen Premierminister Keizo Obuchi wird also erwartet, daß er gleichzeitig die Steuern senkt und die Wirtschaft ankurbelt, ohne sich dabei auf einen regionalen Aufschwung verlassen zu können. In seiner Regierungserklärung vom 7. August 1998 hat Obuchi diese Ziele tatsächlich – wenn auch wenig überzeugend – dem Parlament vorgetragen: Steuererleichterungen in Höhe von circa 7000 Milliarden Yen (49 Milliarden Dollar), ein Wirtschaftsförderungsplan von 10000 Milliarden Yen (70 Milliarden Dollar) und die Aussetzung des Haushaltskonsolidierungsgesetzes.

Außerdem müßte Japan ein gigantisches Programm zum Aufkauf uneinbringlicher Forderungen der Banken finanzieren, wofür mindestens 300 Milliarden Dollar zu veranschlagen wären. Als Sofortmaßnahme will Obuchi im Herbst sechs Gesetzesvorhaben über „Relais- Banken“ einbringen, über die ein „sauberer“ Konkurs nicht existenzfähiger Finanzinstitute möglich würde. Dafür müssen öffentliche Mittel in Höhe von 13000 Milliarden Yen (92 Milliarden Dollar) aufgebracht werden.11 Erneut wird damit in einer Notlage auf Rezepte zurückgegriffen, die man zuvor offiziell verworfen hatte.

Wie ansteckend ist die Asienkrise?

DIES alles unterstreicht nur die düsteren Prognosen Alan Greenspans über einen bevorstehenden Börsenkrach an der Wall Street. Wobei allerdings das Problem nicht von der menschlichen Natur herrührt, sondern von der Profitorientierung und den Mechanismen, die im kapitalistischen System die Entstehung riesiger rein fiktiver Kapitalmengen zulassen.12 Deshalb lassen sich derzeit auch keine präziseren Angaben zu dem genauen Zeitpunkt, den unmittelbaren Ursachen und dem Ausmaß der angekündigten „Korrektur“ machen, als es der Präsident der Federal Reserve getan hat. Diese Korrektur könnte in einem Ansteckungsprozeß durch das Börsengeschehen an anderen Orten ausgelöst werden – wofür in erster Linie Hongkong in Frage käme – oder aber (nach der jüngsten Abwertung des vietnamesischen Dong) durch eine eventuelle Abwertung des chinesischen Yuan.

Die große Nervosität an der Wall Street äußerte sich in dem plötzlichen „Absacken“ vom 4. August, als die Kurse an einem Tag um 3,4 Prozent fielen.

Ein von Hongkong oder Tokio ausgehender Börsenschock mit ansteckender Wirkung wie beim Mini-Börsenkrach vom 27. und 28. Oktober 1997 ist nicht mehr auszuschließen. Derzeit fürchtet man in Washington aber vor allem die Folgen einer sich verschlechternden Zahlungsbilanz auf den Wechselkurs und die überbewerteten Aktienkurse. Im Mai 1998 gingen die US-amerikanischen Asien-Exporte um 26 Milliarden Dollar zurück, was zum Rekordmonatsdefizit der Handelsbilanz von fast 16 Milliarden Dollar beitrug. Da der Dollar als Fluchtwährung gilt, werden die ausländischen Anleger sich zweimal überlegen, ob sie auf eine Dollarbaisse spekulieren. Sorgen macht aber auch die Konjunkturentwicklung, insofern die „realen“ Auswirkungen der Asienkrise mit dem Abflauen des Binnenwachstums zusammentreffen, aber auch mit den unkalkulierbaren Reaktionen der Börse auf „Monicagate“.

Zur Zeit ist die Binnennachfrage in den USA nach wie vor stark. Ihre Triebfeder ist der private Verbrauch, besonders im Dienstleistungssektor, wo allein im Juni 1998 215000 neue Stellen entstanden und die gearbeiteten Stunden um 2,4 Prozent angestiegen sind. Ein Konjunkturmotor ist auch der durch sinkende Zinsen stimulierte Wohnungsbau. Andererseits wird allmählich die sinkende Auslandsnachfrage spürbar. Im verarbeitenden Gewerbe beginnt der externe Faktor die internen Effekte zu überlagern: Im Mai 1998 ging der Index der industriellen Produktion um 0,6 Prozent zurück. Besonders schwierig ist die Lage der Informatikbranche, vor allem der Hersteller von Halbleitern und Computern, die seit zehn Jahren einen Großteil ihres Umsatzes durch Exporte nach Asien erzielen.

Im Automobilsektor haben die amerikanischen Konzerne ihren eigenen Anteil am Binnenmarkt zu verteidigen. Der Streik bei General Motors reagierte auf Pläne, Stellen abzubauen und vor allem die Zahl der unbefristeten Arbeitsverträge zu reduzieren, wie auch möglichst viel Arbeit in die Niedriglohn-Fabriken in Mexiko zu verlagern13 . Die härtere Haltung der Arbeitgeber erklärt sich teilweise aus der wachsenden Konkurrenz seitens japanischer und koreanischer Automobilkonzerne, die nur auf dem amerikanischen Markt die Chance sehen, die in Asien erlittenen Verluste zu begrenzen.

Alan Greenspan wirkt wie die Kassandra, die so lange warnt, daß die Börsenagenten und Anleger nicht mehr auf sie hören. Die Schockwelle der Asienkrise hat Greenspans Aufgabe kompliziert, denn inzwischen ist es quasi unmöglich geworden, die Zinssätze zu erhöhen: Damit könnte man zwar die billig verfügbaren Geldkapazitäten der Spekulanten begrenzen und an der Wall Street die Bremse ziehen, gleichzeitig aber womöglich die abhängigen, höchst anfälligen Börsen wie São Paulo, Singapur oder Hongkong in Panik versetzen. Je länger die Federal Reserve vor diesem Mittel zurückschreckt, um so größer ist die Gefahr, daß ihre Passivität zu einer „Korrektur“ führt, deren Folgen nicht zu kontrollieren sind.

dt. Margrethe Schmeer

* Professor an der Universität Paris-XIII-Villetaneuse, Verfasser von „La Mondalialisation de capital“, Paris (Syros) 1997.

Fußnoten: 1 Dazu The Economist, London, 18. Juli 1998. 2 Dazu besonders François Chesnais: „Asiatische Grippe oder weltweite Epidemie,“ Le Monde diplomatique, Februar 1998, wie auch Diana Hochreich, „Crise financière et compétitivité dans les pays d'Asie: au-delà de la crise boursière“, Les Etudes du CERI Nr. 42, Paris (Fondation des sciences politiques), Juni 1998. 3 Vgl. „Asia: Social Backlash“, Business Week, 17. August 1998, vor allem die Reportage über die reale Höhe und die sozialen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit in Japan. 4 Dazu Francis Pisani: „La fin des illusions pour le monde mexicain“, François Chesnais, „Défense et illustration de la dictature des marchés“ und Ignacy Sachs, „Quelques leçons de la crise mexicaine“, Le Monde diplomatique, Februar, März beziehungsweise April 1995. 5 Vgl. Gabriel Kolko, „Exportieren, exportieren!“, Le monde diplomatique, Mai 1998. 6 Jeffrey Sachs, „High Time to Reign in the IWF“, International Herald Tribune, Paris, 3. Mai 1998. 7 Über das MAI siehe Le Monde diplomatique von Februar und März 1998. 8 Das wird als Deflation bezeichnet und ist nichts anderes als das Gegenteil der Inflation. Im Gegensatz zu dieser gibt es kein bekanntes probates Mittel gegen die Deflation. Denn der Fall der Preise ergibt sich aus einer Verstärkung der Konkurrenz vor dem Hintergrund von Überproduktion, von einem Übermaß an Lagerbeständen und an Produktionskapazitäten wie auch der Umkehrung aller Vorherplanungen der Unternehmer. Die Deflation betrifft immer zuerst die Rohstoffpreise und dann die weiterverarbeitenden Produkte. 9 Pascal Blanqué, „Scénario: L'été indien“, Conjoncture, Paribas, Juli 1998. 10 Vgl. Philip S. Golub, „Schwellenländer an der Schwelle zum Absturz“, Le Monde diplomatique, Juli 1998. 11 Le Monde, 9./10. August 1998. 12 Business Week, 17. August 1998, benutzt den Begriff paper wealth (Papierreichtum), um einen signifikativen Teil der Summen zu bezeichnen, über den die reichen und mittelständischen Amerikaner verfügen. 13 Vgl. die Studie von Catherine Sauviat, „Grève contre la mondialisation à General Motors“, Chronique internationale de l'IRES, Nr. 53, Paris (Institut de recherche économiques et sociales), Juli 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.09.1998, von FRANÇOIS CHESNAIS