Volk ohne Hoffnung
UNTER all den Büchern, die in den vergangenen Jahren über die Kurden geschrieben wurden, verdient die Arbeit von Jonathan C. Randall einen besonderen Platz.1 Der Autor, ein amerikanischer Journalist von Weltruf, legt ein Werk vor, das die breite Öffentlichkeit genauso überzeugen wird wie die Nahost-Experten. Randall verfügt über eine ausgezeichnete Kenntnis dieser Region, die er als Journalist der Washington Post rund dreißig Jahre lang intensiv bereist hat. Seine Leidenschaft für die „harten Fakten“ und seine Fähigkeit zur klaren und nüchternen Analyse ist seit langem bekannt, und überdies hat er für dieses Buch über mehrere Jahre hinweg Dokumente aufgearbeitet und ausführlich vor Ort recherchiert.
Entgegen den amerikanischen Gepflogenheiten liefert Jonathan Randall einen Bericht mit persönlichem Duktus, indem er etwa seine Reisenotizen mit einbezieht. Die Leser begleiten ihn durch die Felder, Berge und Höhlen Kurdistans, er beschreibt die Schwierigkeiten und Gefahren, denen er ausgesetzt war, erzählt von seinen Begegnungen mit Kriegsherren, Geheimdienstagenten und Schattendiplomaten, die er in prägnanten Bildern nachzeichnet, und läßt uns an seinen Entdeckungen, Emotionen, Ängsten, Enttäuschungen und seiner Empörung teilhaben.
Sein Engagement für die Rechte der Kurden verleitet ihn allerdings nicht dazu, deren Führer zu schonen, geschweige denn die ausländischen Mächte, von denen sie schamlos manipuliert worden sind. Die ausgezeichnete Reportage ist angereichert mit historischen Daten und mit vielfältigen soziologischen und psychologischen Hintergrundinformationen, die ein besseres Verständnis jenes oft grausamen Schicksals erlauben, das dem kurdischen Volk widerfahren ist.
Die rund 25 Millionen Kurdinnen und Kurden leben auf einem Gebiet von der Größe Frankreichs, das jedoch der Souveränität mehrerer Staaten untersteht, insbesondere der Türkei, dem Irak und dem Iran. Seit Jahren kämpfen sie in diesen Ländern dafür, zumindest einen Autonomiestatus zu erhalten. Die Situation in der Islamischen Republik Iran läßt Randall in seinem Buch beiseite. Er geht auf den bewaffneten Kampf in der Türkei ein, konzentriert sich dann aber auf den Dauerkonflikt zwischen dem Regime in Bagdad und den Kurden im Irak. Für den Autor kommen die Grausamkeiten und Massaker, denen die kurdische Bevölkerung in diesem Land ausgesetzt ist, einem Völkermord gleich.
DAS Kapitel über die Beziehungen, die in den sechziger und siebziger Jahren zwischen den kurdischen Nationalisten im Irak und Israel unterhalten wurden, zeichnet sich durch eine besondere Fülle an Enthüllungen aus. Jonathan Randall arbeitet die tieferen Beweggründe für dieses Bündnis heraus, das von beiden Seiten mit der natürlichen Solidarität zwischen den zwei Völkern begründet wurde, die als Minderheit von einer Übermacht an Arabern umgeben sind. Unter Berufung auf Zeugenaussagen ehemaliger Mossad-Agenten zeigt Jonathan Randall den Zynismus der israelischen Führung auf, der sich nur mit demjenigen der Vereinigten Staaten und des Iran vergleichen läßt: Im März 1975 lieferten die drei Regierungen die Kurden von einem Tag auf den anderen ihren irakischen Henkern aus.
In seiner scharfsichtigen Analyse macht Jonathan Randall nicht den Fehler, den ausländischen Mächten die alleinige Verantwortung für den endlosen Leidensweg des kurdischen Volkes zuzuschieben. Die fortgesetzte Naivität der Kurdenführer, ihre zahlreichen politischen Fehler, ihre blutigen Bruderkämpfe, die nur zu oft zum Verrat an den eigenen „Brüdern“ führten — das alles spiegelt letztendlich auch die sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen das kurdische Volk lebt. Gerade Randalls Hintergrundinformationen zu dieser Frage, die auch zur Erklärung der wiederholten Niederlagen der kurdischen Nationalbewegung beitragen könnten, sollten zum Nachdenken anregen.
ÉRIC ROULEAU