16.10.1998

Die Hüter der rechten Währungsordnung

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Die Hüter der rechten Währungsordnung

Schon von ihren Ausbildungsgängen und Karrieremustern her sind die meisten Zentralbankchefs nicht an der Aufgabe orientiert, die Probleme der Realwirtschaft zu analysieren und den gravierendsten sozialen Krisenerscheinungen vorzubeugen. Indem sie die reine Lehre der unbeschränkten Marktwirtschaft zu befolgen versuchen, stehen die Hüter der Währungsordnung ihren angeblichen Gegnern – den Spekulanten – um einiges näher, als man annehmen sollte. Zu fragen ist allerdings, wieviel Vertrauen man in eine olche Blindheit setzen kann.

Von FRÉDÉRIC LEBARON *

SEIT dem Sommer 1997 ist es immer wieder zu Turbulenzen an den internationalen Börsen gekommen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen deshalb wieder einmal die Zentralbankchefs, die für die eigentlichen Hüter der Währungsordnung, wenn nicht der globalen Prosperität gehalten werden.

Schon 1929 hatte die Führung des Federal Reserve Board, der US-amerikanischen Zentralbank, mit ihren Entscheidungen den Börsenkrach verschärft, der dann in die schlimmste Krise der modernen Weltwirtschaftsgeschichte mündete. Der Darstellung von John Kenneth Galbraith1 läßt sich entnehmen, daß Analogien zwischen damals und heute keineswegs absurd sind – auch wenn sich die sozioökonomischen Strukturen und der allgemeine Kontext stark verändert haben und auch die Wirtschaftswissenschaften scheinbar erheblich vorangekommen sind: 1929 waren die Zentralbankchefs unfähig, vor dem Börsenkrach einzugreifen, um die Spekulation zu bremsen; sie konzentrierten alle Bemühungen darauf, die (angeblich) drohende Inflation einzudämmen, anstatt die (tatsächliche) Deflation durch eine expansionistische Geldpolitik zu bekämpfen; sie fungierten damit als Transmissionsriemen, der das Mißtrauen der Finanzwelt auf die übrigen Wirtschaftssektoren übertrug.

Muß man also davon ausgehen, daß der zeitliche Abstand das Spekulationsdrama von 1929 vergessen macht und insofern die Wiederholung der Fehler von damals begünstigt? Jedenfalls stellt sich die Frage, ob der Kenntnisstand und das Know-how der Zentralbankchefs ausreichen, um die Weltwirtschaft dauerhaft daran zu hindern, vom angestrebten Pfad eines ausgeglichenen Wachstums abzuweichen, und ob von ihnen der Anstoß zu einer neuen weltweiten Währungs- und Finanzpolitik zu erwarten ist, die in der Lage wäre, die globalen Turbulenzen zu überwinden. Turbulenzen, die mit der ungebremsten Spekulation und einer bevorstehenden möglicherweise weltweiten Rezession zusammenhängen; in einigen Ländern ist diese schon so weit vorangeschritten, daß sich wieder Hungerepidemien ausbreiten.

Wer aber sind diese höchst außergewöhnlichen Wesen, die angeblich das Wohl der Menschheit so umfassend repräsentieren, daß man ihnen zutraut, ihr den richtigen Weg zu weisen, im Verein mit anderen finanzpolitischen Entscheidungsträgern den Wert des Geldes zu fixieren, die Bankensysteme zu kontrollieren und ihre Entscheidungen in den Medien, gegenüber den Märkten und den Bürgern zu vertreten? Alle 105 Notenbankchefs, die in einer weltweiten Untersuchung2 erfaßt wurden, hatten einen Universitätsabschluß; 71 Prozent von ihnen in Wirtschaftswissenschaften. Die Mehrzahl von ihnen hat ein Graduiertenstudium absolviert, jeder zweite in Nordamerika oder in Großbritannien.

Dieser Teil der globalen finanzpolitischen Führungselite ist ganz unbestreitbar durch das angelsächsische ökonomische Denken geprägt, wie es an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der US-amerikanischen Universitäten gelehrt wird. Ein kleiner Teil dieser Elite hat zuvor Leitungsfunktionen in internationalen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank oder der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ausgeübt oder zumindest ein entsprechendes Praktikum absolviert.

Nach ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und geographischen Orientierung bilden die Mitarbeiter der Zentralbanken mithin einen harten Kern von hochqualifizierten Volks- oder Betriebswirtschaftlern bzw. Juristen, deren akademische oder berufliche Karriere mindestens einen USA- Aufenthalt aufweist. Nur ein relativ kleiner Teil (24 Prozent) der Notenbankgouverneure hat vorher als Vizepräsident (deputy governor) der eigenen Zentralbank gearbeitet. Aber fast ebenso viele (22 Prozent) waren vorher in Handelsbanken tätig, während die übrigen verschiedene Positionen vor allem in Politik und Verwaltung bekleidet haben.

Auch wenn sie ihr Image als neutrale Hüter der Währungsordnung und als Schrecken der Spekulanten pflegen, sind die Beziehungen der Zentralbankpräsidenten zur Welt der Märkte doch enger, als man annehmen sollte. Vor allem die europäischen Zentralbankchefs stammen in der Mehrzahl aus der Mittelschicht (ein beträchtlicher Teil auch aus der Aristokratie), was ihnen eine eingefleischte Beamtenmentalität mitgegeben hat: Sie verstehen sich als Sachwalter des „Gemeinwohls“, als Verteidiger einer legitimen Ordnung, die von der Währungsinstitution verkörpert wird.3 Aber immer deutlicher wird auch ihre Nähe zu den vermeintlich feindlichen Brüdern des Marktgeschehens, zu ebenjenen Spekulanten, die sie zuweilen als Auslöser der Marktturbulenzen benennen. Daß die Währungshüter 1929 vor der Euphorie der Finanzmärkte kapitulierten und anschließend außerstande waren, die realwirtschaftlichen Notwendigkeiten zu begreifen, beruhte auf einem Klassendenken und einer marktwirtschaftlichen Sichtweise, die von der Mentalität der Spekulanten nicht sehr weit entfernt waren. Aber ist das heute so viel anders?

Zwar schreiben viele Kommentatoren dem Präsidenten der US-amerikanischen Notenbank, Alan Greenspan, das amerikanische „Wirtschaftswunder“ der neunziger Jahre zu, aber die Geschichte wird von ihm möglicherweise ein anderes, weniger angenehmes Bild zeichnen: Trotz seiner späten und folgenlosen Erklärungen zum „irrationalen Überschwang der Märkte“ ist es Greenspan nicht gelungen, die heftigste Spekulationseuphorie der amerikanischen Währungsgeschichte einzudämmen.

Der Übermut der Investoren hängt vielleicht mit der Dauer und der Intensität der Wachstumsphase zusammen. Das amerikanische Wunder ist offenbar vor allem das Wunder eines wiedergefundenen Vertrauens in die Stärke Amerikas und in die Unfehlbarkeit der Märkte: Alan Greenspan ist der Held dieses wirtschaftlichen new age, das von den Propheten theoretisch untermauert wird, die sich bei anhaltender Hausse stets zu Wort melden und das Verschwinden der Konjunkturzyklen verkünden. Greenspan hat an der New Yorker Universität in Wirtschaftswissenschaften promoviert, war Direktor und dann Aufsichtsratsvorsitzender in seiner eigenen Wirtschaftsberatungsfirma, saß im Aufsichtsrat zahlreicher Unternehmen und wurde zum Wirtschaftsberater Ronald Reagans. Seine Person steht für eine Geldpolitik, die so sensibel auf die Bedürfnisse der Industrie- und Finanzkonjunktur eingeht, daß sie die Möglichkeit einer Zinssenkung andeutet, um die der Realwirtschaft drohenden Gefahren zu bannen.

Die Zentralbankchefs in den Schwellenländern, von denen viele einen Teil ihrer Studienzeit oder den Anfang ihrer Karriere in den Vereinigten Staaten verbracht haben, sehen sich nun gezwungen, die erlernten abstrakten Wirtschaftstheorien rücksichtslos umzusetzen. Dieselben Führungskräfte, die ihre Volkswirtschaften immer stärker in die neue globalisierte Welt integriert haben, stehen nun vor den Folgen ihrer Zugehörigkeit zu einem weitgehend deregulierten Weltmarkt: Die Spekulanten sind dabei, ihr Werk zu zerstören bzw., im Fall der ehemaligen Ostblockländer, sogar den Übergang zu einer liberalen Wirtschaft zu gefährden. Die doppelte Entscheidung sowohl für die internationale Konkurrenz als auch für die Öffnung der nationalen Märkte (mittels Deregulierung und Privatisierung) hat zu einer verstärkten Abhängigkeit von den Kapitalbewegungen geführt. Um den Wert der eigenen Währung im In- und Ausland zu stützen, was langfristig eine Einbindung in die Weltwirtschaft erfordert, müssen zahlreiche Zentralbankchefs heute drastisch das Zinsniveau erhöhen oder sogar bereit sein, ihre Souveränität aufzugeben und sich dem blinden Mechanismus des currency board (automatische Festsetzung der Zinssätze durch den Markt) auszuliefern. Fraglich ist nur, wie lange dieses stereotype Vorgehen vor den Angriffen der Spekulanten schützt.

Die Asienkrise zeigt die wachsende Ohnmacht der Zentralbanken, nachdem sich die Macht der Akteure auf den Märkten vervielfacht hat: Die Devisenreserven schmelzen ebenso dahin wie die Reserven des IWF, ohne daß sich eine Besserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage abzeichnen würde. Die Abwertung, die immer mehr Regierungen als Ausweg sehen, reicht bei weitem nicht mehr aus, um die Krise der Industrie, der Banken und der Sozialpolitik aufzuhalten, von der immer mehr Volkswirtschaften ergriffen werden, die noch bis vor kurzem florierten und von den Propheten der neoliberalen Ordnung als Vorbild gepriesen wurden. Vielmehr ist eine Abwertungswelle die sicherste Methode, eine weltweite Krise auszulösen. Schon jetzt herrscht allgemein Angst vor den Auswirkungen einer Abwertung in China oder in Brasilien. Können die money doctors der Zentralbanken4 , die sich die Politik des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zu eigen machen, noch die verelendeten Bevölkerungsgruppen (und sogar ganze Völker) repräsentieren, wo sie noch stets jede Rücksichtnahme auf die sozialen Folgen ihrer Wirtschaftspolitik als „populistisch“ abqualifiziert haben?

Angesichts der Vertrauenskrise, die sich auf den Weltfinanzmärkten ausbreitet, sehen die europäischen Zentralbanken und ihre politischen und publizistischen Verbündeten in der bevorstehenden Einführung des Euro eine Garantie für stabilere Verhältnisse in der Region. Dieses Vertrauen und diese technokratische Blindheit gegenüber der sozioökonomischen Realität läßt sich jedoch auch als (extremster) Ausdruck einer Blindheit ansehen, die gerade diejenigen demonstrieren, die seit Jahren die zahlreichen Forderungen nach einer aktiveren Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit mißachten.

Die Zentralbankchefs der EU-Länder sind, anders als viele ihrer außereuropäischen Kollegen, zumeist aus den Zentralbanken und Finanzministerien hervorgegangen und auch stärker durch ihre Zugehörigkeit zu (christ- oder sozialdemokratischen) Parteien geprägt, was sicherlich daher rührt, daß die Errichtung eines Währungseuropas das Ergebnis einer bewußten Strategie der politischen und administrativen Eliten EU-Europas gewesen ist. Als Musterbeispiel und Erfolgsmodell dieser Karriere gilt Karl Otto Pöhl, der frühere Bundesbankpräsident, und auch sein Nachfolger Hans Tietmeyer ist wie viele seiner Kollegen ein rechtgläubiger, in der Wolle gefärbter Bürokrat. Die Autorität dieses Typs beruht auf einer durch Verdienste erworbenen Legitimität, was ihn in die Nähe des Apparatschiks rückt, der seinen Aufstieg einer beflissenen Bescheidenheit und Unterwürfigkeit verdankt.5 Seine erste Reaktion auf die Finanzkrise bestand darin, die möglichen Konsequenzen für den Aufschwung in Europa zu leugnen, was aber immer zweifelhafter wird.

Die Aussicht auf eine Zinssenkung in Amerika und auf einen Sturz des Dollars, die den europäischen Außenhandel gegenüber der amerikanischen Konkurrenz de facto benachteiligen würden, läßt sie relativ kalt. Es geht ihnen vor allem darum, innerhalb der Euro-Festung die Konvergenz der Zinsraten sicherzustellen. Was aber wird aus diesem Vertrauen, wenn sich die Finanzkrise ausweitet oder wenn eine weltweite Rezession tatsächlich eintritt und auf die europäischen Volkswirtschaften übergreift? Man darf bezweifeln, daß es dann eine gezielte Strategie geben wird, die aus der Krise herausführt. Im Gegenteil weist alles darauf hin, daß sich die währungspolitischen Entscheidungen und die haushalts- und lohnpolitischen Ermahnungen der Zentralbankchefs unerbittlich fortsetzen und dazu beitragen werden, den sozialen Zusammenhalt in Europa aufzulösen. Und alles zu keinem anderen Zweck, als – koste es, was es wolle – die Einheitswährung einzuführen.

Man kann also kaum eine optimistische Antwort auf die Frage erwarten, ob die Zentralbankchefs besser als ihre Vorgänger in den zwanziger Jahren mit einer chaotischen globalen Krise fertigwerden, die von keinem wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbuch, keinem Konjunkturforscher und auch keinem Experten vorhergesehen wurde. Der amerikanische Präsident hat seinen Finanzminister Robert Rubin und Alan Greenspan aufgefordert, eine Konferenz der Finanzminister und Notenbankchefs einzuberufen, um das internationale Finanzsystem zu reformieren, obwohl es eigentlich dringend notwendig wäre, eine mögliche Deflation zu verhüten. Von diesen Leuten können wir ganz offensichtlich keine umfassende Reform des internationalen Finanzwesens erwarten, die geeignet wäre, ein ökonomisch und sozial gerechteres Wirtschaftswachstum in Gang zu setzen.

Die Notwendigkeit einer solchen Reform hatte seinerzeit schon Keynes gesehen, aber die meisten führenden Politiker, auch die sozialistischen und die sozialdemokratischen, haben sie vergessen. Diese Reform würde zu viele bestehende Interessen in Frage stellen – in erster Linie die Freiheit der Spekulanten, zu investieren, wo und wann sie wollen – als daß sie von Experten in Betracht zu ziehen wären, die einer ganz anderen Welt entstammen: der Welt des siegreichen Neoliberalismus.

dt. Christian Voigt

* Professor an der Universität Amiens, Mitverfasser von “Décembre des intellectuels français“, Paris (Liber - Raisons d‘agir) 1998.

Fußnoten: 1 John K. Galbraith, „Der große Crash 1929: Ursachen, Verlauf, Folgen“, aus d. Amerik. von R. Mühlfenzl und H. Rösler, München (Heyne) 1989. 2 Elizabeth Hennessy (Hrsg.), „Flemings Who's Who in Central Banking“, London (Central Banking Publications Ltd.) 1997. 3 Siehe Frédéric Lebaron, „Les fondements sociaux de la neutralité économique. Le Conseil de la politique monétaire de la Banque de France“, Actes de la recherche en sciences sociales, März 1997. 4 Zum Begriff des money doctor siehe Paul W. Drake (Hrsg.), „Money Doctors, Foreign Debts and Economic Reforms in Latin America from the 1890s to the Present“, Dweham, USA (Jaguar Books) 1993. 5 Zu einer Analyse der Rhetorik Hans Tietmeyers vgl. Pierre Bourdieu, „L'architecte de l'euro passe aux aveux“, Le Monde diplomatique, September 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von FRÉDÉRIC LEBARON