16.10.1998

Suhartos Erbe

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Suhartos Erbe

Von JAN BREMAN *

MIT seinen verlassenen Baustellen und leeren Wolkenkratzern wirkt Jakarta wie eine Geisterstadt. Die ausgebrannten, geplünderten Einkaufspassagen und Kaufhäuser, in denen die Privilegierten noch vor kurzer Zeit ihren Konsumbedürfnissen nachgehen konnten, sind heute Symbole des Niedergangs. Gewiß ist der plötzliche Rückzug von „Big Brother“ Suharto von der Bevölkerung erzwungen worden, vor allem von den Studenten1 , aber diese politische Aktion war nur deshalb erfolgreich, weil die „Krismon“ (Krisis Moneter), die dem Aufruhr voranging und währenddessen weiter anhielt, die allgemeine Lage destabilisiert hatte. Die Krismon, eine spektakuläre Abwertung der Landeswährung Rupiah, war sowohl durch Devisenspekulation als auch durch massive Kapitalflucht ausgelöst worden. Indonesien ist zweifellos das von der asiatischen Wirtschaftskrise am stärksten betroffene Land.

In den Industriegebieten am Rande von Jakarta haben zahlreiche Unternehmen seit der Krise ihre Produktion zurückgefahren und überzählige Arbeitskräfte auf Kurzarbeit gesetzt oder ganz entlassen. Nach amtlichen Angaben sind 15 Prozent der Erwerbstätigen arbeitslos, aber diese Statistik berücksichtigt nicht die neue Arbeitslosigkeit in der Schattenwirtschaft. Der Ausschluß aus dem Arbeitsleben betrifft nicht nur die regulär Beschäftigten, sondern auch die Hilfsarbeiter auf dem Bau, die Männer, Frauen und Kinder, die in Heimarbeit für eine Fabrik tätig sind, die ambulanten Köche und Straßenhändler, die Fahrradtaxi-Fahrer und Lastenträger, die Müllsammler und all die anderen, die sich mit kleinen Jobs durchs Leben schlagen.

Die meisten dieser Arbeiter kommen aus ländlichen Gebieten. Von den Hügeln und Ebenen des javanischen Hinterlandes aus kann man Jakarta, Bandung und Surabaya dank moderner Verkehrsmittel innerhalb weniger Stunden erreichen. Am Rand der Großstädte hat sich daher ein mobiles Proletariat ohne richtigen Wohnsitz angesiedelt, das in unregelmäßigen Abständen zwischen der Stadt und dem Heimatdorf pendelt: Manche fahren einmal im Monat zurück, andere nur einmal im Jahr. Das Arbeitseinkommen dieser Entwurzelten hilft den zu Hause gebliebenen Mitgliedern der Familie, Kredite abzubezahlen, die sie aufnehmen mußten, um überleben zu können.

Gerade diese Arbeiter wurden in den vergangenen Monaten in großer Zahl entlassen. Die staatlichen Behörden sehen in dem arbeitslosen Lumpenproletariat eine politische Gefahrenquelle und betreiben nun aktiv die Rückkehr der Arbeiterreserve aufs Land, um kollektive Protestaktionen zu verhindern.

Diese Vertreibung wird durch zwei Argumente rechtfertigt, die mit den wirklichen Verhältnissen wenig zu tun haben. Zum einen sind viele der Überzeugung, daß die Migranten noch immer in ihrem Herkunftsdorf und dessen Agrarwirtschaft verwurzelt sind und nur deshalb in den urbanen Zentren arbeiten, um für die Familie ein Zubrot zu verdienen. Fällt dieses Zweiteinkommen aus, bleibe ihnen immer noch die bewährte ökonomische Grundlage der Dorfgemeinschaft – die Landwirtschaft, die zumindest für die Befriedigung der Grundbedürfnisse ausreiche. Zweitens wird behauptet, das „soziale Netz“, das in der Schattenwirtschaft der Städte zerrissen ist, sei in den Dorfgemeinschaften immer noch vorhanden, da sie noch mehr in der Tradition verankert seien. Ein mittelloser Migrant könne also in seinem Dorf auf die Unterstützung seiner Angehörigen zählen.

Dabei wird gerne übersehen, daß die dörfliche Landwirtschaft selbst mit immensen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Die Trockenheit, die vor allem im Osten Indonesiens alles verdorren läßt, die Waldbrände auf Kalimantan und die Heuschreckenplage in verschiedenen Regionen von Sumatra und Java, die einen erheblichen Teil der Ernte vernichtet hat, verschärfen den wirtschaflichen Zerfallsprozeß – wobei für die sogenannten Naturkatastrophen vielfach der Mensch verantwortlich ist.

Der Städter Traum vom Landleben

DIE Männer und Frauen, die bei Grundbesitzern gearbeitet hatten und nun zu ihnen zurückkehren, können versuchen, sich mit Hilfe von Subsistenzwirtschaft über Wasser zu halten. Aber all den anderen, die keinen Zugang zu Land mehr haben – und sei es auch nur als Pächter oder Siedler, die einen Teil der Ernte an den Grundbesitzer abführen müssen – ist dieser Ausweg weitgehend versperrt. Nur als Saisonarbeiter sind die Angehörigen dieses landlosen Subproletariats noch in die landwirtschaftliche Produktion eingebunden, und was sie dabei verdienen, reicht nicht zum Leben. Daß sie in die Stadt abwanderten, war eine Folge ihres schrittweisen Ausschlusses aus der Landwirtschaft. Und da das soziale Gewebe der gegenseitigen Hilfe, das die Schwächsten der dörflichen und religiösen Gemeinschaft einst absicherte, zunehmend zerfasert, schwinden ihre Überlebenschancen.

In dem Maße, wie die Marktwirtschaft ins Dorfleben Einzug hält, verwandeln sich die traditionellen Bande der Dorfgemeinschaft in Geldbeziehungen. Die lokalen Unterschiede zwischen Notabeln und kleinen Leuten sind ein getreues Spiegelbild der sozialen Polarisierung in der Stadt. Was kümmert die Großgrundbesitzer das Los armer Dörfler! Sorgen scheinen ihnen nur die drastisch steigenden Kosten des Hadsch zu bereiten, der Wallfahrt nach Mekka. Umverteilung findet nicht statt, weder als Einkommenstransfer von Reich zu Arm noch innerhalb der Familie – den guten Willen der Bessergestellten gegenüber den Mittellosen sucht man vergeblich. Zu glauben, die Tradition gegenseitiger Hilfe sei im ländlichen Milieu noch intakt, ist eine Illusion, die der Regierung einzig als Vorwand dient, keine sozialpolitischen Maßnahmen ergreifen zu müssen.

In Wirklichkeit sind die Angehörigen der Armen meist genauso arm wie sie selbst, wenn nicht noch ärmer. Wo Knappheit herrscht, gibt es wenig zu teilen. Überdies sehen sich die arbeits- und einkommenslosen Arbeiter, die „nach Hause“ geschickt werden, mit maßlosen Preiserhöhungen bei Grundbedarfsartikeln konfrontiert.

Das IWF-Diktat sieht unter anderem die Abschaffung aller Lebensmittelsubventionen vor. Dabei waren gerade sie ein wesentlicher Eckpfeiler der offiziellen Niedriglohnpolitik mit Monatseinkommen von 100000 bis 175000 Rupiah, nach dem Wechselkurs von Mitte September etwa 17 bis 30 Mark. So war es denn auch der abrupte Übergang zu marktüblichen Preisen, der im vergangenen Februar die ersten Unruhen auslöste.

Schuldenmachen für den Lebensunterhalt

ENTGEGEN weit verbreiteten Vorstellungen sind Artikel des tägliches Bedarfs auf dem Land teurer als in der Stadt.2 Die Betroffenen reagieren darauf mit verschiedenen Strategien: Sie lösen ihre eventuell vorhandenen Ersparnisse auf, leihen Geld von Verwandten und Nachbarn, bitten ihren Arbeitgeber, falls sie einen haben, um einen Vorschuß oder lassen im warung, dem Dorfladen, anschreiben. Da diese Konsumentenkredite aber schnell erschöpft sind, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die wenigen dauerhaften Gebrauchsgegenstände zu verpfänden, die sie noch haben: das Fahrrad, die Nähmaschine und andere Geräte, Kleidung und Möbel. Oder sie verkaufen ihr letztes Hab und Gut an Vertreter, die im Auftrag städtischer Händler übers Land ziehen, um beispielsweise Goldschmuck aufzukaufen.

Erwachsenen wie Kindern stehen immer weniger und immer schlechtere Lebensmittel zur Verfügung, oft gibt es nur eine Mahlzeit am Tag. Milchpulver, eine unentbehrliche Babynahrung, ist für viele Familien ebenso unerschwinglich wie Medikamente. Man nimmt die Kinder von der Schule, spart an Medikamenten und verzichtet auf die traditionellen Übergangsriten: Hochzeiten und Beschneidungen werden verschoben.

Verzweifelt sucht man nach Einkommensquellen außerhalb des Dorfs, aber die drastisch gestiegenen Fahrtkosten infolge der Benzinpreiserhöhungen und die strengen Ausweiskontrollen auf den Zufahrtsstraßen und im Stadtgebiet machen diese Expeditionen zu einem riskanten Unterfangen. Die eigentliche Misere aber besteht darin, daß es für die meisten schlichtweg unmöglich ist, einen Arbeitgeber zu finden.

Auch die nicht landwirtschaftlichen Aktivitäten im Dorf sind von der Krise betroffen. Das lokale Transportwesen, der Dienstleistungssektor, das Handwerk und der Kleinhandel leiden darunter, daß von außerhalb kein Geld mehr hereinfließt. In den Dörfern, die wir besuchten, ist die Wirtschaftstätigkeit um 25 bis 30 Prozent zurückgegangen. Die Regionalbehörden behaupten zwar, sie würden durch gemeinnützige Leistungen und die (fast) kostenlose Verteilung von Lebensmittelpaketen „das Schlimmste verhindern“, aber die Hilfsleistungen sind viel zu gering und erreichen wegen der allgemeinen Korruption und Vetternwirtschaft vielfach nicht ihren Bestimmungsort. So nimmt der Anteil der Indonesier, die unter der Armutsgrenze leben, rapide zu, und schon bald könnte die Hälfte der Bevölkerung Javas davon betroffen sein.

Für die nähere Zukunft ist kollektiver Widerstand gegen das Elend, das die Krismon über die Menschen in Indonesien gebracht hat, kaum zu erwarten. Mehr als wahrscheinlich sind dagegen erneute Hungerrevolten, um niedrigere Preise und die kostenlose Verteilung von Lebensmittelrationen durchzusetzen.

dt. Bodo Schulze

* Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Amsterdam und Autor zahlreicher Arbeiten über Asien während und nach der Kolonialzeit.

Fußnoten: 1 Vgl. Solomon Kane und Laurent Passicousset, „Suharto geht, was bleibt von der Macht?“, Le Monde diplomatique, Juni 1998. 2 Dieser Artikel basiert auf Untersuchungen, die wir im Frühjahr 1998 in verschiedenen Dörfern im Westen und im Zentrum Javas durchgeführt haben.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von JAN BREMAN