16.10.1998

Brisante Rechtslücken

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Brisante Rechtslücken

VOR kurzem erregte sich die Öffentlichkeit kurzzeitig über die Atomversuche Indiens und die entsprechende Antwort Pakistans. Die fünf „legitimen“ Atomwaffenstaaten und ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (die Vereinigte Staaten, Rußland, China, Frankreich und Großbritannien) runzelten die Stirn und dachten laut über Sanktionen nach. Anschließend widmeten sich alle wieder ihren Alltagssorgen und unterließen das weitere Nachdenken über die Logik der Weiterverbreitung, die der Abschreckungspolitik innewohnt und über die Unfähigkeit des Rechts, diesen Prozeß zu stoppen oder auch nur zu verlangsamen. Dabei sind Ansatzpunkte für solche Überlegungen durchaus schon vorhanden.

Einen Beitrag dazu leistet Jean-Marc Lavieille mit einer ausführlichen Darstellung des internationalen Abrüstungs- und Rüstungskontrollrechts.1 Ohne ein Hehl daraus zu machen, daß er persönlich für gewaltfreie Lösungen eintritt, beschreibt er die einzelnen Bestandteile des Völkerrechts auf diesem Gebiet und erörtert sie im Hinblick auf ihre Wirksamkeit. Er zeigt dabei ohne alle Effekthascherei auf, daß die tiefgreifende Krise des Völkerrechts von der radikalen Unvereinbarkeit herrührt, die zwischen dem vorgeblichen Rüstungskontrollrecht und einem wie immer gearteten Geltungsanspruch des Rechts auf Frieden, Entwicklung und Umweltschutz besteht.

Dabei ist die Frage, ob Besitz und Einsatz von Atomwaffen vom internationalen Recht gedeckt sind oder nicht, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, im Grunde „juristisch unerheblich“. Denn wie der Internationale Gerichtshof zu dieser Frage festgestellt hat, ist es zwar keinem Staat erlaubt, Atomwaffen einzusetzen oder auch nur mit ihnen zu drohen, doch von einem allgemeinen und vollständigen Verbot dieser Waffen kann nicht die Rede sein.2

ABDULHAY SAYED, der die Stellungnahme des Gerichtshofs analysiert, sieht darin eine „Normierung, der durch den Vorrang des nationalen Interesses ständig Hohn gesprochen wird“. Zwischen einer Gesellschaft des Rechts (die man doch angeblich errichten möchte) und einer Waffe, die weder Gesellschaft noch Recht kennt, kann es keine Berührungspunkte geben.3

Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die ihr ganzes Gewicht in die Waagschale geworfen haben, um eine radikale Ächtung der Atomwaffen durch das internationale Recht zu verhindern, sind in ihre eigene Falle getappt: Staaten, die den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet haben, handeln mit der Weiterverbreitung von Atomwaffen nicht rechtswidrig. So erweist sich das Recht als unfähig, die totale Vernichtungsgefahr zu beseitigen. Dazu imstande wären nur Gesellschaften, die sich ganz allgemein gegen den Rückgriff auf Mittel der Gewalt wenden.

MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU

Fußnoten: 1 Jean-Marc Lavieille, „Droit international du désarmement et de la maitrise des armements“, Paris 1997. 2 „Licéité de la menace ou de l'emploi d'armes nucléaires“, Intenationaler Gerichtshof, Den Haag, Mitteilung vom 8. Juli 1996, S. 226f. 3 Abdulhay Sayed, „Quand le droit est face à son néant. Le droit à l'épreuve de l'emploi de l'arme nucléaire“, Brüssel (Bruylant) 1998.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU