16.10.1998

Ausländer auf Lebenszeit

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Ausländer auf Lebenszeit

IM Süden Europas bemüht sich Italien, die heimliche Anlandung unzähliger Albaner und Nordafrikaner zu verhindern. Spanien läßt eine vier Meter hohe Mauer um seine afrikanische Enklave Melilla bauen, um Hunderte Afrikaner von einer lebensgefährlichen Bootsfahrt über die Meerenge von Gibraltar abzuhalten. Und im Osten Europas fordert die EU von Polen und Tschechien, den Anwärtern für eine EU-Mitgliedschaft, dem Flüchtlingsstrom aus Mittel- und Osteuropa einen Riegel vorzuschieben. Doch jenseits der Mßnahmen zur Verhinderung der illegalen Einwanderung stellt sich vor allem die Frage nach der Fähigkeit jedes einzelnen EU-Landes, seine Fremden zu integrieren. Österreich spielt in dieser Hinsicht sicherlich keine Vorreiterrolle.

Von PIERRE DAUM *

Im europäischen Vergleich stellt Österreich einen erstaunlichen Sonderfall dar. Obwohl der Ausländeranteil mit 9 Prozent der Bevölkerung einer der höchsten innerhalb der Europäischen Union ist1 , beträgt die Arbeitslosenrate nur erstaunlich niedrige 4,4 Prozent, während sie im restlichen Europa schon lange bei 10 Prozent liegt. Darüber hinaus gibt es in der Alpenrepublik kaum soziale Spannungen oder rassistische Ausschreitungen, wie sie in der Mehrzahl der 15 EU-Staaten vorkommen.

Hier, wo einst die schöne Sisi zu Hause war, hört man kaum von Polizisten, die auf Immigrantenkinder schießen, noch von brennenden Autos in den Ghetto-Vorstädten, noch von Zufluchtsorten für Asylbewerber, die Opfer von Brandanschlägen wurden. Sollte etwa Österreich, nachdem es lange Zeit als Musterland der Sozialpartnerschaft gegolten hat, zum Modellfall eines harmonischen gesellschaftlichen Miteinanders geworden sein? Fast könnte man dies glauben, hätte nicht Jörg Haiders nationalistische und fremdenfeindliche Rechtspartei, die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), 22 Prozent der Wähler hinter sich.2

Österreich, einst das Zentrum eines riesigen Reiches, hat im Gegensatz zu den anderen europäischen Großmächten niemals Kolonien besessen. Wie schwierig sich die Beziehungen zwischen manchen Staaten und ihren einstigen Kolonien gestalten können, weiß man hier nicht. Echte Ausländer kamen erst Mitte der sechziger Jahre nach Österreich, und das aus rein ökonomischen Gründen. Damals, als es einen erheblichen Arbeitskräftemangel gab, eröffnete die Bundeswirtschaftskammer in der Türkei und in Jugoslawien Anwerbebüros für ausländische Arbeitskräfte. Die Zahl der jährlich ausgestellten Arbeitsgenehmigungen stieg rasch und erreichte im Jahre 1973 die Rekordhöhe von 226800. Nach der Ölkrise wurden zwar weniger Arbeitskräfte angeworben, aber man verlängerte den bereits im Lande lebenden Ausländern die Arbeitserlaubnis Jahr für Jahr.

1988 waren in Österreich 350000 Ausländer registriert, das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 4,6 Prozent.3 Zehn Jahre später haben sich die Zahlen verdoppelt: Jüngste offizielle Angaben gehen von 732500 Ausländern aus, von denen 46 Prozent aus Exjugoslawien stammen, 13,5 Prozent aus anderen Ländern Mittel- und Osteuropas, 19 Prozent aus der Türkei und 21,5 Prozent aus EU-Staaten. Mit der Öffnung der ungarischen und der tschechoslowakischen Grenze kamen schlagartig zahlreiche osteuropäische Immigranten ins Land. Viele kamen als Tagesbesucher oder für längere Zeiträume, um ihre Lebenssituation zu verbessern; daneben suchten jedoch einige zehntausend, in erster Linie Rumänen, um politisches Asyl nach. Damit änderte sich die Situation schlagartig: Statt wie bisher souverän einer überschaubaren Zahl von Leuten Einlaß zu gewähren, sahen sich die Behörden nun mit einem massiven Menschenandrang konfrontiert.

Die von den Ereignissen überrumpelte Koalitionsregierung4 wollte schnell handeln: Von rechts stand sie unter dem Druck der Hetztiraden der FPÖ, die eine bevorstehende Invasion an die Wand malte; von links wurde die Regierung vom mächtigen Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) attackiert, der der Einwanderung grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. Die ersten Regierungsmaßnahmen waren eher spektakulär als effizient: Wiedereinführung des Visumzwanges, Stationierung von 2000 Soldaten entlang der Grenzen, ein beschleunigtes und restriktiveres Asylverfahren.

Parallel dazu wurden die bestehenden Gesetze geändert. So verabschiedete das Parlament im Juni 1992 ein Gesetz zum Asylrecht, worin die berühmte Klausel vom „sicheren Drittstaat“ verankert wurde: Asylwerber, die über ein sogenanntes demokratisches Land nach Österreich gelangen, werden abgewiesen. Hinsichtlich des Fremdenrechts wurden hier 1993 erstmals in Europa die Quoten für die jährliche Zuwanderung den Bedürfnissen des Marktes angepaßt: 21000 Personen im ersten Jahr, 8500 im Jahre 1998.

Selbst Ausländer, die schon lange in Österreich wohnen, unterliegen, so will es das Gesetz, den rigorosen Bestimmungen für Neueinwanderer: Um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen, müssen sie über ausreichende Geldmittel und eine Mindestfläche an Wohnraum verfügen sowie den Zeitraum für die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung strikt einhalten. „Wenn man diese Gesetze analysiert“, konstatiert Rainer Bauböck, Professor für Politikwissenschaften, „zeigt sich ganz deutlich die Unfähigkeit Österreichs, die Gastarbeiterlogik zu durchbrechen. Der Ausländer wird nur als Arbeitskraft gesehen, nie aber als jemand, der bleiben könnte. Er wird nie als vollständiger Mensch betrachtet, von dem man annimmt, daß er eines Tages am öffentlichen Leben teilhat.“

Aus diesem Grund fehlen auch Maßnahmen zur Integration, obwohl ein Drittel der Ausländer schon seit mehr als fünfzehn Jahren in Österreich lebt. Schlicht skandalös etwa ist die ablehnende Haltung gegenüber dem Recht auf Familienzusammenführung, das in der – auch von Österreich unterzeichneten – Europäischen Menschenrechtskonvention festgehalten ist. Der frühere Innenminister und Repräsentant des linken Parteiflügels der SPÖ, Caspar Einem, hatte 1996 unter der Losung „Integration vor Immigration“ ein derartiges Gesetz initiiert, und sein Nachfolger Karl Schlögl griff, um den Anschein der Kontinuität zu wahren, den Slogan seinerseits auf; um die Zuwanderung weiter zu bremsen, halbierte er jedoch die Quoten. Als Integrationsmaßnahme begnügte er sich damit, die zur Erlangung einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung erforderliche Aufenthaltsdauer auf acht Jahre herabzusetzen. Von Familienzusammenführung war nicht mehr die Rede.

Die restriktive und diskriminierende Ausrichtung der Gesetze stieß innerhalb der großen politischen Parteien auf Konsens, und auch in der Gesellschaft wurden keine Proteste laut, denn diese teilte weitgehend die Meinung ihrer Vertreter. „Die Fremdenfeindlichkeit ist fast allen Österreichern gemein“, klagt Nikolaus Kunrath, Generalsekretär von SOS-Mitmensch, einer Vereinigung zur Bekämpfung jeder Form von Ausgrenzung. „Es handelt sich um Ausländerfeindlichkeit, nicht um Rassismus: im Deutschen ein fundamentaler Unterschied. Rassismus ist ein sehr beleidigender Ausdruck. Er nimmt direkten Bezug auf die Rassentheorien und damit auf den Nationalsozialismus. Kein Österreicher kann es ertragen, als Rassist zu gelten. Als ausländerfeindlich dagegen ...“

Warum diese Ablehnung der Ausländer? Es stimmt zwar, daß das Gefühl, einem Volk anzugehören, in Österreich schwächer ausgeprägt ist als anderswo und statt dessen eine starke Bindung an die eigene Region existiert: Man versteht sich in erster Linie als Niederösterreicher oder, noch genauer, als Bewohner der Wachau. Jede Region besitzt ihre eigene Geschichte und Geographie, aber auch ihren eigenen Dialekt. Zwar ist Verständigung möglich, jedoch hört man die regionale Zugehörigkeit sofort heraus. Hinzu kommt, daß die Mobilität innerhalb des Landes nicht sehr ausgeprägt ist (die Leute werden geboren, leben und sterben am selben Ort), was die Zahl der wirklich Gleichen beschränkt. Alles, was jenseits davon liegt, ist anders, fremd und suspekt.

Nora, eine junge Frau algerischer Herkunft aus Marseille, erinnert sich an den Schock bei ihrer Ankunft in Österreich: „Die Leute hier zeigen keinerlei menschliche Regungen, weder Sympathie noch Wut. Sie sind völlig auf sich selbst bezogen, unfähig, sich anderen gegenüber zu öffnen.“ In Wien, wo immerhin 20 Prozent der Einwohner aus dem Ausland stammen, gibt es kaum Gelegenheit, eine türkische, serbische oder polnische Veranstaltung zu besuchen. Nur im kleinen Interkulttheater stehen zwei- bis dreimal pro Woche Aufführungen dieser Art auf dem Spielplan.

Diese Fremdenfeindlichkeit hätte sich vermeiden lassen, wenn die Österreicher nach Ende des Zweiten Weltkrieges – wie viele Deutsche – ihre Beteiligung an der nationalsozialistischen Mordmaschinerie eingestanden hätten, was jedoch absolut nicht der Fall gewesen ist. In Übereinstimmung mit den Alliierten wurde die These von Österreich als dem „ersten Opfer des Nationalsozialismus“ zur offiziellen Lesart. Das gelang so überzeugend, daß die nationalsozialistische Vergangenheit nicht einfach verdrängt, sondern lange Zeit wie ein „normales“ Kapitel der Geschichte des Landes behandelt worden ist. Es bedurfte des Schocks der Waldheim- Affäre, damit der österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky 1991 öffentlich die Mitschuld seines Landes an den Verbrechen des Dritten Reiches bekannte.

Lange Zeit blieb diese Fremdenfeindlichkeit verborgen. Das Ende der achtziger Jahre markiert jedoch einen Wendepunkt: Das späte Ansteigen der Arbeitslosenrate (von 1,5 Prozent im Jahre 1986 auf jetzt 4,4 Prozent) genügte, um diese latente Geisteshaltung plötzlich offen zutage treten zu lassen. Natürlich wird in Österreich, wie allgemein bekannt, „pausenlos genörgelt, doch niemals rebelliert“. Diese Konfliktscheu hängt mit dem gesellschaftlichen Frieden zusammen, der seit Jahrzehnten herrscht: Es gab weder Streiks noch Demonstrationen. So manifestiert sich die Ausländerfeindlichkeit fast ausschließlich in der Stimmabgabe für eine offen ausländerfeindliche Partei wie die FPÖ. Hingegen gibt es, anders als in den europäischen Nachbarländern, kaum Überfälle auf Immigranten.

Bisher ist es nur zu einem einzigen rassistisch motivierten Verbrechen gekommen: Vier Roma aus dem Burgenland wurden im Februar 1995 Opfer eines regelrechten Hinterhalts. Wie auch bei den Briefbomben, die seit Dezember 1993 an etwa zwanzig Personen verschickt wurden, planten die Täter ihr Verbrechen aus der Ferne.5 Schüsse, Messerstiche oder Faustschläge gegen Ausländer sind praktisch unbekannt. Der „gewöhnliche Rassismus“ beschränkt sich zumeist auf die Verwendung des Schimpfwortes „Tschusch“, das ganz allgemein Menschen aus Osteuropa meint. Nur eine Gruppe von Menschen ist ständig Schikanen ausgesetzt: die Schwarzen, eine zahlenmäßig sehr kleine Minderheit, werden sowohl von der Bevölkerung wie von der Polizei systematisch als Dealer angesehen.6

Unsicherheit als Dauerzustand

EIN noch größeres Problem als die Schikanen der Behörden ist für die Ausländer die Wohnsituation7 : Die ausländischen Lohnempfänger müssen zwar in den Wohnungsfonds einzahlen – ein Überbleibsel des Austromarxismus, durch den Wien eine sehr hohe Anzahl von Sozialwohnungen besitzt. Doch das Recht auf eine kommunale Wohnung ist immer noch an die österreichische Staatsbürgerschaft gekoppelt. Die Ausländer sind demzufolge auf den privaten Wohnungsmarkt angewiesen und müssen sich zumeist mit heruntergekommenen Wohnungen ohne Badezimmer und Innentoilette begnügen, denn die Diskriminierung erstreckt sich auch auf die Einkommen. Bei gleicher Arbeit verdient ein Ausländer 1200 österreichische Schilling (ca. 170 Mark) weniger als sein österreichischer Kollege, eine Ausländerin gar 3600 Schilling weniger. Ihre Löhne sind im allgemeinen sehr niedrig, so daß ein Viertel der Türken und ein Fünftel der Kroaten und Bosnier unter der offiziellen Armutsgrenze lebt (gegenüber einem Zwanzigstel der Inländer).

Eine solche „Gastarbeiter“-Politik hat verheerende Auswirkungen. Sie drängt die Ausländer in eine Situation der Unsicherheit, die es ihnen sowohl unmöglich macht, an einen ständigen Verbleib im Lande zu denken, als auch, sich zur Verteidigung ihrer Interessen zusammenzutun. Ferner blockiert sie die Herausbildung einer gesellschaftlichen, intellektuellen oder gewerkschaftlichen Elite (Ausländer dürfen sich nicht für die Betriebsratswahlen aufstellen lassen). Und was eine eventuelle Beteiligung an Gemeinderatswahlen betrifft, so „denken wir nicht einmal daran, dieses Thema überhaupt anzuschneiden“, klagt Nikolaus Kunrath, „man würde uns für verrückt halten.“

Daher sind Ausländer im öffentlichen Leben kaum wahrnehmbar. Man redet nur über sie, nicht mit ihnen, und die wenigen Aktionen zur Verteidigung ihrer Interessen gehen auf Österreicher zurück. Daß sie sich auf ihre eigene Gemeinschaft zurückziehen, ist unter diesen Umständen nur natürlich. Selbst die Jugendlichen, die in Österreich geboren wurden, vertreten ihre Interessen kaum besser als ihre Eltern. Da sie wissen, daß sie ihr Leben lang als Ausländer gelten werden, ist es für sie keineswegs selbstverständlich, um die österreichische Staatsbürgerschaft nachzusuchen, zumal sie in diesem Fall auf ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft verzichten müßten, was innerhalb der Familie zu starken Spannungen führen würde. Yavuz, einer der Initiatoren von „Echo“, der einzigen Vereinigung der „zweiten Generation“ (so die Eigendefinition), fragt sich: „Wie soll man sich als Österreicher fühlen, wenn man von diesem Land immer abgelehnt werden wird?“

dt. Andrea Marenzeller

* Journalist, Wien.

Fußnoten: 1 An der Spitze mit Belgien (9,1 Prozent) und Deutschland (8,5 Prozent), weit vor Frankreich (6,3 Prozent), Großbritannien (3,6 Prozent) und Italien (1,2 Prozent). Quellen: Eurostat, Jahrbuch 1997 (Zahlen vom 1. Januar 1995). In bezug auf Deutschland und Österreich spiegeln diese Zahlen nicht die tatsächliche Situation der Immigranten wider: In diesen Ländern gilt das jus sanguinis. Kinder von Immigranten können, selbst wenn sie im Land geboren wurden, ihr ganzes Leben Ausländer bleiben. 2 Resultat der letzten Nationalratswahlen vom 17. Dezember 1995. In Kärnten, der Hochburg ihres Chefs, konnte die FPÖ sogar 32,7 Prozent der Stimmen erzielen. Zudem ist ihr Stimmenanteil bei Regional- und Kommualwahlen wesentlich höher – im Oktober 1996 erreichte sie in Wien 28 Prozent und im Januar 1998 in Graz 27 Prozent. Vgl. dazu Roland Pfefferkorn, „Quand le ,national-populisme' séduit les intellectuels“, Le Monde diplomatique, Februar 1997. 3 Angaben des österreichischen statistischen Zentralamtes. 4 Seit 1955 und dem Staatsvertrag, der Österreichs Souveränität nach dem Abzug der Besatzungstruppen wiederherstellte, teilen sich in Österreich zwei große Parteien die politische Macht: die Sozialdemokraten (SPÖ) und die bürgerliche Volkspartei (ÖVP). Seit 1986, als eine dritte Partei, die nationalistische und populistische FPÖ, auf den Plan trat und seither schwindelerregende Erfolge verbuchte, wird das Land von einer Koalition der beiden großen Parteien regiert. 5 Siehe Libération, Paris, 14. Februar 1995. 6 Ein Fall aus der jüngsten Vergangenheit, über den Der Standard vom 9./10. Mai 1998 berichtete, ist aufschlußreich. In Graz wurde einer jungen Österreicherin afrikanischer Herkunft „aufgrund ihrer Hautfarbe“ in einer großen Bäckereikette eine Stelle als Serviererin verwehrt. Obwohl der Direktor der Firma ein „schreckliches Mißverständnis“ geltend machte, berichtete er, daß er seit diesem Vorfall zahlreiche Solidaritätsbekundungen von Kunden erhalten habe, die ihr Weißbrot nicht aus den Händen einer Schwarzen in Empfang nehmen wollten. 7 „Einwanderung und Niederlassung in Wien“, Institut für Höhere Studien, Wien, in Zusammenarbeit mit dem Institute for Social Research and Analysis, Februar 1998.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von PIERRE DAUM