16.10.1998

Neue Allianzen der alten Eliten

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Neue Allianzen der alten Eliten

DER Sieg des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso bei den Wahlen am 4. Oktober kam nicht überraschend. Die erfolgreiche Bekämpfung der Hyperinflation 1994 hatte ihn sehr populär gemacht. Aber die Stabilisierung der Währung um jeden Preis, die Privatisierungen und der Abbau von staatlichen Leistungen haben Folgen: Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit haben drastisch zugenommen, in den Großstädten droht der Zerfall der sozialen Ordnung, und die Mai-Unruhen im Nordosten des Landes beruhten nichtnur auf der anhaltenden Dürre. Die Asienkrise verschärft die Situation: Zur Stützung der Landeswährung wurden mehr als 22 Milliarden Dollar verpulvert. Und während die politische Linke kaum in der Lage scheint, die Erwartungen der Brasilianer in konkrete Forderungen umzusetzen, erschüttern soziale Protestaktionen das Land.

Von EMIR SADER *

Fernando Henrique Cardoso, der 1994 sein Amt antrat, ist erst der zweite zivile Präsident Brasiliens in über siebzig Jahren, der eine volle Amtszeit lang regiert hat. Dem Mangel an Demokratie steht eine rapide Wirtschaftsentwicklung gegenüber, die Brasilien zu dem Land mit den höchsten Wachstumsraten in diesem Jahrhundert gemacht hat – wobei die besonders fetten Jahre in die Zeit der Diktatur von Getulio Vargas (1930 bis 1945) und des Militärregimes (1964 bis 1985) fielen.1

Nach dem Rückzug der Militärs wählte das noch von ihnen eingerichtete eingeschränkte Wahlkollegium 1985 Tancredo Neves zum Präsidenten; er starb allerdings, bevor er sein Amt antreten konnte, und wurde sofort vom Vizepräsidenten José Sarney ersetzt. Fernando Collor, der 1989 an dessen Stelle trat, war der erste demokratisch gewählte Präsident seit mehr als vierzig Jahren, wurde jedoch drei Jahre später wegen Korruption seines Amtes enthoben. Sein Vizepräsident Itamar Franco regierte in der verbleibenden Mandatszeit, 1994 wurde dann der damalige Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso zum Präsidenten gewählt.

Diese Entwicklung ist nicht untypisch für ein Land, dessen Geschichte weniger von Brüchen und Gegensätzen als vielmehr von Vereinbarungen zwischen den sozialen Eliten geprägt ist. Während die anderen Länder Lateinamerikas die Kolonialzeit durch Unabhängigkeitskriege beendeten und dann Nationalstaaten gründeten, konnte in Brasilien der portugiesische König selbst 1822 den Erbprinzen Dom Pedro zum Herrscher des neuen Staates krönen, „damit das Land nicht in die Hände irgendeines Glücksritters fällt“. Damit war die Unabhängigkeit nichts weiter als die Gründung einer neuen Monarchie, die dem Mutterland verbunden blieb und die Ausrufung einer Republik bis ins Jahr 1899 verzögerte. Brasilien schaffte erst 1888 die Sklaverei ab, als letztes der lateinamerikanischen Länder.

Als die wichtigste politische Bewegung in der Geschichte des Landes kann die von Getulio Vargas angeführte „Revolution von 1930“ gelten, die die Vorherrschaft der Rohstoffexporteure beendete und die Industrialisierung einleitete. Einer der Führer dieser Bewegung definierte ihre Zielsetzung so: „Wir müssen die Revolution machen, bevor das Volk sie macht.“ Und 1989 konnte die Opposition nur siegen, weil sie ein Bündnis mit bestimmten Fraktionen der abtretenden Militärmacht einging: So entstand das neue Regime abermals aus einem Pakt zwischen Eliten. Zwar wurden die Bürgerrechte wieder in Kraft gesetzt, aber es gab weder eine Reform der wirtschaftlichen Strukturen (etwa der Monopolstellung des Finanzkapitals), noch eine Bodenreform oder Veränderungen im Bereich der Massenmedien und der großen Industrie- und Handelskonzerne. Das Phänomen, auf das dieser Pakt verweist, hat Gramsci als „Transformismus“ bezeichnet: Die Form der politischen Unterdrückung wandelt sich, aber ihre Substanz bleibt unverändert.

Weil der Wirtschaftsaufschwung unter der Diktatur nicht einherging mit einer Einkommensumverteilung, entstand jenes Defizit im sozialen Bereich, das in den achtziger Jahren zum entscheidenden Problem werden sollte. Die verfassunggebende Versammlung (1987-1988) verstand es, eine breite Öffentlichkeit für ihre Forderungen zu mobilisieren, und verabschiedete eine Verfassung, die wegen der in ihr verankerten Rechte vom Präsidenten der Versammlung, Ulysses Guimaraes, als „staatsbürgerliche Verfassung“ bezeichnet wurde. Unter Präsident José Sarney wurde gegen diese Tendenz der Verfassung – die dem lateinamerikanischen und weltweiten Trend zum Neoliberalismus zuwiderlief – eine Kampagne entfacht: Brasilien werde unregierbar sein, behauptete er, weil die neue Verfassung zu viele Ansprüche für gerechtfertigt erkläre. In Fernsehauftritten machte Fernando Collor seine Gegenrechnung auf: im neuen Grundgesetz komme das Wort „Rechte“ weitaus häufiger vor als das Wort „Pflichten“.

Collor, die Lichtgestalt der brasilianischen Bourgeoisie, gewann die Wahlen mit äußerst knappem Vorsprung vor dem Kandidaten der Arbeiterpartei (PT), Luis Ignacio „Lula“ da Silva. Sein Programm war das erste klar formulierte neoliberale Konzept für Brasilien. Collor erklärte die Staatsverschuldung zum entscheidenden Problem, das es anzupacken gelte, um das Land in die Moderne führen zu können. Daß Collor scheiterte – zunächst mit seinem Plan eines rücksichtslosen Zugriffs auf die privaten Spareinlagen, und dann durch seine Absetzung –, verschärfte die allgemeine Krise, die seit dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des Militärregimes herrschte. Immer geringere Steuereinnahmen und drückende Auslandsschulden führten in den achtziger Jahren zur ersten Rezession Brasiliens seit den Dreißigern. Die Politik der automatischen Lohnanpassung führte zu einer Hyperinflation, die nur in jenen Wirtschaftssektoren ausblieb oder sich gar als profitabel erwies, die von den Erträgen aus Geldgeschäften lebten – das Finanzkapital gewann immer mehr an Einfluß. Nachdem alle bisherigen Strategien gescheitert waren, ernannte Itamar Franco den damaligen Außenminister Fernando Henrique Cardoso zum neuen Leiter des Wirtschaftsressorts. In jungen Jahren war Cardoso, der an der Universität São Paulo, der bedeutendsten des Landes, Soziologie studiert hatte, gemeinsam mit dem chilenischen Soziologen Enzo Faletto als Autor einer Theorie der Abhängigkeit hervorgetreten, die sich als Alternative zur marxistischen Theorie der Abhängigkeit von André Gunter Frank verstand.2 Später bezog er sich auf Arbeiten des Spaniers Juan Linz über die Entwicklung zur Zeit des Franco-Regimes, um einen theoretischen Ansatz zur Erklärung des „autoritären Systems“ zu formulieren, der auch für die brasilianische Diktatur gelten sollte. In dieser Arbeit erscheint die Konzentration politischer und wirtschaftlicher Macht in der Hand des Staates als die entscheidende Ursache für die Machtübernahme des Militärs. Auf diese Weise wurde Cardoso zum wichtigsten Theoretiker des konservativen Wandels und einer Erneuerung der Demokratie auf der Grundlage des neoliberalen Denkens.3

Erfolgreiche Bekämpfung der Inflation

SEINE Karriere als Politiker begann Cardoso während der Diktatur in den Reihen der geduldeten Opposition; 1977 wurde er in den Senat des Bundesstaats São Paulo gewählt. Er gehörte der Führung der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) an und war später einer der Befürworter einer Beteiligung an der Regierung Collor. Das wirtschaftsliberale Modernisierungsprogramm des damaligen Präsidenten fand seine Zustimmung. Mit seinem Umdenken folgte Cardoso allerdings nur einer Orientierung, die die Mehrheitsfraktionen der Sozialdemokratie in vielen Ländern bereits vorgenommen hatten: Man setzt inzwischen nicht mehr auf staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, sondern auf neoliberale Lenkungsmethoden.

Als er das Amt des Wirtschaftsministers antrat, ging Cardoso noch einen Schritt weiter in diese Richtung und erklärte den Satz: „Der Privatwirtschaft geht es gut, nur der Staat hat Probleme“, zur Leitidee seines Handelns. Er entwickelte ein Sanierungsprogramm, das sich orthodox an den Konzeptionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) ausrichtete. Auf eine eigenständige Währungspolitik wurde verzichtet, und die neue Landeswährung, der Real, hatte in der Praxis einen festen Wechselkurs gegenüber dem Dollar. Ebenso wie die anderen lateinamerikanischen neoliberalen Programme konzentrierte sich auch die brasilianische Version auf die Bekämpfung der Inflation und die Stabilisierung der Währung. Ihre entscheidenden Bestandteile waren drastische Einsparungen im öffentlichen Haushalt, die Privatisierung von Staatsbetrieben, die Öffnung des Marktes für ausländische Anbieter (unter dem Vorwand, die Inlandspreise zu senken und den Wettbewerb zu fördern) und eine allgemeine wirtschaftliche Deregulierung.

Wie alle Vorhaben dieser Art brachte die Koppelung des Real an den Dollar kurzfristig Erfolge im Kampf gegen die Inflation – allerdings hauptsächlich wegen der Maßnahmen gegen die schleichende Inflation, und nicht wegen des Abbaus der Staatsschulden, die doch ursprünglich als der Ursprung allen Übels gegolten hatten.

Dieses Programm sicherte Cardoso auch den Sieg im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl von 1994. Sein Gegenkandidat „Lula“ da Silva, der mit seinen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und moralischer Erneuerung in der Politik anfangs vorn gelegen hatte, scheiterte am Mangel eines Konzepts zur Währungsstabilisierung.

Ein weiterer Grund für den Erfolg Cardosos lag darin, daß in den beiden ersten Jahren des Währungsplans vor allem die unteren Teile der Einkommenspyramide begünstigt wurden, ohne daß der Oberschicht ein Nachteil entstand. In den besonders gefährdeten sozialen Gruppen, die zuvor der galoppierenden Inflation schutzlos ausgeliefert gewesen waren, entwickelte sich nun wieder eine gewisse Kaufkraft. Die Einkünfte des Mittelstands hingegen sanken aufgrund der restriktiven Lohnpolitik, der zunehmenden Arbeitslosigkeit und des Wegfalls der staatlichen Preiskontrollen im Dienstleistungssektor. Somit bedeutete auch die Währungsreform einen Pakt der Eliten: Das Problem der Inflation wurde gelöst, ohne daß es die Oberschicht etwas kostete – durch die staatliche Finanzierung der privaten Mehreinnahmen. Doch die Last dieses Verfahrens hatte die Masse der Bevölkerung zu tragen.

Allerdings stieß die Währungspolitik bald auf eine Reihe von Hindernissen, die ihre positive Wirkung auf die Wirtschaftsentwicklung zunichte machten. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Schuldenkrise in Mexiko: Sie ereignete sich gleich zu Anfang der Präsidentschaft Cardosos und verzögerte die Umsetzung seiner neoliberalen Konzepte. Das nächste Problem bestand in der extremen Überbewertung der Landeswährung, die die Defizite der Handels- und Zahlungsbilanz noch verstärkte. Aber die entscheidende Schwäche des Programms lag in der Methode zur Stützung der Währung: Durch überhöhte Zinssätze sollte massiv ausländisches Kapital ins Land gelockt werden. Tatsächlich stellte sich dieser Effekt ein, allerdings handelte es sich überwiegend um Risikokapital: Man versuchte, Spekulationsgewinne zu machen und die privatisierten Firmen zu Schleuderpreisen aufzukaufen – eine nennenswerte Steigerung des Investitionsniveaus im produktiven Bereich dagegen ergab sich daraus nicht. Die gewaltigen Währungsreserven (über 70 Milliarden Dollar), auf die sich die Regierung viel zugute hält, zeigen deutlich genug ihr Mißtrauen gegenüber diesem Kapital, das ins Land fließt, es aber, wie es derzeit der Fall ist, ebenso schnell wieder verlassen kann.

Überdies bremst das sehr hohe Zinsniveau einen Wiederaufschwung, in dem die staatlichen Experten eine Gefährdung der Finanzstabilität sehen. Neben der Verknappung der Kredite an Unternehmen und Verbraucher hat die hohe Zinsrate auch Auswirkungen auf die Staatsschulden, die sich seit Inkrafttreten des Plans zur Währungsstabilisierung verfünffacht haben. Dem Expertenteam, das lautstark verkündet hatte, die Regierung gebe zuviel Geld aus, und noch dazu an den falschen Stellen, und das sich vorgenommen hatte, die Staatsfinanzen zu sanieren, ist nun eine Staatsverschuldung in nie gekannter Höhe zu verdanken: 8 Prozent des Bruttinlandsprodukts (BIP). Durch die Festsetzung von Zinshöhen, die das Auslandskapital anziehen sollten, hat die Regierung auch jene mörderischen Zinsen festgeschrieben, deren Opfer sie bei der Rückzahlung der eigenen Schulden werden wird. Im Namen der Geldwertstabilität ist ein Teufelskreis entstanden.

Die Besonderheit des neoliberalen Experiments in Brasilien besteht nicht darin, daß es von einer politischen Gruppierung eingeleitet wurde, die sich zur Sozialdemokratie zählt – das hatte es bereits unter Mitterrand in Frankreich und unter Felipe González in Spanien gegeben, ähnliches galt für Carlos Menem in Argentinien, für den Partido Revolucionario Institucional (PRI) in Mexiko und die Sozialistische Partei Chiles. Untypisch ist vielmehr die Tatsache, daß Cardoso nicht über die Rechte gesiegt hat (wie es in Frankreich, Spanien, Großbritannien und Chile der Fall war), sondern ihr im Gegenteil erst wieder neuen Auftrieb gegeben hat. So ist es kein Zufall, daß er bei den Wahlen 1994 nicht gegen einen Kandidaten der traditionellen Rechten antreten mußte: Alle Gruppierungen dieses politischen Lagers unterstützten seine Kandidatur. Die anderen Kandidaten reichten von „Lula“, der für die Linke stand, bis zu Ciro Gomes, Cardosos Nachfolger im Wirtschaftsressort, der sich neuerdings für einen „Dritten Weg“ stark macht.

Die USA als Modell

TATSÄCHLICH hat Cardoso die Rechte neu geeint und um sich geschart. Ihm hat sie es zu verdanken, daß sie ihre alten Praktiken der privaten Vereinnahmung des Staates in neue Formulierungen kleiden und als liberale Modernisierung verkaufen konnte. Überdies setzte er im Namen der unausweichlichen Globalisierung unablässig den Kampf gegen die Linke fort, gegen Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen, wie etwa die Bewegung der Landlosen4 . Fernando Collor hatte gerade genug Zeit gehabt, um dieselben Maßnahmen einzuleiten, die von Ronald Reagan und Margaret Thatcher in den USA und Großbritannien durchgesetzt worden waren. Doch erst Cardoso übernahm den entscheidenden Teil der Dreckarbeit, indem er die Wirtschaft deregulierte, die staatlichen Lenkungsfunktionen abschaffte, die Sozialpolitik weitgehend ihrer Inhalte beraubte, die nationale Industrie zerschlug und die Staatsunternehmen privatisierte, und indem er eine pauschale Öffnung der Ökonomie nach außen betrieb. Er trägt die Verantwortung für die Politik der astronomisch hohen Zinsen und dafür, daß die Arbeitslosenrate auf fast 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung geklettert ist. Die deutlichste Folge dieser Politik waren Wachstumsraten, die noch unter denen der achtziger Jahre, des „verlorenen Jahrzehnts“ lagen.

In der Praxis heißt das: Ein großer Teil der staatlichen Planungsmöglichkeiten – die auch den Zusammenhalt des riesigen brasilianischen Staatsgebiets gewährleisteten – ist ebenso wie die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Volkswirtschaft auf Null reduziert worden. Durch die negative Entwicklung der Handelsbilanz – eine Folge der Überbewertung der Landeswährung und des Fehlens industriepolitischer Maßnahmen – exportiert Brasilien heute wieder vorwiegend Rohstoffe wie Kaffee oder Soja. Früher machten zum Beispiel Autos einen bedeutenden Exportanteil aus, aber seit 1994 liegen die Importe in diesem Sektor höher als die Exporte. In den siebziger Jahren galt das Land als „aufstrebende Mittelmacht“, heute hat es nur noch den Status eines „Schwellenlands“, auf dessen Markt jeder versucht, ohne irgendwelche sozialen Bedenken ein Maximum an Warenüberschüssen loszuschlagen.

Die dürftigen sozialpolitischen Errungenschaften sind allesamt in Frage gestellt worden, und das Phänomen der sozialen Deklassierung hat ein nie gekanntes Ausmaß erreicht. Täglich fordert es neue Opfer, die sich in die Schattenwirtschaft getrieben sehen. Während man sich die Umstrukturierung des ohnehin vielfach begünstigten Bankensektors 20 Milliarden Dollar kosten ließ, sind die Haushaltsmittel für die Sozialpolitik und die Beamtenbesoldung gekürzt worden. Ein anderer Bereich: Die Verbrechen gegen die indigenen Völker Amazoniens, die von den Großgrundbesitzern und der örtlichen Polizei begangen wurden, häufig mit Wissen der jeweiligen Gebietsgouverneure, blieben ungesühnt.

In der Außenpolitik hat Brasilien durch die Anlehnung an US-amerikanische Positionen seine Autonomie aufgegeben, die seit der Unabhängigkeit bestand: Im Februar 1998 gab die brasilianische Regierung mit ihrer Unterstützung für Präsident Clintons Drohungen, den Irak zu bombardieren, jeden Anspruch auf eine eigenständige Diplomatie auf. Auch beim jüngsten Treffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Venezuela zeigte sich diese Übernahme US-amerikanischer Standpunkte, als der brasilianische Außenminister die Wiederaufnahme Kubas in die politischen Institutionen des Kontinents an die Bedingung knüpfte, daß das Castro-Regime Reformen einleite.

Die Gründung des Gemeinsamen Marktes des Südens (Mercosul)5 war zunächst nur als Verteidigungsmaßnahme der Länder im äußersten Süden des Kontinents gegen die Vormacht der drei Mega- Weltmärkte Nordamerika, Europa und Japan gedacht gewesen; sie erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die USA versuchten, einzelne Länder dieser Weltregion – allen voran Chile – in das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta)6 einzubinden. Durch die Mexiko-Krise änderte sich die Situation. Der Mercosur gewann Zeit und konnte sich konsolidieren. Hinzu kam, daß sich sowohl Chile wie Bolivien um eine Annäherung an den Mercosur bemühten, nachdem der US-amerikanische Kongreß sich geweigert hatte, Präsident Clinton den Abschluß neuer Handelsabkommen im sogenannten fast track-Verfahren zu genehmigen. Um sich aus der verfahrenen Situation des Andenpaktes zu lösen, haben sich auch Venezuela, Kolumbien, Ecuador und Peru dem Bund im Süden zugewandt – damit eröffnet sich die Möglichkeit einer Integration, die den gesamten Subkontinent umfaßt. Im April sind auch Abkommen mit den Ländern des Zentralamerikanischen Gemeinsamen Marktes (MCC) geschlossen worden.

Angeführt von Brasilien, ist es den Mercosur-Ländern auf diese Weise gelungen, den Vorstoß Washingtons zur Einrichtung einer interamerikanischen Freihandelszone (ALCA) abzuwehren. Nicht nur ist die Umsetzung dieses Plans auf das Jahr 2005 verschoben worden, sondern die Mercosur-Mitglieder haben vereinbart, daß kein Land ein Einzelabkommen schließen wird – ein deutliches Zeichen für das Scheitern der US-amerikanischen Spaltungsbemühungen. Seine Grenzen findet das Mercosur-Projekt allerdings in der Politik, die in Buenos Aires und Brasilia gemacht wird: Sie hat zur Folge, daß sich die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Brasiliens und Argentiniens, vor allem in bezug auf die Industrieprodukte, mit jedem Tag weiter verschlechtert. Wenn es nicht zu einem politischen Kurswechsel kommt, wird bis zum anvisierten Termin 2005 das Kräfteverhältnis zwischen der größten Wirtschaftsmacht der Welt und den geschwächten Ökonomien dieser Länder noch weiter aus dem Gleichgewicht geraten.

Die Regierung Cardoso richtet alle Anstrengungen auf die Erhaltung der Währungsstabilität – koste es, was es wolle. Auf die Asienkrise reagierte sie im November 1997 mit einer Verdoppelung der Zinssätze, was zur Folge hat, daß in den Prognosen nun von einem Nullwachstum ausgegangen wird. Angesichts dieser Stagnation gibt es für die Zukunft nur die folgenden Alternativen: Entweder es gelingt, die Währung unter den gegenwärtigen Bedingungen stabil zu halten (und Brasilien damit auf Dauer zur Stagnation zu verdammen), oder man wird mitansehen müssen, wie das Stabilitätsmodell unter dem Ansturm der ausländischen Spekulation auseinanderbricht. Zur Durchsetzung ihrer Ziele hat die Regierung Cardoso auch den Rückgriff auf „Übergangsmaßnahmen“ nicht gescheut – Eingriffe der Exekutive, die nicht der Zustimmung durch den Kongreß bedürfen – was natürlich auch eine Schwächung des Parlaments und der Justiz bedeutet. Nachdem Fernando Cardoso die Schlacht um die Verfassungsänderungen gewonnen hatte, durch die seine Wiederwahl erst möglich wurde, konnte er sich im Wahlkampf auf die finanzielle Rückendeckung durch jene Banken, Unternehmen und anderen großen Körperschaften verlassen, denen gegenüber er sich zuvor so großzügig gezeigt hatte.

Gegen diese politische Dampfwalze richtet sich der Widerstand der Bewegung der Landlosen und der Vereinigungen, in denen knapp 1 Million Menschen organisiert sind. Diese leben in wirtschaftlich selbstversorgenden Gemeinschaften, in denen alle Kinder die Schule besuchen. Eine Form des Widerstands ist auch jener „partizipative Haushalt“, den die Stadtregierung von Pôrto Alegre, die von der Arbeiterpartei gestellt wird, sich ausgedacht hat.7 Und nicht zuletzt das beste Massenmedium Brasiliens: TV Cultura. Auf diesem öffentlichen Fernsehkanal in São Paulo kann man die besten Kulturprogramme und Kindersendungen sehen; die Informationssendungen sind pluralistisch, und die politischen Diskussionen haben ein Niveau, das in Brasilien seinesgleichen sucht. Und das alles bei hohen Einschaltquoten.

Die linke Opposition in Brasilien stellt eine politische und soziale Kraft dar, die das Land zu einem der wichtigsten Schauplätze der Welt im Kampf gegen den Neoliberalismus macht. Zu Zeiten seiner Präsidentschaft sagte Richard Nixon: „Lateinamerika wird dem Weg folgen, den Brasilien einschlägt.“

dt. Edgar Peinelt

* Professor für Soziologie an der Universität São Paulo und an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro, zus. mit Ken Silverstein Autor von „Keine Angst vor besseren Zeiten. Lula, die PT und Brasilien“, Nachwort von Carlos Santos, aus dem Engl. v. Marika Varga, Köln (Neuer ISP Verlag) 1994.

Fußnoten: 1 Zwischen diesen beiden Perioden der Diktatur gab es in Brasilien einen vom Militär eingesetzten Präsidenten, eine weitere Amtszeit von Getulio Vargas (die mit seinem Selbstmord 1954 endete), einen zivilen Präsidenten, der sein Mandat über die volle Zeit ausübte (Juscelino Kubitschek, 1955 bis 1960), die sechsmonatige Übergangsregierung von Janio Quadros (1961), der seinen Rücktritt erklärte, und schließlich die Regierung von João Goulart (1961 bis 1964), der durch den Militärputsch von 1964 gestürzt wurde. 2 Die marxistische Theorie wurde zuerst von André Gunter Frank formuliert (siehe „Le développement du sous-développement“, Paris, Maspero 1974), ihre vulgarisierte Fassung ist vor allem dem Soziologen Ruy Mauro Marini zu verdanken (siehe „Dialéctica de la dependencia“, Mexiko, Era 1974). 3 Zu diesem Thema siehe Emir Sader, „Nos que amavamos tanto O Capital“ (“Wir haben es so geliebt, das Kapital“), in „O Poder, cade o poder?“ (“Die Macht, stürzt die Macht?“), São Paulo (Boitempo) 1996. 4 Siehe Philippe Revelli, „Mit Gesetzbuch und Pistole gegen Leute ohne Land“, Le Monde diplomatique, September 1997. 5 Besser bekannt unter der spanischen Abkürzung Mercosur; siehe Ricardo Seitenfus, „Washington manuvre contre le Mercosur“, Le Monde diplomatique, Februar 1998. 6 Dem Nafta gehören Kanada, Mexiko und die Vereinigten Staaten an. 7 Siehe Bernard Cassen, „Einmischung erwünscht in Pôrto Alegre“, Le Monde diplomatique, August 1998.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von EMIR SADER