16.10.1998

Rückblick auf Srebrenica

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Rückblick auf Srebrenica

DAVID ROHDE, ehemaliger Bosnien- Reporter des Christian Science Monitor, hat für seine Reportage über den Fall von Srebrenica den Pulitzer-Preis bekommen. Das Ergebnis seiner Nachforschungen hat er nun in einem Buch zusammengefaßt, das eine ungeheure Fülle an Informationen über die Tragödie vom Juli 1995 enthält.1

Der Bericht, der gleichsam Stunde für Stunde die schrecklichen Ereignisse nachzeichnet, ist an vielen Stellen kaum zu ertragen. Das gilt etwa für die Tragödie der Frauen und Kinder, die sich in die Nähe des holländischen Truppenstützpunkts in Potocari geflüchtet hatten, bevor sie von den Serben – mit Unterstützung der Blauhelme – nach Ostbosnien deportiert wurden. Oder für das Schicksal der wehrfähigen Männer, die zusammengetrieben und erschossen wurden, oft nur einige Dutzend Kilometer von Srebrenica entfernt. Und das gilt für das Drama der 13000 Männer, die sich zu Fuß aufmachten, um sich durch die serbischen Linien nach Zentralbosnien durchzuschlagen.

Der Verfasser geht mit einer durchaus legitimen Vorsicht zu Werke und beziffert die „Vermißten“, die innerhalb weniger Tage ermordet wurden, auf 7079 Menschen, anstatt sich der Schätzung der bosnischen Regierung anzuschließen, die von 10000 bis 12000 Opfern ausgeht. David Rohde bietet auch wichtige Informationen zum mangelhaften Funktionieren der Kommandokette der in der Enklave stationierten holländischen Einheiten, wiewohl das hartnäckige Schweigen des damaligen Ifor-Oberkommandierenden, des französischen Generals Bernard Janvier, bestimmte Mutmaßungen nahelegt, warum die UN-Truppen nichts zur Rettung von Srebrenica unternommen haben.

Die Gründe für den Fall der Enklave bleiben letztlich im dunkeln. Neben der Passivität der internationalen Truppen und der Demoralisierung der bosnischen Verteidiger könnte eine Erklärung auch darin liegen, daß Sarajevo die Kleinstadt schon aufgegeben hatte.

Die Frage nach den Verantwortlichen wird im letzten Kapital gestellt; der Verfasser nennt zu Recht den Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs, Yasushi Akashi, und General Janvier. Bedauern könnte man, daß der Autor seine Nachforschungen in Sarajevo nicht weitergeführt hat. Die Bevölkerung von Srebrenica ist überzeugt, daß es einen Kuhhandel zwischen den Serben und der bosnischen Regierung gab: Diese soll als Gegenleistung für den Verrat an Srebrenica die damals serbisch besetzten Randbezirke von Sarajevo zurückerhalten haben.

JEAN-ARNAULT DÉRENS

Fußnote: 1 David Rohde, „Die letzten Tage von Srebrenica“, dt. v. Ulrike Bischoff, Reinbek (Rowohlt) 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von JEAN-ARNAULT DÉRENS