Notration für die Menschenrechte
AN diesem 7. September 1998, dem Jahrestag der Unabhängigkeit Brasiliens, ertönt nicht mehr der berühmte Ausruf des portugiesischen Erbprinzen Dom Pedro: „Unabhängigkeit oder Tod!“ – einhundertsechsundsiebzig Jahre später sind andere Stimmen zu vernehmen, und sie stimmen ein in den „Aufschrei der Ausgestoßenen“, in den Protestruf gegen die soziale Ungerechtigkeit, der sich, nun im vierten Jahr, überall im Land erneut erhoben hat. Diese große Sammlungsbewegung wurde von der Nationalen Bischofskonferenz Brasiliens (CNBB) ins Leben gerufen und genießt nun die Unterstüzung der Bewegung der Landarbeiter ohne Land (MST), der größten brasilianischen Gewerkschaft (Arbeitereinheitszentrale – CUT), der Sozialdienste der CNBB, der Bewegungen der Schwarzen und zahlreicher regierungsunabhängiger Organisationen. Es ist ihr gelungen, in über fünfzehnhundert Gemeinden, verstreut auf zwanzig brasilianische Bundesstaaten, Zehntausende zu mobilisieren – allein in der Stadt Aparecida, im Bundesstaat São Paulo, sind achtzigtausend Menschen auf die Straße gegangen. Arbeiter, Arbeitslose, Land- und Obdachlose, Schwarze, Frauen, Behinderte, Homosexuelle und Transvestiten – sie alle treten unter dem Wahlspruch an: „Dies ist mein Land, und die Parole lautet: Niemand soll hungern!“
Bis in den Regierungspalast Alvorada in Brasilia scheinen diese Forderungen nicht gedrungen zu sein. Nach den Militärparaden zum Unabhängigkeitstag hat der Präsident zwar, wie üblich, einige Maßnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtssituation angekündigt: Amnestie für die illegalen Einwanderer (die auf 100000 geschätzt werden), die Einrichtung eines Nationalen Komitees für die Flüchtlinge (zur Zeit 2280 Personen), Rückgabe der Bodenrechte an dreiunddreißig Familien der quilombo itamaori1 im Bundesstaat Para. „Die brasilianische Regierung ist sich der problematischen Menschenrechtssituation bewußt und unternimmt täglich Anstrengungen zu ihrer Verbesserung“, erklärt José Gregori, Staatssekretär für Menschenrechtsfragen. Daß dieses Sekretariat im Justizministerium eingerichtet und am 13. Mai 1996 ein nationales Menschenrechtsprogramm gestartet wurde, zeigt immerhin, daß die Bundesregierung das Problem der Verletzung von Grundrechten nicht leugnet, sondern sich damit auseinandersetzt.
Nach Ansicht der Nationalen Bewegung für Menschenrechte (MNDH) sind einige dieser politischen Fortschritte allerdings nur dem Druck der Zivilgesellschaft zu verdanken; das gilt für die Bereitschaft des Staates, die Verantwortung für die politischen Morde und Fälle verschwundener Personen während der Diktatur zu übernehmen, für die Verabschiedung eines Gesetzes, das Strafbarkeit und Strafmaß bei Folterung regelt, für die Schaffung von Beiräten und Ausschüssen für Menschenrechtsfragen in den Stadtverwaltungen und Landesparlamenten. Nicht zu vergessen auch, daß die Opfer der Gewalt, die Zeugen und die Familienangehörigen von Opfern Unterstützung erhalten haben. Es gibt ein Pilotprojekt zum Kampf gegen die Straffreiheit, das auf der – nicht immer einfachen – Zusammenarbeit von Organisationen der Zivilgesellschaft und staatlichen Institutionen (der Landesregierungen und der Bundesregierung) beruht. Ursprünglich im Bundesstaat Pernambuco entwickelt, ist dieses Programm seit einigen Monaten auch in Bahia und Rio Grande do Norte in Kraft. In Rio de Janeiro und Espirito Santo wird es gerade eingeführt, und weitere fünf Staaten prüfen derzeit seine Anwendbarkeit.
SOLCHE symbolischen Maßnahmen und Beweise des guten Willens von seiten der Regierung haben allerdings weder die Menschenrechtsorganisationen und ihre Aktivisten noch die internationalen Beobachter überzeugen können. So stellt die Internationale Kommission für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) fest: „Bislang hat der Staat Brasilien großen Teilen der Bevölkerung noch keine hinreichenden Garantien für die Achtung der Menschenrechte gegeben. Weder sind bei der Polizei oder der Justiz Einrichtungen zur Verhinderung von Übergriffen geschaffen worden, noch sind staatliche Bemühungen erkennbar, die Ungleichheit der sozialen und kulturellen Chancen abzubauen.“2
Es fehlt nicht an Belegen für dieses Urteil: Gewalttätigkeiten der staatlichen, militärischen und zivilen Polizei gegenüber der schwarzen Bevölkerung und den Bewohnern der Armenviertel von Rio de Janeiro und São Paulo sind an der Tagesordnung (und werden heruntergespielt), die Justiz arbeitet langsam und ist parteilich (vor allem in den ländlichen Gebieten, wo die Großgrundbesitzer bei Auseinandersetzungen mit brutalen Mitteln vorgehen), die fortschreitende Verelendung der Familien läßt die Zahl der Straßenkinder in den Großstädten anwachsen, und nicht zuletzt ist auf die Maßnahmen gegen die indigenen Gemeinschaften zu verweisen, etwa die Praktiken des Arztes Roland Lavigne (eines Abgeordneten des Partido da Frente Liberal im Bundesparlament), der im vergangenen August angeklagt wurde, weil er im Süden des Bundesstaats Bahia Indianerinnen des Pataxo- Volkes sterilisiert haben soll.
Nach Einschätzung der Verantwortlichen der Organisation „Aufschrei der Ausgestoßenen“ verschlechtert sich die Lage zunehmend, selbst die bereits erkämpften Rechte sind wieder bedroht – und das gilt leider nicht nur für Brasilien. Im kommenden Jahr soll der „Aufschrei“ am 12. Oktober zu hören sein, und zwar in ganz Lateinamerika.
DAMIEN HAZARD