16.10.1998

Die Schule geht auf die Straße

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Die Schule geht auf die Straße

Von ANNE SYLVAIN *

IM Senegal gehen nur knapp über 60 Prozent der Kinder zur Schule. Da der Staat die notwendigen Anstrengungen im Bildungssektor nicht allein finanzieren kann – dazu müßte das gesamte Budget, wenn nicht doppelt oder dreimal soviel eingesetzt werden1 – ist die Regierung auf eine ausgefallene Idee gekommen. Am Straßenrand sitzen Kinder auf kleinen Holzbänken. Brav warten sie, bis der Lehrer die Lektion auf die Tafel geschrieben hat, denn nicht jedes von ihnen hat ein Lehrbuch. Die Neugierigsten wenden den Kopf nach dem Hupkonzert auf der Straße. Hier, in der Schule der Rue Tolbiac im Armenviertel Rhadim Rassoul in Dakar, versucht man, trotz Staub und Lärm zu unterrichten.

Im ganzen Land sind in den letzten Jahren zahlreiche Bürgerinitiativen zur „informellen“ und „inoffiziellen“ Bildung entstanden, die dort tätig werden, wo der Staat versagt. „In Dakar quellen die öffentlichen Schulen über von Kindern. Klassen mit hundert oder mehr Schülern sind nicht selten. Wenn die Eltern Analphabeten sind, haben die Kinder nicht die geringste Chance auf eine Schulbildung“, bedauert Babacar M'Baye, ein ehemaliger Seemann, der die Schule in der Rue Tolbiac leitet. 1990 hatte er aus Empörung über die vielen auf der Straße herumhängenden Jugendlichen beschlossen, in seinem Stadtviertel eine Schule unter freiem Himmel zu gründen. Sein Ziel: „die Schule zu denen bringen, die von der Bildung ausgeschlossen sind“. Sechs Freiwillige haben sich zu ihm gesellt, und die Schule hat jetzt etwa sechzig Schüler, darunter auch Jugendliche zwischen neun und fünfzehn Jahren, die aus der staatlichen Schule abgegangen sind, nachdem sie mehrmals eine Klasse wiederholen mußten. Die Kriterien für die Versetzung sind streng, und rund 10 Prozent der Schüler schaffen es nicht, die nächste Bildungsstufe zu erreichen. Die Schule in der Rue Tolbiac soll ihnen mehr Wissen vermitteln, bevor sie eine Lehrstelle antreten. Einige jüngere Schüler werden die Chance haben, in die öffentliche Grundschule zu wechseln.

Dabei hatte Senegal sich im März 1990 bei der Konferenz von Jomtien in Thailand verpflichtet, allen Bürgern Zugang zu Bildung zu verschaffen.2 Etappenziele waren festgelegt worden: 1998 sollte eine Einschulungsrate von 65 Prozent erreicht werden, im Jahr 2000 sollten es 75 Prozent sein. Doch 1998 sind erst 61,7 Prozent erreicht worden; Senegal liegt damit auf einem der weltweit letzten Plätze. „Wenn ab 1993 zweitausend Lehrer pro Jahr eingestellt worden wären, hätten wir unser Ziel erreichen können. Doch das war leider nicht der Fall“, sagt Pape Momar Sow, der Verantwortliche für Vorschulen und Grundschulen beim Ministerium für Grundbildung und nationale Sprachen.

Seit 1979 zwingt der Internationale Währungsfonds Senegal ein Strukturanpassungsprogramm auf, zu dem auch die Begrenzung des Gehaltsaufkommens im öffentlichen Dienst gehört. Nach jahrzehntelangen Fortschritten sind Alphabetisierungsraten und Bildungsniveau in Senegal und in den Nachbarländern nun wieder rückläufig. Die quantitativen und qualitativen Probleme sind überall die gleichen: überfüllte Klassen, zuwenig Sachmittel und mangelhafte Infrastruktur, außerdem wird häufig gestreikt. Alle diese Faktoren haben den Lehrern, die ohnehin wenig Ansehen genießen, den letzten Rest von Motivation genommen und viele Eltern bewegt, ihre Kinder in Privatschulen zu schicken (im Senegal besuchen 12 Prozent der Schüler solche Institute). Pape Momar Sow schließt daraus: „Angesichts der uns aufgezwungenen Haushaltskürzungen und der Aufgaben, die sich im Bereich der sozialen Entwicklung stellen, wäre es völlig utopisch, auf den Privatsektor zu verzichten. Doch wir müssen auch neue Wege gehen und die Schule von morgen erfinden.“

Seit den siebziger Jahren hatten auch die katholischen Privatschulen in den ländlichen Gegenden Finanzierungsprobleme und förderten darum das Experiment mit den sogenannten Elternschulen: Eltern, oft Analphabeten, beschlossen, sich selbst um die Bildungsmöglichkeiten für ihre Kinder zu kümmern, wobei die katholischen Gemeinden nur pädagogische Hilfestellung leisten. Trotz ihres geringen Einkommens bauen diese Eltern Schulgebäude und bezahlen die Lehrer. Das Gehalt beträgt 35000 CFA-Franc im Monat (umgerechnet etwa 100 Mark). Die Lehrer sind junge Leute aus dem Dorf, die das Glück hatten, zur Schule gehen zu können, und bereit sind, einige Jahre lang zur Entwicklung ihrer Gemeinschaft beizutragen. Den Kindern werden hier auch handwerkliche und landwirtschaftliche Fähigkeiten vermittelt, damit sie der ländlichen Arbeitswelt nicht entfremdet werden. Der „formelle“ Unterricht folgt den offiziellen Lehrprogrammen, und die Ergebnisse beim Abschluß der Grundschulbildung sind ausgezeichnet. In der Elternschule von Gossas (in der Diözese Kaolack im Süden des Landes) schafften 1997 45,6 Prozent der Schüler den Sprung in die Sekundarstufe, und 75,6 Prozent schlossen die Grundschule erfolgreich ab. Im Vergleich dazu lagen die Leistungen der Schüler an staatlichen Schulen in ganz Senegal im gleichen Jahr bei jeweils 23,2 bzw. 35,13 Prozent. Inzischen nehmen die Elternschulen der Diözese Kaolack 5 Prozent aller Schüler des regionalen Grundschulsektors auf. Auch die verdeckte Feindschaft, die manche Lehrer aus dem privaten und dem laizistischen Schulsektor den „Elternschulen“ entgegenbrachten, spielt keine Rolle mehr: Die Projekte genießen eine halboffizielle Anerkennung.

„Wir haben begriffen, daß der formelle und der informelle Unterricht nebeneinander bestehen müssen, damit alle eine Grundausbildung erhalten und wir wirksamer gegen den hier noch sehr verbreiteten Analphabetismus vorgehen können – 1988 lag die Quote bei 75 Prozent“, erklärt Kassa Diagne, Leiter eines kanadisch finanzierten Unterstützungsprojekts für die nichtformelle Ausbildung (PAPA) beim Ministerium für Grundbildung: Das Projekt fördert funktionale Alphabetisierung und Postalphabetisierung und erprobt alternative Unterrichtsmodelle.

Mittlerweile ermutigt der Staat die Partner in der Zivilgesellschaft, die bereits im Bildungssektor Erfahrungen gesammelt haben, sich an den Bildungsaufgaben zu beteiligen. Das PAPA-Projekt bietet ihnen Beratung, Weiterbildung und Zugang zu Spendenfonds. Auf diese Weise sichert sich der Staat Einfluß auf die Zivilgesellschaft und kann sie in seine Pläne einbinden. Regierungsunabhängige Organisationen und Institutionen erhalten Gelegenheit, alternative Unterrichtsmodelle in den Gemeinschafts-Grundschulen auszuprobieren, die ähnlich arbeiten wie die „Elternschulen“, wobei die Lehrer allerdings von ausländischen Geldgebern finanziert werden. Mit einer ähnlichen Zielsetzung hat man seit 1995 Freiwillige aus dem Bildungssektor für die öffentlichen Grundschulen angeworben. Dies trug dazu bei, die Einschulungsrate wieder zu erhöhen, die 1995 auf 54,6 Prozent gefallen war, nachdem sie 1990 bereits bei 58 Prozent gelegen hatte.3 Seit 1995 sind jährlich 1200 Freiwillige verpflichtet worden.4 Der Staat zahlt ihnen ein monatliches Stipendium von 50000 CFA- Franc, und sie sind in dieser Zeit krankenversichert.5 Nach vier Jahren können sie einer speziell für sie geschaffenen Vertragslehrerkörperschaft beitreten, und nach fünf Jahren Mitgliedschaft werden sie in den Staatsdienst übernommen.

dt. Christiane Kayser

* Journalistin

Fußnoten: 1 Vgl. Maurice Lemoine, „L'ardent defi des maitres d'école au Sénégal“, Le Monde diplomatique, August 1994. 2 Eine von Unesco, Unicef, der Weltbank und dem UNPD organisierte Konferenz. 3 Quelle: senegalesisches Unterrichtsministerium. 4 Gleichzeitig prangern die Gewerkschaften die Nichteinstellung von 180 ausgebildeten Lehrern in den öffentlichen Dienst an. 5 Ein neu eingestellter Lehrer erhält ein Anfangsgehalt von 150000 CFA-Franc brutto.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von ANNE SYLVAIN