16.10.1998

Japan im Strudel

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Japan im Strudel

Obwohl Premierminister Ryutaro Hashimoto im Juli dieses Jahres durch einen anderen Patriarchen der liberaldemokratischen Partei, Keizo Obuchi, abgelöst wurde, treibt Japan weiterhin dem Untergang entgegen und könnte durchaus seine Partner mit in die Tiefe reißen. Da Bevölkerung und Wirtschaftswelt das Vertrauen in die Regierung verloren haben, greifen auch deren Ankurbelungsmaßnahmen nicht mehr. Während das Kapital die Flucht in die US-amerikanischen Schatzbriefe antritt, setzt die Bevölkerung auf onsumverzicht und aufs Sparen und heizt die Deflationsspirale weiter an. „Überproduktion“ ist kein Tabuwort mehr. Auch ein Aufkauf von Teilbereichen der Automobilindustrie durch ausländische Firmen ist inzwischen nicht mehr auszuschließen.

Von FRÉDÉRIC F. CLAIRMONT *

IM asiatisch-pazifischen Raum ist die Verzahnung des kapitalistischen Räderwerks auf eine spektakuläre und seit der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre beispiellose Weise offengelegt worden. Der Zusammenbruch der Bankensysteme, die sinnlose Vergeudung von Ressourcen, Umweltkatastrophen, Spekulationsfieber, die sprunghafte Zunahme von Ungleichheit und Armut, Überproduktion bei abnehmendem Verbrauch, exzessives Sparen und die grobe Vernachlässigung gesellschaftlich nützlicher Investitionen, der Abwertungswettlauf usw.: Hier findet sich das gesamte Arsenal eines Wirtschaftskrieges.

Bis Mitte der neunziger Jahre weckte das angeblich grenzenlose Wachstum der „Tigerländer“ bei vielen Begeisterung. Über die Verfilzungen des „vetternwirtschaftlichen Kapitalismus“ sah man großzügig hinweg. Die gern in Worthülsen schwelgende Weltbank schwor auf das „asiatische Wirtschaftswunder“1 nach dem Vorbild des zehn Jahre älteren japanischen „Wirtschaftswunders“, an dem sich die übrige Welt ein Beispiel nehmen sollte. Jetzt aber gerät das Modell selbst ins Schwanken.

Japan erzeugt zwar zweifelsohne nach wie vor einen riesigen Handelsbilanzüberschuß, während die Handelsbilanz der Vereinigten Staaten immer weiter ins Defizit gerät: 225 Milliarden Dollar wird es laut den Einschätzungen des Handelsministeriums im Jahr 1998 betragen.

Das zeitgleiche Auftreten dieser beiden Phänomene hat sich, entgegen der Annahme gewisser Analysten, jedoch keineswegs auf die Bewertung des Yen ausgewirkt. Auf die Struktur der Zahlungsbilanz hat nämlich die Kapitalbilanz einen wesentlich größeren Einfluß als die Handelsbilanz, und hier genau verliert Japan an Boden: Auf den internationalen Kapitalmärkten sind die Rückflüsse für Anlagen in Yen nicht wettbewerbsfähig genug. Zu allem Überfluß beläuft sich die öffentliche Verschuldung Japans auf 127 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und die faulen Kredite im Bankensystem übersteigen bereits die Marke von 1000 Milliarden Dollar.

Die Wirtschaftskonjunktur sieht kaum rosiger aus: Die Arbeitslosigkeit wächst rapide in allen Bereichen; der für die allgemeine Wirtschaftstätigkeit wesentliche Bausektor ist im August 1998 im Vergleich zum Vorjahr um 11,2 Prozent geschrumpft. Die Reallöhne sinken stark. Im Verlauf eines Jahres sind die Großhandelspreise um 3 Prozent gefallen – ein alarmierendes Anzeichen für den Beginn einer Deflationsspirale. Ebenso symptomatisch ist die Selbstmordrate, die höher liegt als in den Jahren der Depression 1945/47.

Dem US-amerikanischen Handelsministerium zufolge werden täglich mehr als 1 Milliarde Dollar aus Japan abgezogen. Andere Schätzungen sprechen gar von 1,6 Milliarden. Die Japaner haben 269 Milliarden Dollar in US-amerikanischen Schatzbriefen angelegt (die Briten im Vergleich dazu 258 Milliarden), was zum Erhalt der internationalen Liquidität der USA beiträgt. Doch für Japan hat eine solche Kapitalflucht auf die Dauer schlimme Folgen.

Das Wort „Überproduktion“, lange Zeit tabu, ist jetzt in aller Munde. Kotibara, ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler von der Universität von Tokio, erläutert, daß „die Begriffe ,Überproduktion' und ,Börsenkrach' früher als politisch unkorrekt vermieden wurden. Viele hielten sie für kommunistischen Jargon. Aber mit dem Verfall unserer Wirtschaft ändern sich die Dinge rasend schnell, und auf diese Veränderungen reagieren die Leute sehr heftig.“

Der Grund für diese Reaktion liegt in der Zunahme voller Warenlager. In den Kaufhäusern sind die Verkäufe im ersten Halbjahr 1998 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 8 Prozent gefallen. Miko Ishikawa, Verkaufschef in einem Großunternehmen, nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wir befinden uns mitten im größten Überproduktionszyklus der Textilindustrie. Dessen Ausmaße sind bei weitem ernster als in den zwanziger und dreißiger Jahren. Damals verfügte das kaiserliche Japan zumindest über Märkte in Korea, Taiwan und China. Und was passiert heute? Genau diese Länder wagen es jetzt, uns auf unserem Binnenmarkt Schwierigkeiten zu machen.“

Diese Haltung ist nicht einfach eine nationalistische Reaktion. Sie drückt das Gefühl der Verzweiflung und Ohnmacht in einem Land aus, dessen Leichtindustrie die Produktion drosseln und die Lagerbestände, egal zu welchem Preis, räumen muß. Im Klartext: Das Angebot und die Produktionskapazitäten übersteigen bei weitem die Nachfrage. Trotz Zinssätzen, die nur knapp über Null liegen, übersteigt die Sparquote bei weitem die Investitionsquote. Der japanische Kapitalismus kann sich nicht mehr entfalten.

Ausländischen Besuchern fiel schon immer das besonders besonnene Verhalten der japanischen Verbraucher auf. Ein gutes Beispiel dafür ist Yoko Nomura, die in Tokio in einem kleinen Kiosk Zeitungen und Süßwaren verkauft. Sie ist typisch für das dynamische Kleinbürgertum, das auch ohne Universitätsausbildung genauestens über die Unternehmenskultur des Landes Bescheid weiß. Als wir sie zu ihrer Meinung über die Versuche der Regierung befragen, den Verbrauch mittels Steuererleichterungen wieder anzukurbeln, macht Frau Nomura aus ihrer Skepsis kein Hehl: „Die Politiker der Liberaldemokratischen Partei sind eine Bande von Halsabschneidern. Und sie wissen genau, was wir von ihnen halten. Sagen Sie mir ehrlich, was ich mit diesen Steuersenkungen anfangen soll! Mehr ausgeben oder mehr sparen? Ich werde mehr sparen.“ Auf unseren Einwand hin, daß sie damit zur Verschärfung der Krise beiträgt, entgegnet sie: „Für mich und für Tausende anderer mit mittleren oder niedrigen Einkommen geht es schlicht ums Überleben. Es gibt in diesem Land keine wirkliche Politik der sozialen Absicherung. Und die Bevölkerung ist überaltert. Wenn ich mich nicht selbst um mich kümmere, tut es niemand. Die Leute werden um so mehr sparen, je mehr die Arbeitslosigkeit steigt. Und wir wissen, daß die Zahlen nicht stimmen, die die Behörden angeben.“

Offizielle Daten der OECD belegen, daß Frau Nomura mit ihrer Einschätzung recht hat: Die Sparquote in Japan wächst stetig und erreicht augenblicklich einen Satz von 17 Prozent des verfügbaren Einkommens nach Steuern – gegenüber 12 Prozent im Jahre 1988. Obuchis Wundertherapie zur Krisenbekämpfung beschränkt sich auf 7000 Milliarden Yen (49 Milliarden Dollar) an Steuersenkungen und 10000 Milliarden Yen (70 Milliarden Dollar) an zusätzlichen Ausgaben der öffentlichen Hand. Das ist zuwenig und kommt zu spät. Denn das Programm öffentlicher Baumaßnahmen, das durch die jüngsten Zuweisungen seitens der Regierung finanziert werden soll, greift nur begrenzt: Die öffentlichen Träger sind schon überschuldet und kaum in der Lage, ihre Zinsen zu bezahlen. Zusätzliche Verpflichtungen flößen ihnen lediglich lähmende Angst ein.

Die Zunahme der ungenutzten Produktionskapazitäten führt bei den Unternehmen zu erhöhten Stückkosten und damit zu einem Rückgang der Nachfrage. Das trifft besonders die mittleren und kleinen Betriebe. Der Regierungsplan zur Sanierung des Bankensystems mittels der Schaffung von „Relaisbanken“ (der im übrigen durch die Opposition gestoppt wurde) konnte nicht einmal die 1000 Milliarden Dollar an höchst faulen Krediten auffangen. Da es ihnen nicht mehr gelang, zusätzliches Kapital auf den Finanzmärkten aufzunehmen, schränkten die japanischen Banken ihr Kreditvolumen für Inlands- wie Auslandskunden ein. Sie wollten ihre Existenz nicht weiter aufs Spiel setzen und gleichzeitig den Vorgaben der Bank für internationalen Zahlungsausgleich hinsichtlich der Eigenkapitaldeckung genügen.

Das Fiasko der Finanzinstitute geht einher mit einem mehr als fünfzigprozentigen Verfall der Börsenkurse zwischen 1990 und 1998. In der von der Zeitschrift Fortune vorgenommenen Auflistung der fünfhundert weltweit größten Unternehmen befinden sich unter den zwanzig Listenführern neun japanische und sechs US-amerikanische Firmen. Dem Gewinn nach rangieren allerdings unter den zwanzig Besten zwölf amerikanische Unternehmen und kein einziges japanisches.

Die Vertrauenskrise von Verbrauchern und Investoren schlägt sich auch im Rentabilitätsverlust besonders wichtiger Branchen nieder, besonders im Bereich der Automobilindustrie. In Japan gibt es im Fahrzeugbau elf Unternehmen, in den Vereinigten Staaten dagegen teilen sich nur sechs einen wesentlich größeren Markt. Doch ihre Produktivität unterscheidet sich gewaltig. Im Jahre 1997 verdienten Honda und Toyota an einem Fahrzeug 1650 beziehungsweise 1000 Dollar. Bei Mitsubishi und Nissan belaufen sich die entsprechenden Gewinnzahlen auf 700 beziehungsweise 100 Dollar. Diese Situation ist mittelfristig unhaltbar und lockt die Beutejäger auf den Plan. Was vor kurzem noch undenkbar erschien, rückt in den Bereich des durchaus Möglichen: daß ausländische Riesenkonzerne, die bereits vor Ort Niederlassungen haben, die Kontrolle über Teilbereiche des japanischen Automobilsektors übernehmen. Einigen Bereichen des Bankenwesens könnte es ähnlich ergehen.

Nissan, Mazda und Mitsubishi „hängen in den Seilen“, und mit ihnen die Zulieferer der Automobilbranche wie die Stahl- und die elektrotechnische Industrie mit den zwei Großkonzernen Toshiba und Hitachi. Es wäre naiv, der Behauptung des ehemaligen Premierministers Hashimoto Glauben zu schenken, keiner der japanischen Industrieriesen könne von der Bildfläche verschwinden. Natürlich lösen sie sich nicht in Luft auf, aber gemäß dem systemimmanenten Gesetz von Akkumulation und Desakkumulation des Kapitals können sie von Mächtigeren geschluckt werden. Das wäre dann die Götterdämmerung des „Japan incorporated“, das Ende des sorgsam gepflegten Mythos einer japanischen „Nationalfirma“, die man der Welt zwei Jahrzehnte lang als Beispiel empfohlen hat.

dt. Margrethe Schmeer

* Wirtschaftswissenschaftler

Fußnote: 1 Weltbank, „The East Asian Miracle: Economic Growth and Public Policy“, Washington DC 1993.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von FRÉDÉRIC F. CLAIRMONT