16.10.1998

Die Sprache der Henker

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Die Sprache der Henker

JOO VENCIO ist weder Don Juan noch Casanova, und seine Liebschaften haben nichts Heroisches. Der Mulatte versauert in einem Gefängnis in Luanda, weil er versucht hat, seine untreue Lebensgefährtin zu erdrosseln. Auf Drängen seines Gesprächspartners – vielleicht der Schriftsteller selbst1 –, der stumm bleibt, dessen Gegenwart seinen Bericht gleichwohl rechtfertigt und anfeuert, läßt er seine drei Jugendlieben Revue passieren.

Eigentlich handelt es sich eher um eine dreifache Liebe, die abwechselnd die Züge von Tila annimmt, der schönen Weißen von nebenan, die von ihrem „diplomierten“ Ehemann verprügelt wird, die von Maristela, der Kleinen von den Kapverdischen Inseln, um deren Augen willen er Vögeln die Augen aussticht, und die Züge von Mimi, seinem Klassenkameraden, Freund und schließlich Liebhaber. Ort der Handlung: das Elendsquartier, in dem Einheimische, verarmte Weiße und Einwanderer von den Kapverden nicht ohne Reibereien zusammenleben. Da ist die gewöhnliche häusliche Gewalt, die verbale Gewalt einer herzlosen Mutter, die unerhörte Gewaltsamkeit des Todes eines Jungen, den der Zorn hinwegraffte, oder die Gewaltreaktion seiner Mutter, der Prostituierten Florinha, die sich aus Verzweiflung den Jugendlichen des Viertels anbietet.

„Ich soll der Sadist, der Ketzer sein?“ Die Frage durchzieht den langen Monolog wie ein Refrain und erhellt dessen eigentliche Bedeutung zwischen Bekenntnis und Therapie. Ein schamloses Bekenntnis, ein langes Sündenregister: die intimen Männerfreundschaften, Mordgelüste, das Vergnügen an Tierquälerei. Von seinem kurzen Aufenthalt im Priesterseminar blieb Joo Vencio eine sehr persönliche (instinktive und synkretistische) Idee der Religion, eine ausgeprägte Vorliebe für Rituelles und eine echte Begeisterung für das Kirchenlatein. Die biblische Verkörperung des Worts schmückt sich hier mit den magischen Tugenden des Voodoo oder den kathartischen der antiken Tragödie. „Die Worte lügen, aber mit ihnen sagt man die Wahrheit.“

Die Worte, die Sprache. Kein Stil, wahrhaft eine Sprache, fleischlich und lustbetont, der erzählten Erfahrung angemessen, sie erfindet sich während des Schreibens. In einer Vorbemerkung spricht José Luandino Vieira vom „Versuch eines literarischen ambaquisme“. Weiter unten im Text definiert er diesen Ausdruck als jenes „kulturelle Phänomen, das den Kolonisierten kennzeichnet, der sich, auf unvollkommene Weise, bestimmte Elemente der Kultur (...) des Kolonialherren anzueignen sucht“. Das Projekt erinnert an das der Schriftsteller der „créolité“, an das eines Genet, wenn er die „Sprache der Henker“ spricht. Gleichwohl ist es etwas ganz eigenes, die einzigartige Begegnung zweier sonderbarer Menschen: eines ungebildeten mulattischen Dichers und eines portugiesischen Autors, der wegen seiner Sympathie für die angolanische Unabhängigkeitsbewegung lange im Gefängnis saß. „Ich gebe den Faden, und Sie, mein Freund und Lebensgefährte, geben die Perlen – wir machen unsere Kette aus befreundeten Farben.“

EMMANUELLE GALL

Fußnote: 1 José Luandino Vieira, „Joo Vencio: ses amours“, a. d. Portugiesischen von M. Laban, Paris (Gallimard) 1998. Auf deutsch ist von José L. Vieira erschienen: „Das wahre Leben des Domingos Xavier“, aus d. Frz. von K. Hering, Frankfurt/M. (Lembeck) 1981.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von EMMANUELLE GALL