16.10.1998

Neue Denkansätze

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Neue Denkansätze

UNTER den lateinamerikanischen Ländern ist sicher Brasilien dasjenige, in dem die Kritik am Neoliberalismus am deutlichsten geäußert wird. Entgegen der offiziellen Politik, die den wirtschaftlichen Ausverkauf und den sozialen Ausschluß beschleunigt hat, versuchen nun zwei Werke, für die „Nation Brasilien“ mobilisierende Perspektiven zu entwickeln.

Aus der Tatsache, daß sich viele internationale Konflikte um die „Energieträger der Vergangenheit“ drehen, leitet im ersten Buch1 José Walter Bautista Vidal, ein Energieexperte, die strategische Bedeutung von erneuerbaren und sauberen Energieträgern ab, wie Biomasse, Solarenergie und Süßwasser, von denen Brasilien im Überfluß besitzt. Der Autor träumt von einem staatlichen Projekt auf Basis der erneuerbaren Energien, „in Form von Biomasse aus dem tropischen Regenwald, die die Energiebedürfnisse der ganzen Welt befriedigen könnte“. Voraussetzung dafür wäre allerdings, daß die brasilianischen Eliten ihre Untertanenmentalität aufgeben, aufgrund derer sie bisher die Grundlage eines eigenständigen Projekts für ihr Land zerstören.

Das zweite Werk gibt einen historischen Abriß, untersucht die Stärken Brasiliens (Größe des Territoriums und Bevölkerungszahl, hohes Potential an Energie und Technologie) sowie seine Schwächen (ausgeprägte soziale Ungleichheit, Abbau der staatlichen Infrastrukturen, Krise des Staats) und formuliert davon ausgehend Alternativen zur jetzigen Vorherrschaft des Liberalismus. Die Autoren stellen ein Entwicklungsmodell vor, das auf privaten Spareinlagen und dem Binnenmarkt aufbaut, sich auf die Herstellung von Waren konzentriert, die für die Mehrheit der Bevölkerung unverzichtbar sind, und dabei auf bereits bekannte Technologien zurückgreift, um die Importe zu reduzieren. Dieses Vorhaben würde sich auf die unermeßlichen Ressourcen des Landes an Energie und Rohstoffen stützen. Es würde souveräne Beziehungen mit dem Rest der Welt knüpfen – vor allem mit den Entwicklungsländern. Ferner müßte eine tiefgreifende Staatsreform durchgeführt werden zur Wiedererlangung der ökonomischen Lenkungsgewalt und zur Wahrung der Bürgerkontrolle über den Staat.

RAUL K. M. CARRION

Professor an der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul.

Fußnoten: 1 José Walter Bautista Vidal, „A reconquista do Brasil“, Rio de Janeiro (Espaço e Tempo) 1997. 2 „A Opçao Brasileira“, Cesar Benjamin (Hrsg.), Rio de Janeiro (Contraponto) 1998.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von RAUL K. M. CARRION