16.10.1998

Scheidung auf belgisch kommt immer teurer

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Scheidung auf belgisch kommt immer teurer

NICHTS kann Belgiens Führungsschicht aus der Ruhe bringen. Weder die wiederholten Skandale in Politik und Wirtschaft noch der Fall Dutroux, die um sich greifende Arbeitslosigkeit oder das wachsende Elend haben einen Wandel der Regierungspolitik bewirkt. Deren Hauptziel ist und bleibt der Euro – egal, um welchen Preis. Unterdessen nehmen die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Sprachgemeinschaften an Schärfe weiter zu und werden sich noch weiter zuspitzen, je näher der Wahltermin vom Juni 1999 rückt.

Von SERGIO CARROZZO *

Am 13. Juni 1999 werden die Belgier theoretisch einen besonderen Wahltag erleben. Erstmals an ein- und demselben Tag wird man das Europaparlament, das Bundesparlament, die Räte der drei Sprachgemeinschaften und die Regionalparlamente wählen. Ein knappes Jahr vor diesem Termin beginnen die Parteien der Regierungsmehrheit wie auch der Opposition, über die Konturen des Belgien des dritten Jahrtausends nachzudenken. Seit der Staatsgründung im Jahre 1830 war das Land ständig zentrifugalen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kräften ausgesetzt; allein zwischen 1970 und 1994 gab es vier Verfassungsreformen, doch nach wie vor ist die Struktur des Bundesstaates unfertig.1

Diese vier Etappen, die relativ reibungslos durchquert wurden, korrespondieren mit dem allgemeinen Wunsch nach größerer politisch-ökonomischer und kultureller Autonomie. Sie fielen in einen Zeitraum, in dem sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Flamen verschoben hat: Noch bis zu Beginn des Jahrhunderts hatte die frankophone Bourgeoisie das Land dominiert und den niederländischsprachigen Flamen die kulturelle Eigenständigkeit abgesprochen.

Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg der industrielle Niedergang Walloniens beschleunigte, begannen die Flamen, das Land zurückzuerobern; nach und nach besetzten sie alle Schaltstellen der Macht. Zwar hat sich der Föderalismus als Regelwerk zur Beilegung der flämisch-wallonischen Konflikte durchgesetzt, doch ging damit keine Herausbildung einer föderalen Kultur einher. Daher wird das Kriterium der „sprachgemeinschaftlichen Zugehörigkeit“ in allen Variationen serviert und bestimmt so gut wie alle politischen Debatten.

Wenn sich die Tendenz zur Aufsplitterung des Landes weiter verstärkt, wie die meisten Beobachter meinen, stellt sich die Frage, was in der kommenden Legislaturperiode geschehen wird. Geht es lediglich darum, den bei der letzten Verfassungsänderung beschlossenen „Einheitsföderalismus“2 noch subtiler abzuschmecken, oder kommt es zu einer Sezession?

Der Handlungsspielraum der politischen Entscheidungsträger ist eng, egal, wie die künftige Regierungskoalition aussehen mag. Denn das Konzept der Politiker hat paradoxerweise keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Flamen und Wallonen haben diese Entwicklung eher über sich ergehen lassen als sie zu unterstützen. In den vergangenen zwanzig Jahren sind die Vorstellungen der Regierung und die der Bevölkerung stetig auseinandergedriftet. Und mit der sich verschärfenden ökonomischen Krise ist die Distanz zwischen Zivilgesellschaft und politischer Klasse noch größer geworden.

Zum Beweis: Die Restrukturierung der Unternehmen, die spürbaren Haushaltskürzungen im Bildungs- und Sozialbereich, die massive Arbeitslosigkeit und die fortschreitende Verarmung haben in den letzten zwanzig Jahren der Gesellschaft tiefe Wunden geschlagen. Nicht zuletzt als Reaktion auf den Schock der Dutroux- Affaire3 wird nun, im Jahre 1998, von vielen eine Gesellschaft gefordert, die den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt. Doch die Antwort der Politiker lautet: dreiprozentiges Euro-Konvergenzkriterium, Inflationsbekämpfung, Notwendigkeit eines starken Franc, Abbau der Verschuldung und Sanierung der öffentlichen Finanzen. Wird dieser Kurs nicht durchgehalten, so warnt man in belgischen Politiker- und Bankerkreisen, geht Belgien einer Wirtschafts- und Sozialkatastrophe entgegen.

Das Filetstück Brüssel

ABER das Unglück ist bereits eingetreten, denn mehr als 1 Million der 3,8 Millionen erwerbsfähigen Menschen leben heute direkt oder indirekt von der Arbeitslosenversicherung, bei einer Gesamtbevölkerung Belgiens von etwas mehr als 10 Millionen Einwohnern.4 Die Zunahme der Streiks – Gefängniswärter, Geldtransporteure, Lehrer, Studenten, Arbeiter im primären Sektor usw. – machen deutlich, wie sehr die Gesellschaft von den wiederholten drakonischen Sparmaßnahmen gebeutelt wird.

Aufschlußreich sind auch die Schlußfolgerungen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu „Dutroux- Nihoul und Mittätern“5 : Das Versagen des Justiz- und Polizeiapparats im besonderen und des Staates im allgemeinen hat dazu beigetragen, daß ein Kinderschänder monatelang ungestraft sein Unwesen treiben konnte. Selbstverständlich trägt die augenblickliche Vierparteienkoalition aus flämischen wie wallonischen Christdemokraten und Sozialisten eine entscheidende Mitverantwortung für diese Situation.

Aber selbst dieser düstere Kontext wird wahrscheinlich nicht verhindern können, daß die alten Querelen der Sprachgemeinschaften die politische Bühne um so stärker beherrschen, je näher die Wahlen rücken. Ständig erinnern die Wortführer der flämischen Bewegung daran, daß Flandern den wesentlichen Teil des nationalen Wohlstands erwirtschaftet6 – aber haben die Wallonen nicht ein Jahrhundert lang dasselbe getan? –, mithin die beiden anderen Regionen, Brüssel und Wallonien, durchfüttert.

Das erklärt, warum autonomistische und separatistische Regungen häufiger im Norden als im Süden des Landes auftreten und warum Forderungen nach einer Trennung der Sozialversicherung erhoben werden, die bislang auf Bundesebene angesiedelt ist. Die Wallonen sind aus naheliegenden Gründen dagegen: Da die Beiträge an die Gehälter gekoppelt sind7 , fließt viel mehr Geld aus Flandern als aus Wallonien in den gemeinsamen Versicherungstopf. Würde die Sozialversicherung „föderalisiert“, wäre es mit der Solidarität vorbei, die die Regionen und Bürger heute noch zusammenhält.

Ob die Flamen überhaupt solch eine schnelle, harte Scheidung verlangen können, ist so sicher nicht. Wallonien ist immer noch der wichtigste Handelspartner Flanderns, das 70 Prozent seiner Produktion in der südlichen Landeshälfte absetzt.8 Und auch wenn Karel Vinck als Vorsitzender des flämischen Arbeitgeberverbandes davon träumt, aus seiner Region das „Singapur Europas“ zu machen, weiß man innerhalb des belgischen Arbeitgeberverbandes dennoch um die Risiken, die eine Auflösung der wirtschaftlichen Verflechtung mit sich bringen würde, die Produkt einer gemeinsamen Geschichte von immerhin 168 Jahren ist.

Dieselben flämischen Politikerkreise fordern ebenso gebetsmühlenartig die „Föderalisierung“ der kolossalen Staatsverschuldung in Höhe von ca. 10700 Milliarden belgische Franc (535 Milliarden Mark), was ungefähr 122,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts entspricht. Die Befürworter dieses Konzepts scheinen zu vergessen, daß die riesige Finanzlücke in erster Linie durch Fehlfunktionen der öffentlichen Verwaltung verursacht ist, die auch die Flamen maßgeblich zu verantworten haben: „Die ausgiebig praktizierte Kompromißfindung, die man als typische belgische Regierungsweise bezeichnen könnte, hat zwar wirkliche Konfrontationen vermeiden helfen, zugleich jedoch den staatlichen Verwaltungsalltag erheblich belastet. Die Aufsplitterung der Macht unter verschiedenen Entscheidungsträgern mit gegensätzlichen Vorstellungen führt ganz automatisch zu einer enormen Verschwendung von Energien und öffentlichen Geldern.“9

Diese Art, das Land zu regieren und den Kuchen aufzuteilen, erklärt sich aus der Geschichte des Landes und der politischen Kultur der Führungsschicht. Belgien ruht auf „Pfeilern“, die trotz ihrer Gegensätzlichkeit das Gesamtgebäude bislang solidarisch getragen haben: „Das politische, soziale und kulturelle Leben ist nach ,Säulen' geordnet, in ,Welten' mit unterschiedlicher politischer und philosophischer Ausrichtung aufgeteilt (...). Diese Säulen bilden regelrechte Gegengesellschaften. (...) Jede Säule umfaßt eine Partei, eine Gewerkschaft, eine genossenschaftliche Organisation und eine Vielzahl kleinerer Vereine. Zwischen diesen ,Welten' bestehen nur wenige Querverbindungen. Die historische Aufteilung der belgischen Gesellschaft ist also vertikal angelegt, mit einer Ausnahme: der politischen Führungsebene, auf der man diskutiert und Kompromisse aushandelt. Deshalb bezeichnet man die belgische Demokratie auch als ,konsoziativ': ein Miteinander von Untergesellschaften.“10

Andere Faktoren wiederum beschränken die Handlungsfreiheit der politischen Entscheidungsträger und mindern das Risiko eines unkontrollierten Auseinanderbrechens der Institutionen. „So wie die Staatsreform in erster Linie ein Prozeß ist, der wohl nie zum Stillstand kommen wird, ist einigen Flamen plötzlich sehr klar geworden, daß es auch bei ihnen gewisse Probleme gibt und der Slogan ,An allem sind die Wallonen schuld' nicht mehr überzeugt. Die Schließung des Renault- Werks in Vilvoorde hat die Illusion von der Unverwüstlichkeit Flanderns, die einige Führer der flämischen Bewegung gehegt hatten, jäh zerstört“, erkärt Guido Fonteyn, Journalist bei der katholischen flämischen Tageszeitung De Standaard.

Renault-Vilvoorde hat auf dramatische Weise klargemacht, daß die Volksgruppen Belgiens und ihre Vertreter die Zukunft ihres Landes immer weniger in der Hand haben. Wirtschaftlich hängt Belgien zunehmend von ausländischen Unternehmen ab, die für die Hälfte aller industriellen Arbeitsplätze sorgen. Französische Firmen haben sich ganze Bereiche des Bankensektors und der Lebensmittelindustrie unter den Nagel gerissen.11 Außerdem tendiert die Entwicklung der Europäischen Union dahin, ganz allgemein die Souveränität seiner Mitgliedstaaten einzuschränken.

Das proflämische oder prowallonische Kriegsgeschrei ist nur bedingt relevant, da die von der Europäischen Union diktierten Finanzvorgaben indirekt jede Neuregelung der finanziellen Zuweisungen für die Sprachgemeinschaften und Regionen erschweren. In dieser Hinsicht gibt das Beispiel Brüssels zu denken. Die frankophone Enklave auf flämischem Territorium, die die Europäische Kommission beherbergt, weckt Begehrlichkeiten, vor allem beim Vlaams Blok. Diese rechtsradikale Partei hofft bei den nächsten Wahlen zur wichtigsten flämischen Gruppierung im Brüsseler Regionalrat aufzusteigen, um diesen lahmlegen zu können und sodann das günstige sozioökonomische Umfeld als Nährboden für die Verbreitung ihrer Ideen zu nutzen.12

Weil sie vollauf damit beschäftigt sind, den Staat zu tranchieren und ihre haushaltspolitischen Ziele zu realisieren, nehmen die regierenden demokratischen Altparteien gar nicht wahr, wie darüber bei einem Teil ihrer Wähler die Verbitterung, Wut und Verzweiflung anwachsen. Zwar weiß, wie Premierminister Jean-Luc Dehaene meint, „niemand, was 1999 passieren wird“13 . Aber die Konflikte zwischen den Sprachgemeinschaften können kaum mehr verdecken, daß es in Wirklichkeit um viel Entscheidenderes geht: um die grundsätzliche Frage, welche Art von Gesellschaftstyp man insgesamt aufbauen will.

dt. Margrethe Schmeer

* Journalist, Brüssel.

Fußnoten: 1 1970 wurde Belgien in drei Gemeinschaften (französisch, flämisch und deutsch) und drei Regionen (Wallonien, Flandern und Brüssel) aufgeteilt. 1980 wurden die Zuständigkeiten der Regionen (Raumordnung, Wohnung, Wirtschaftspolitik usw.) definiert. 1988/89 wurde der Schulbereich den Sprachgemeinschaften unterstellt. 1993/94 schließlich wurden die Kompetenzen (u.a. Landwirtschaft, Außenhandel, Sozialprogramme) und finanziellen Mittel der Regionalräte und Räte der Gemeinschaften erweitert; die Mitglieder der Regionalräte werden nach allgemeinem Wahlrecht gewählt. Siehe dazu Xavier Mabille, „Histoire politique de la Belgique“, Brüssel (Editions du Crisp) 1997. 2 Vgl. hierzu „Une dernière chance pour l'unité de la Belgique?“, Le Monde diplomatique, Juni 1993 und Florence Beaugé, „La Belgique en ses habits fédéraux“, Le Monde diplomatique, Februar 1994. 3 Marc Dutroux ist mutmaßlich verantwortlich für die Entführung und den Tod mehrerer Kinder in der Zeit von Juni 1995 bis August 1996. 4 Avancées, Brüssel, Nr. 64, März 1998. 5 Parlamentarische Untersuchung über die Ermittlungen von Polizei und Justiz im Fall „Dutroux- Nihoul und Mittäter“, Zusatzbericht, Belgisches Abgeordnetenhaus, 16. Februar 1998. 6 Beim Wirtschaftswachstum belegt Flandern den ersten Platz mit einer durchschnittlichen Zunahme der Bruttowertschöpfung von 2,6 Prozent für den Zeitraum 1985-1995. Demgegenüber betragen die Wachstumsquoten der Regionen Wallonien und Brüssel 1,8 beziehungsweise 1,2 Prozent. (vgl. L'Echo, Brüssel, 15. März 1997). 7 1996 betrug der Anteil Flanderns am BIP 60,4 Prozent, der Walloniens 25,1 Prozent (vgl. Le Soir, Brüssel, 31. Juli 1997). 8 „Belgique, disparition d'une nation européenne?“, Autorenkollektiv, organisiert von Christophe Derenne und Colette De Troy, Brüssel (Editions Luc Pire) 1997, S. 48. 9 Claude Haim, „La Belgique mise à nu“, Paris (Editions du Félin) 1995, S. 209. 10 „L'Affaire Dutroux, la Belgique malade de son système“, Autorenkollektiv, Brüssel (Complexe) 1997, S. 165. 11 „Belgique, la force da la désunion“, hrsg. von Alain Dieckhoff, Brüssel (Editions Complexe) 1996, S. 191. 12 Dazu Serge Govaert, „Der Sprengkopf am Staate Belgien“, Le Monde diplomatique, Januar 1998. 13 Le Soir, Brüssel, 13. Oktober 1997. 14 Vgl. Jean-Marie Chauvier: „En Belgique, ,affaires' et crises de régime“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996, und ders.: „En Belgique l',année blanche' vire au gris“, Le Monde diplomatique, Oktober 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von SERGIO CARROZZO