16.10.1998

Über die menschliche Entwicklung

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Über die menschliche Entwicklung

Von DOMINIQUE VIDAL

DER seit 1990 alljährlich veröffentlichte „Bericht über die menschliche Entwicklung“ – wobei unter Entwicklung „ein Prozeß“ verstanden wird, „der die Wahlmöglichkeiten der Menschen erweitert“ – ist eine außerordentlich reichhaltige Informationsquelle1 , die auffällig mit den gemeinhin üblichen Veröffentlichungen der internationalen Organisationen kontrastiert. Der Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) bringt nicht allein den Standpunkt der westlichen Länder zum Ausdruck, sondern den der internationalen Gemeinschaft insgesamt. Und anstatt den Wohlstand nur mit dem trügerischen Maßstab des Pro-Kopf-Einkommens zu messen, haben die UNDP-Experten eine ganze Reihe von Indikatoren erarbeitet, die die Entwicklungsungleichheiten in der Welt und innerhalb einzelner Länder besser widerspiegeln.2

Der Bericht von 1998 gibt sich nicht der Schwarzmalerei hin. Er stellt im Gegenteil die immensen Fortschritte der letzten Jahrzehnte heraus: Der öffentliche und private Verbrauch erreichen 1998 eine Höhe von 24000 Milliarden Dollar, doppelt soviel wie 1975, sechsmal soviel wie 1950 und sechzehnmal soviel wie im Jahr 1900. Wie der Bericht unterstreicht, haben die Entwicklungsländer „in den vergangenen dreißig Jahren die gleiche Wegstrecke zurückgelegt wie die Industrieländer in mehr als einem Jahrhundert“. Die Lebenserwartung eines neugeborenen Kindes ist in den südlichen Ländern heute um sechzehn Jahre höher als noch vor fünfunddreißig Jahren. Die Schulbesuchsquote der Mädchen hat sich zwischen 1970 und 1992 nahezu verdoppelt (68 statt 38 Prozent). Der Anteil der alphabetisierten Erwachsenen ist von 48 Prozent im Jahr 1970 auf 70 Prozent im Jahr 1995 gestiegen. Zwei Milliarden Menschen haben innerhalb der letzten fünfzehn Jahre Zugang zu Trinkwasser erhalten. Die Liste der Erfolgsmeldungen ließe sich fortsetzen.

Aber der Bericht beleuchtet auch die weiterhin ungleiche Verteilung dieser Fortschritte. So teilt sich ein Fünftel der Menschheit (die Bevölkerung der reichsten Länder) 86 Prozent des weltweiten privaten Verbrauchs, während auf ein weiteres Fünftel (die Bevölkerung der ärmsten Länder) nur 1,3 Prozent entfallen. Das reichste Fünftel verbraucht oder verfügt über 45 Prozent der weltweiten Fleisch- und Fischbestände (das ärmste Fünftel über 5 Prozent), 58 Prozent der Energie (4 Prozent), 84 Prozent des Papiers (gegen 1,1 Prozent), 87 Prozent der Kraftfahrzeuge (unter 1 Prozent), 74 Prozent aller Telefonleitungen (1,5 Prozent) und so weiter.

„1960 verfügten die 20 Prozent der Weltbevölkerung, die in den reichsten Ländern lebten, über ein dreißigmal höheres Einkommen als die ärmsten 20 Prozent; 1995 war ihr Einkommen schon zweiundachtzigmal höher.“ Noch tiefer ist diese Kluft zwischen dem Elend der großen Masse und dem Reichtum einer Handvoll Privilegierter: Das Vermögen der drei reichsten Personen der Welt übersteigt das kumulierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) der 48 ärmsten Entwicklungsländer; das Vermögen der fünfzehn reichsten entspricht der Produktion des ganzen subsaharischen Afrika, und das Vermögen der vierundachtzig reichsten liegt höher als das Sozialprodukt Chinas mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern. Am unteren Ende der Einkommensskala „leben noch rund 1,3 Milliarden Menschen mit weniger als 1 Dollar pro Tag [...] und fast drei Milliarden Menschen mit weniger als zwei Dollar pro Tag.“

Noch schockierender ist, daß die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung sämtlicher Entwicklungsländer (Nahrung und Trinkwasser, Infrastruktur- und Sanitäreinrichtungen, Bildung und Gesundheit, Gynäkologie und Geburtshilfe) schätzungsweise 40 Milliarden Dollar pro Jahr kosten würde, nur 4 Prozent des kumulierten Vermögens der zweihundertfünfundzwanzig größten Vermögen der Welt.

Da es selbst an diesem bißchen aber fehlt, sind „die ärmsten 20 Prozent der Weltbevölkerung von der Konsumexplosion praktisch ausgeschlossen. Weit über eine Milliarde Menschen können ihre elementarsten Konsumbedürfnisse nicht decken. Von den 4,4 Milliarden Menschen in Entwicklungsländern verfügen fast drei Fünftel nicht einmal über die einfachsten Sanitäreinrichtungen. Fast ein Drittel hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Ein Viertel hat keine ausreichende Unterkunft. Ein Fünftel hat keinen Zugang zu modernen Gesundheitsdiensten.“ Für ungefähr denselben Prozentsatz „ist die Energie- und Proteinzufuhr durch Nahrung unzureichend. Weltweit sind zwei Milliarden Menschen anämisch, 55 Millionen davon in Industrieländern.“

Der UNDP-Bericht verwendet erstmals einen neuen Armutsindikator (HPI-2), um den Anstieg sozialer Ausgrenzung in den entwickelten Ländern zu messen. In den Industrieländern sind demnach zwischen 7 und 17 Prozent arm, was jedoch „wenig mit dem Durchschnittseinkommen der betreffenden Länder zu tun“ hat. So ist in den Vereinigten Staaten, „die das höchste Durchschnittseinkommen der Industrieländer aufweisen, (...) der Anteil der Bevölkerung, die in Armut lebt, am höchsten. Andererseits kann in Ländern mit ähnlichen Pro-Kopf-Einkommen das Ausmaß der menschlichen Armut sehr unterschiedlich sein. So liegt der HPI-2-Wert der Niederlande und Großbritanniens bei 8 bzw. 15 Prozent, obwohl das Einkommensniveau ganz ähnlich ist.“ Kurz, Konsumentbehrungen und menschliche Benachteiligungen sind „nicht nur das Los armer Menschen in Entwicklungsländern (...). Über 100 Millionen Menschen in reichen Staaten sind in der gleichen Lage. Fast 200 Millionen Menschen werden wahrscheinlich nicht älter als sechzig Jahre werden. Über 100 Millionen sind obdachlos. Fast 37 Millionen haben keinen Arbeitsplatz und werden daher häufig sozial ausgegrenzt.“

Sicherlich wurde die ungeheure Kluft zwischen den Ärmsten und den Reichsten schon in früheren Publikationen des UNDP herausgestellt. Aber der Bericht über die menschliche Entwicklung von 1998 geht einen Schritt weiter. Seine Statistiken zeigen, daß es in vielen Fällen nicht mehr um geringere Entwicklung geht, sondern um Rückschritt. „Nicht weniger als einhundert Entwicklungs- oder Reformländer erlebten in den letzten drei Jahrzehnten einen starken wirtschaftlichen Niedergang, der bewirkte, daß das Pro-Kopf-Einkommen hier niedriger lag als vor zehn, fünfzehn, zwanzig oder sogar dreißig Jahren.“

Für diese Entwicklung nennt der Bericht zahlreiche Beispiele. „Obwohl in Asien teilweise spektakuläre Einkommenszuwächse erzielt wurden, erreichten weltweit nur 21 Entwicklungsländer zwischen 1995 und 1997 eine Steigerung des Pro-Kopf-BIP von mindestens 3 Prozent – die Voraussetzung zur Überwindung der Armut.“ Ein weiteres bezeichnendes Beispiel ist, daß der „afrikanische Durchschnittshaushalt“ heute „20 Prozent weniger als vor fünfundzwanzig Jahren“ konsumiert. Ebenfalls im subsaharischen Afrika stieg „zwischen 1970 und 1990 (...) die Anzahl unterernährter Menschen von 103 Millionen auf 215 Millionen, also auf mehr als das Doppelte.“ Aber der Sprung zurück betrifft nicht nur die Dritte Welt. „In Osteuropa und der GUS liegt die Lebenserwartung heute bei achtundsechzig Jahren und damit nur um ein Jahr höher als 1960, also vor fünfunddreißig Jahren. Hierin spiegelt sich der drastische Rückgang der Lebenserwartung aufgrund der sozialen und ökonomischen Umbrüche nach 1989, von denen vor allem Männer stark betroffen waren. In Rußland ist die Lebenserwartung von Männern seit 1989 um mehr als fünf Jahre gesunken.“

Die Armen sind überall die ersten Opfer der Plagen, von den Kriegen bis hin zur Umweltzerstörung. Dies gilt selbst für die Erwärmung der Erdatmosphäre. Das reichste Fünftel der Weltbevölkerung ist für 53 Prozent der Kohlendioxydemissionen verantwortlich, aber in den überschwemmungsgefährdeten Küstenregionen lebt das ärmste Fünftel, das nur 3 Prozent dieser Emissionen verschuldet. Ein Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter „würde die Landfläche von Bangladesch um 17 Prozent schrumpfen lassen (...). 12 Prozent des ägyptischen Territoriums, auf dem 7 Millionen Menschen leben, könnten vom Meer verschlungen werden.“

Abgesehen von Zukunftsprojektionen enden die meisten Statistiken des Berichts im Jahr 1995. Vor Beginn der derzeitigen Krise also.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 UNDP, „Bericht über die menschliche Entwicklung 1998“, Bonn (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V.) 1998. 2 Zu diesen Indikatoren zählen insbesondere die Lebenserwartung bei der Geburt, der Alphabetisierungsgrad der Erwachsenen, der Anteil der Bevölkerung, der weder zu Trinkwasser noch zu Gesundheitsleistungen Zugang hat, der Anteil von Kindern unter fünf Jahren mit Untergewicht, der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, Langzeitarbeitslosigkeit und vieles mehr.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von DOMINIQUE VIDAL