16.10.1998

Fragwürdige Selbstüberwachung

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Fragwürdige Selbstüberwachung

IM Dezember 1995 wurde der Grieche Giorgios Tzoanos, ein hochrangiger EU- Beamter, verhaftet, und mit ihm seine Ehefrau und einer seiner befristeten Mitarbeiter, der Franzose Pascal Chatillon. Die drei stehen im Mittelpunkt des jüngsten Korruptionsskandals, der in der Europäischen Kommission öffentlich verhandelt wurde. Unter dem Verdacht, Schmiergelder in Höhe von Tausenden von ECU kassiert zu haben – als Gegenleistung sollten sie bestimmte Touristikunternehmen bei EU-finanzierten Projekten berücksichtigen – wurden die beiden Männer zunächst lediglich von ihrer Tätigkeit in der Kommission entbunden, ehe sich schließlich die belgische Justiz für sie zu interessieren begann.

Seit Anfang 1996 wurde über diese Affäre viel geschrieben. Giorgios Tzoanos ist inzwischen, nach dreizehn Monaten Untersuchungshaft, nach Griechenland zurückgekehrt. Pascal Chatillon, gegen den die französische Justiz ermittelt, hat sogar versucht, gegen die Kommission zu klagen. Diese zeigt indessen keinerlei Interesse, die Sachen irgendwie weiterzuverfolgen. Inzwischen wurde publik, daß der frühere Vorgesetzte der beiden Verdächtigten, der deutsche Direktor der Generaldirektion 23, Heinrich von Moltke, sich in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet hat. Der belgischen Justiz ist es dennoch Anfang dieses Jahres gelungen, die Aufhebung seiner Immunität zu erwirken. Im übrigen wurde die Affäre – offenbar auf deutschen Druck hin – sehr schleppend behandelt.

„Unser Eindruck ist, daß die Kommission uns nicht die ganze Wahrheit über diese Affäre gesagt hat. Wir haben also unsere Pflicht versäumt, sie zu kontrollieren“, erläutert Herbert Bosch, ein sozialdemokratischer Abgeordneter aus Österreich. „Wir haben nie eine klare Antwort auf unserer Fragen nach den verschiedenen Überweisungen erhalten, die mit diesen Transaktionen verbunden waren.“ Bosch meint, die europäischen Institutionen seien noch allzu anfällig für Interventionen seitens der Mitgliedstaaten. „In diesem konkreten Fall handelte es sich um Druck aus den Reihen der CDU, der dieser Generaldirektor angehört.“

Nach Aussage der Kommissionssprecherin Betty Gunnarsson ist das Amt für die Koordinierung der Betrugsbekämpfung (Uclaf) in der Regel mit mehreren Dutzend Fällen gleichzeitig befaßt, und zwar innerhalb wie außerhalb der europäischen Exekutive. In den meisten Fällen handelt es sich um Betrug bei EU-Subventionen, die von der Kommission verwaltet werden, aber auch um Unregelmäßigkeiten bei den Einnahmen der Gemeinschaft. Demgegenüber sind Korruptionsfälle, in die Europabeamte verwickelt sind, äußerst selten: Die Arbeitsplatzgarantie wie die Höhe der Gehälter sind ausreichender Garant dafür, daß derlei Entgleisungen nicht vorkommen sollten. Gleichwohl gibt es in Brüssel Gerüchte über einen Selbstmord, der mit Veruntreuungen in der für Agrarfragen zuständigen Behörde zusammenhängen soll, genauer mit finanziellen „Unstimmigkeiten“ bei der Verwaltung des MEDA-Programms (das den Mittelmeerländern zugute kommt) sowie mit „Unregelmäßigkeiten“ bei der Zuteilung von Geldern aus den Programmen Phare und Tacis (Förderprogramme für osteuropäische Staaten). Wegen Bestechung wurde ein europäischer Beamter zum letzten Mal 1990 verurteilt; der Betreffende war zuständig für die Beschaffung von Büromaterial.

DIE Wochenzeitung European Voice 1 nennt für 1994 und 1995 die Zahl von 37 eingeleiteten Disziplinarverfahren. Bei 12 (von 18000) Beschäftigten der Kommission kam es aus unterschiedlichen Gründen zu einer Verurteilung, 3 von ihnen wurden aus dem Dienst entfernt (die beiden oben erwähnten Männer eingerechnet), zwei weiteren wurde die Demission nahegelegt. Der bekannteste Fall ist der von Michael Emerson, einem früheren EU-Botschafter in Moskau, der dringend verdächtig war, Geschäfte mit russischen Unternehmen getätigt zu haben. Aus European Voice erfährt man auch, die Art der Vergehen reiche von der Verwendung amtlichen Briefpapiers zu privaten Zwecken bis zu unkorrekten Reisekostenabrechnungen, von sexueller Belästigung bis zur Annahme von Geschenken.

Aber das eigentliche Problem liegt im System selbst begründet. Erst jüngst hat das Europäische Parlament scharfe Kritik daran geübt, daß die Überwachung der Kommissionsbehörden einem Organ der Kommission selbst – der Uclaf – untersteht: Der Kontrollierte kontrolliert sich also selbst! Außerdem hat es Vorstöße gegeben, den Zuständigkeitsbereich der Uclaf auf den Wirtschafts- und Sozialausschuß auszudehnen: Anlaß waren manipulierte Reisekostenabrechnungen von Ausschußmitgliedern; dabei sind auch noch andere Institutionen – etwa das Parlament – ins Gespräch geraten.

„Die Uclaf muß gestärkt und eine unabhängige Instanz werden“, sagen Bosch und seine Freunde. Die Umsetzung ihrer Forderung erscheint den Spezialisten der Kommission allerdings keineswegs einfach: „Welche Interessen würde eine solche Einrichtung vertreten? Wenn sie nicht der Kommission untersteht, die über die Einhaltung der Abkommen wacht, könnte sie nur den Mitgliedstaaten unterstellt sein. Aber welchen? Und nach welchem Recht? Es gibt kein europäisches Strafgesetzbuch. Gegenüber wem würde die Uclaf Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegen, und auf welcher juristischen Grundlage?“

KAREL BARTAK

Fußnote: 1 European Voice, Brüssel, 21. März 1996.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von KAREL BARTAK