Krise in Japan
Von IGNACIO RAMONET
NICHTS weist in den Straßen der japanischen Großstädte auf die Schwere der Krise hin, die der Inselstaat erlebt. In Shibuya, Harajuki und Shinjuku, den schicken Vierteln von Tokio, drängen sich die Menschen in den eleganten Boutiquen, Restaurants und Kinos. Keine „neuen Armen“ oder „Obdachlosen“, in den Bahnhöfen und U-Bahnstationen hält niemand die Hand auf. Der durchreisende Fremde bemerkt auf den ersten Blick keine Spuren eines Wohlstandsverlusts.
Das ist ganz normal. Japan ist noch immer die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Von 1989 bis 1996 ist das Durchschnittseinkommen pro Einwohner um 56 Prozent gestiegen, es liegt um 30 Prozent über dem der US- Amerikaner. Der Archipel verfügt über mehr als ein Drittel der weltweiten Spareinlagen und besitzt die größten Devisenreserven der Welt – auf 200 Milliarden Dollar werden sie geschätzt. Und schließlich ist Japan nach wie vor der größte Gläubiger der Welt, seine Vermögenswerte betragen fast 900 Milliarden Dollar.
Und doch erlebt das Land seit mehreren Jahren eine Krise, aus der es nicht herausfindet und die auf die irrationale Euphorie der achtziger Jahre zurückgeht. Damals vergaben die Banken in großem Umfang Kredite, ohne genau hinzusehen; Börse und Immobilienpreise befanden sich im Höhenflug, Unternehmen und Einzelpersonen fühlten sich ermutigt, sich weit über das vernünftige Maß hinaus zu verschulden – es schien, als könne Japan die ganze Welt kaufen.
Anfang 1990 zog die Bank von Japan plötzlich den Schluß, daß dieser Weg das Land in eine Katastrophe führe. Sie hob daraufhin die Zinsen an und verknappte die Kredite. Doch ihre brutalen Maßnahmen waren der Beginn eines Teufelskreises. In kurzer Zeit verlor die Börse die Hälfte ihrer Werte, der Immobiliensektor schrumpfte um 60 bis 80 Prozent. Konfrontiert mit einem Berg zweifelhafter Außenstände, beschränkten die Banken drastisch die Kreditvergabe, was wiederum den Bankrott Tausender kleiner und mittlerer Unternehmen nach sich zog. Von einem Tag auf den anderen kamen Millionen Japaner zu dem Eindruck, daß ein Teil ihres nationalen Reichtums, der durch die Spekulation künstlich aufgeblasen worden war, sich in Luft aufgelöst hatte.
Für die Bevölkerung war das ein schwerer Schock. Inzwischen hat die Arbeitslosenrate 4,1 Prozent erreicht, den höchsten Stand seit 1953 (und man kommt auf den doppelten Wert, wenn man die Verfälschungen der Statistiken korrigiert). Die Japaner sehen skeptisch in die Zukunft: Mehr als zwei Drittel der Wähler haben kein Vertrauen mehr in die politisch Verantwortlichen.2 Und diese finden keine Auswege aus der verfahrenen Situation. Das Hauptproblem scheint politischer Natur zu sein. Am 21. Juli wurde Keizo Obuchi zum neuen Premierminister gewählt, nachdem die Liberaldemokratische Partei (LDP) bei den Senatswahlen gescheitert war. Bislang hat dies jedoch keine Veränderung bewirkt: Zum ersten Mal seit Kriegsende befindet sich Japan in einer Rezession.
IM Zentrum der Krise steht die Weigerung der japanischen Regierung, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die faulen Kredite der Banken zu sichern. Diese sollen glaubwürdigen Schätzungen zufolge inzwischen die astonomische Höhe von einer Billion Dollar erreicht haben.3 Mittlerweile halten sich die Banken bei der Kreditvergabe sehr zurück, wodurch der Finanzrahmen der kleinen und mittleren Unternehmen immer enger wird. Die Pleiten nehmen zu, und die allgemeine Flaute setzt sich fort. Und seit Juli 1997 ist die Situation durch die Krise in der asiatisch- pazifischen Region verschärft worden.
Die Verantwortlichen in Tokio haben seit 1990 nicht weniger als elf Pläne zur Konjunkturbelebung entworfen und mehr als 575 Milliarden Dollar ausgegeben, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Doch vergeblich. Auch Steuersenkungen ändern nun nichts mehr. Denn die Japaner, die der Regierung nicht trauen und sich Sorgen um die Zukunft machen, sparen mehr denn je zuvor (bei einem Zinssatz von 0,3 Prozent) und halten sich beim Konsum zurück (siehe den Artikel von Frédéric F. Clairmont auf Seite 14), und so dreht sich die Spirale von Deflation und Rezession immer weiter.
Aufgrund der Bedeutung Japans als Wirtschaftsmacht hat diese Krise weltweite Folgen. Durch eine Politik der Abwertungsmaßnahmen – Ausdruck der Hoffnungen, die auf den Export gesetzt werden – ist der Yen innerhalb eines Jahres um 10 Prozent im Verhältnis zum Dollar gefallen. Japan hat seine Deflation exportiert und dadurch einen neuen Baisse-Zyklus in Hongkong, Bangkok und Singapur in Gang gesetzt. Die Hauptursache der Börsenkrise vom August ist hier zu suchen. In der Folge sind alle Devisen der Region erneut abgewertet worden und haben dabei die Währungen einiger lateinamerikanischer wie auch osteuropäischer Länder mitgerissen, darunter vor allem die Rußlands, dem inzwischen eine Hyperinflation droht.
Zur Haltung der japanischen Behörden kommt die Verantwortungslosigkeit ihrer Kollegen in den USA, denn die Wirtschaft dieses Landes wird aufgrund der Überbewertung des Dollars mit fremden Geldern finanziert. Wenn öffentliche Anleihen in den USA 5,42 Prozent einbringen und in Japan nur 1,68 Prozent, ist es vorteilhafter, Geld im Ausland anzulegen. Doch dies verschärft den Kursverfall des Yen und macht einen Aufschwung in den asiatisch-pazifischen Krisenländern fast unmöglich.
Was ist zu tun? In erster Linie müssen den Finanzmärkten die operativen Mittel entzogen werden. Das Ausmaß der jetzigen Krise sollte all jenen die Augen öffnen, die bislang glaubten, die Lenkung der Weltwirtschaft könne allein dem Markt überlassen werden.
Was Japan anbetrifft, so schrecken einige Ultraliberale wie Jeffrey Sachs4 , bislang ein unerschütterlicher Anhänger von Schocktherapien, nicht davor zurück, angesichts der drohenden Gefahr eine Nationalisierung der Banken vorzuschlagen. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Es gibt Keulenschläge, die klug machen.“