Europa und die tausend Lobbyisten
IN der EU-Metropole Brüssel ist Macht konzentriert, ohne einer wahrhaft demokratischen Kontrolle zu unterliegen. Angezogen von diesem Konglomerat der Macht sind auch die Pressure-groups, die sich in der Stadt angesiedelt haben und versuchen, Einfluß auf die europäischen Institutionen und ihre komplexen Entscheidungsprozeduren zu gewinnen. Mitglieder der Europäischen Kommission und Europaparlamentarier sehen sich einer ständigen Flut von Briefen, Eingaben und kleinen Geschenken ausgesetzt, mit denen ie beeinflußt werden sollen. Dabei verfügen die Lobbyisten von marktliberal orientierten Interessengruppen über einen guten Zugang zu den Institutionen. Die Gewerkschaften dagegen, die ebenfalls offizielle Partner der Euro-Institutionen sind, können sich nur schwer Gehör verschaffen.
Von KAREL BARTAK *
Diskrete Schilder in matten, dunklen Goldtönen zieren die Eingänge zu den gesichtslosen Häuserblöcken des „europäischen Viertels“ von Brüssel. Die Lobbyisten residieren in unmittelbarer Nachbarschaft zu den verschiedenen Generaldirektionen der Europäischen Kommission und den Ständigen Vertretungen der EU- Mitgliedstaaten. Schon aufgrund der Struktur der Europäischen Union – ihrer Macht, ihrer Organisation und der Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen Institutionen – empfiehlt es sich, hier präsent zu sein; man möchte schließlich „Europa mitdenken“, auf Entscheidungen einwirken oder einfach auf dem laufenden sein, was sich auf den verschiedenen Gebieten tut.
Die Zahl der in Brüssel residierenden Lobbyisten wird auf etwa zehntausend geschätzt. Doch tagtäglich reisen aus allen Ecken des Kontinents noch weitere Tausende Interessenvertreter in die „Hauptstadt Europas“ an. Die zweihundert mächtigsten Unternehmen der Welt sind längst vor Ort präsent, und ständig kommen neue hinzu. Auch die großen US-amerikanischen und britischen PR-Gesellschaften haben sich etabliert und preisen an, wie hervorragend sie sich in jedem Detail des „acquis communitaire“1 auskennen. In der Stadt wimmelt es von Anwalts- und Lobbyisten-Büros, die auf bestimmte Zweige, Bereiche oder Unternehmen spezialisiert sind oder sich als routinierte „Generalisten“ anbieten, die angeblich jeden „Job“ im europäischen Labyrinth annehmen können.
Diese zunächst kaum beachteten Lobbyisten sind heute zu wichtigen Akteuren im politischen Geschehen geworden. Daß sie überall mit am Tisch sitzen, wo Entscheidungen getroffen werden, entgeht den Staatsführungen ebenso wie der Öffentlichkeit und den – in diesem Punkt ohnehin wenig neugierigen – Medien. Nun ist der Beruf als solcher keineswegs ehrenrührig. In Brüssel herrscht die einhellige Meinung, daß die Lobbyisten beiderlei Geschlechts ihrer Tätigkeit auf unendlich elegantere und korrektere Weise nachgehen als ihre Kollegen in den Vereinigten Staaten, dem „Mutterland“ des Lobbying.
„Ich vertrete die Interessen meiner Industrie, also ein spezifisches Interesse, das man als einen Teil des Allgemeininteresses ansehen kann“, erläutert Roger Chorus. Er ist Repräsentant der keramischen Industrie der Europäischen Union und Präsident des Verbandes des Fachpersonals für europäische Angelegenheiten (SEAP), der gegründet wurde, um die Zusammenarbeit zwischen „Interessenvertretern“ und „Entscheidungsträgern“ zu verstärken und zugleich transparenter zu gestalten. Nach Roger Chorus ist die Arbeit, die er macht, nicht nur für die Unternehmen selbst wichtig, sondern auch für die europäischen Institutionen. „Jeder Entscheidungsträger sollte, ehe er etwas beschließt, alle spezifischen Interessen in Betracht gezogen haben. Wir sind dazu da, ihm die notwendigen Informationen zu liefern.“
Ähnliches hört man auch aus der Europäischen Kommission, wo diese „Interessenvertreter“ als unerläßliche Gesprächspartner gelten. „Wir brauchen sie dringend“, sagt Willy Hélin, der Sprecher von Karel van Miert, dem für den Wettbewerb zuständigen Kommissar. „Durch den Kontakt zu ihnen wissen wir, was sich in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft tut. Uns kann niemand vorwerfen, wir würden in einem Elfenbeinturm sitzen und Entscheidungen fällen, ohne die Situation vor Ort zu kennen.“
Aber selbst wenn man das Phänomen als „normal“ hinnimmt, bleibt die Frage der Chancengleichheit. Denn bei dieser Aktivität hinter den Kulissen, die keinerlei Kontrolle unterliegt, siegen selbstverständlich immer die Stärksten – jene, die das meiste Geld und den größten Einfluß haben. Es ist schließlich nicht so einfach, ein Büro in Brüssel zu finanzieren und Verbindungen auf möglichst hoher Ebene zu unterhalten. Den Vertretern der multinationalen Konzerne und der europäischen Schlüsselindustrien (der Automobil-, der Erdöl- und der Chemieproduzenten) ebnen sich die Wege viel leichter als den Vertretern anderer Interessengruppen, etwa der Gewerkschaften, der Kleinunternehmen, der Umwelt- oder Verbraucherverbände. Doch nicht immer setzen sich die Stärksten durch, denn die von der Europäischen Kommission verabschiedeten Texte resultieren häufig aus den vielfältigsten Pressions- und Einflußbemühungen.
„Die wichtigsten Lobbyisten sind die Mitgliedstaaten selbst“, betont Willy Hélin, der einiges über die Machenschaften der Regierungen zu erzählen weiß. Einige stehen im Verdacht, rechtswidrige Zuschüsse zu gewähren, anderen wird vorgeworfen, daß sie sich für einzelne Unternehmen ihres Landes einsetzen, denen man die Verletzung der Kartellbestimmungen vorwirft. Die Unternehmer liegen nicht zwangsläufig auf derselben Wellenlänge wie die Staaten. Manchmal kollidieren nationale mit sektoralen Interessen. Noch komplizierter wird alles dadurch, daß auch die Regionen in Brüssel immer aktiver werden. Die Kommission hört alle an, um ihre Entscheidungen möglichst objektiv zu treffen.
Die EU-Kommission bereitet die Gesetzesinitiativen der Gemeinschaft vor, die dann dem Rat und dem Europäischen Parlament vorgelegt werden; letzteres hat allerdings in einigen Fällen nur beratende Funktion. Daher konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Lobbys logischerweise auf die Kommission; alle versuchen, ihren Einfluß bereits im Stadium der Ausarbeitung der Verordnungen geltend zu machen. Die Lobbyisten in Brüssel sind sich einig: Entscheidend ist es, mit der Kommission zusammenzuarbeiten. Nur wenn man das versäumt hat, kann man sich noch an das Europäische Parlament wenden.
Besonders offen stehen die Türen der Kommission den Vertretern der Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände in Europa (Unice), die ebenso wie der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) als offizieller Gesprächspartner gilt; beide Organisationen sind auch an den zaghaften Anfängen der von der Kommission initiierten gesamteuropäischen Sozialdebatte beteiligt.2
„Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten sorgen dafür, daß die notwendigen Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft gewährleistet sind“, heißt es in Artikel 130 des Vertrages von Maastricht. Für die Unice ist dies von erstrangiger Bedeutung. Die Unternehmenschefs sind gern bereit, „europäisch“ zu denken, sofern dieses Europa etwas für die unentbehrliche Wettbewerbsfähigkeit tut – und zwar auf dem altbekannten Weg der Deregulierung und Flexibilisierung. „Lange Zeit wurde der Begriff der Wettbewerbsfähigkeit nicht ernst genommen. Jetzt wacht man endlich auf, aber es muß noch viel mehr getan werden“, fordert Christophe de Callatay, der bei der Unice für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist.
Nach der Auffassung dieses Verbandes ist die allgemeine Liberalisierung, wie sie seit gut zehn Jahren in Europa praktiziert wird, äußerst ungenügend. Die Unternehmer fordern Strukturreformen, um die öffentlichen, insbesondere die Sozialausgaben zu senken, was die Betriebe vom Steuerdruck entlasten soll.
„In Deutschland“, betont Christophe de Callatay, „ist das Verhältnis zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Lohn eins zu drei, in den Vereinigten Staaten eins zu zehn. Mit anderen Worten: In den USA stellt das Lohnsystem einen viel höheren Anreiz dar. Ganz abgesehen davon, daß bei uns viel zu viele Menschen die Hände in den Schoß legen und nicht einmal gezwungen sind, sich Arbeit zu suchen: Sie werden ausgehalten von einem aufgeblähten öffentlichen Sektor, der in altbekannter Weise mit den fadenscheinigen Argumenten des Wohlfahrtsstaates gerechtfertigt wird. Kurz, die älteren Generationen haben auf Kosten ihrer Kinder gelebt, und die werden die Rechnung bezahlen müssen. Diese unselige Verknüpfung, die weder gerecht noch sozial ist, muß ein Ende haben.“
Solche strammen Sätze finden in den Büros des Palais Breydel, wo die zwanzig europäischen Kommissare arbeiten, manch offenes Ohr. Um so mehr, als sie – wenn auch wesentlich moderater – von den Managern der großen multinationalen Konzerne der Alten Welt übernommen werden. Deren sehr exklusiver Klub – der Runde Tisch der Unternehmer (bekannt unter dem englischen Kürzel ERT, European Round Table) – hat seinen Sitz in einem unscheinbaren Brüsseler Gebäude unweit der Porte de Hal. Im Unterschied zur Unice wird der ERT in Berichten und anderen öffentlichen Verlautbarungen der Kommission nie erwähnt. Dabei treffen sich die 47 mächtigen Unternehmenschefs aus 17 europäischen Staaten (außer den 15 EU-Staaten sind Norwegen und die Türkei vertreten) regelmäßig zwei Mal im Jahr. „In diesen Vollversammlungen wird der Wortlaut der Stellungnahmen beschlossen, die den einzelnen Regierungen oder dem jeweiligen europäischen Gipfel zugeleitet werden. Erst stimmt man sich untereinander ab, dann benennt man eine kleine Delegation, die Jacques Chirac oder Jacques Santer die Resolution überbringt. Und wir können sicher sein, daß man uns empfängt“, betont Caroline Walcot, die Generalsekretärin des Runden Tischs.
Anders als die Unice kümmert sich der ERT nicht um den täglichen Kleinkram: Weder kommentiert er jede neue EU-Direktive, noch muß er Mitgliedsverbände in den einzelnen Hauptstädten auf dem laufenden halten. Nein, der ERT interessiert sich nur für die großen Entscheidungen, bei denen er sein volles Gewicht zur Geltung bringt.3
Im Zentrum des ERT-Interesses steht die Weiterentwicklung und Erweiterung der EU; in der Vorstellung des Runden Tisches ist die Union ein großer Raum, in dem Waren, Kapital und Dienstleistungen frei verkehren, und muß am Ende eine Weltwirtschaftsmacht werden. Der ERT hat sich entsprechend für die Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte, für die Einheitswährung sowie für die Übernahme des Schengener Abkommens in den Vertrag von Amsterdam stark gemacht. Auch hat er sich dafür eingesetzt, daß die EU mit den mittel- und osteuropäischen Bewerberstaaten über eine Aufnahme in die Gemeinschaft verhandelt, auch wenn die Landwirte und die Arbeitnehmer verschiedener Branchen einer EU-Erweiterung skeptisch gegenüberstehen, weil sie darin eine Bedrohung sehen. Im Rahmen der Vorbereitung des Weltklimagipfels in Kyoto hat der ERT alles getan, um die EU vom Vorschlag einer Energiesteuer abzubringen, weil diese, so Caroline Walcot, „den Interessen der Wirtschaft zuwiderläuft“.
Nicht immer kann sich der ERT durchsetzen. Trotz jahrelangen Drucks und ungeachtet der Gründung eines Europäischen Infrastrukturzentrums, das dem ERT unmittelbar untersteht, haben die EU-Mitgliedstaaten letztlich die vom ERT lancierte Idee, ein Transeuropäisches Netz (TEN) des Menschen- und Gütertransportes sowie der digitalen Telekommunikation zu schaffen, auf ein dürres Skelett reduziert, obwohl die Kommission fraglos dahinterstand. Allerdings erfolgte diese Reduktion mehr aufgrund von Haushaltszwängen als aufgrund ökologischer Bedenken der Umweltverbände. Außerdem ist das Thema noch längst nicht vom Tisch: Die Kommission, unterstützt von Industrie und Gewerkschaften, hält an der ursprünglichen – ambitiösen – Idee des TEN fest und argumentiert dabei mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze.
„Wir kennen EU-Präsident Jacques Santer sehr gut und bemühen uns, ihn mehrmals im Jahr zu treffen. Ebenso gute Beziehungen unterhalten wir zu den Kommissaren Martin Bangemann (Gewerbliche Wirtschaft), Leon Brittan (Handelspolitik) und Edith Cresson (Forschung und Entwicklung). Wir sprechen häufig mit den verschiedenen Generaldirektoren der Kommission. Und wenn wir unseren Einfluß bei den Mitgliedstaaten geltend machen wollen, wenden wir uns an die jeweiligen Minister.“ Caroline Walcot ist sich über die politischen und ethischen Implikationen dieser Aktivitäten durchaus im klaren. „Jede Unterstellung, daß wir unseren Status mißbrauchen würden, wird von uns äußerst aufmerksam zur Kenntnis genommen. Es stimmt ja, daß wir besonders guten Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern besitzen. Deshalb müssen wir uns besonders streng an die Regeln halten. Kein Mitglied des European Round Table darf unsere Organisation dazu ausnutzen, die Interessen seines eigenen Unternehmens zu fördern oder berufsständische Interessen zu verfechten.“
Kurzfristige Steuerungen
DER ERT gibt sich nicht mit Fakten ab. die die Grenzen des liberalistischen Wirtschaftsmodells aufzeigen. So ist die Arbeitslosigkeit innerhalb der EU seit 1991 von durchschnittlich 8 auf 11 Prozent der aktiven Bevölkerung gestiegen. Die Schließung des Renault-Werks Vilvoorde in Belgien (1997) hat deutlich gezeigt, daß günstige Rahmenbedingungen für die Unternehmen keineswegs ausreichen, um neue Arbeitsplätze entstehen zu lassen, wie es die multinationalen Konzerne immer wieder behaupten. Firmenschließungen und –verlagerungen in großem Umfang sind und bleiben an der Tagesordnung, und seit Anfang der neunziger Jahre gehen die Bemühungen auf EU- Ebene in erster Linie dahin, die Bedingungen für die Arbeitgeber zu verbessern.
Angesichts solcher Pressure-groups bleibt den Gewerkschaften nur eine Politik der kleinen Schritte. Immerhin hat der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) Vereinbarungen über den Erziehungsurlaub sowie über Teilzeitarbeit durchgesetzt; sie wurden mit der Unice ausgehandelt und sind heute integraler Bestandteil des „acquis communitaire“. Der EGB, der 63 nationale Gewerkschaftsorganisationen und 14 Berufsverbände vertritt, hat außerdem beim Ministerrat die Verabschiedung einer europäischen Direktive über die Betriebsräte in multinationalen Konzernen erwirkt – gegen den Willen der Unice. Derzeit kämpft der Verband für ein Gesetz, das den Arbeitnehmern das Recht einräumt, über bedeutende Veränderungen in ihrem Unternehmen informiert und gehört zu werden. Außerdem enthält der Vertrag von Amsterdam ein Kapitel über Arbeitsmarktpolitik, und der Beschäftigungsgipfel vom November 1997 in Luxemburg hat sich immerhin zu einem Evaluierungsverfahren durchgerungen, das die entsprechenden Bemühungen der Mitgliedstaaten ermitteln soll.4
„Selbstverständlich haben wir auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Währungspolitik viel mehr getan. Doch es gibt unbestreitbar auch Fortschritte im sozialen Bereich. Und das ist erst der Anfang“, meint EGB-Sprecher Wim Bergams. Seiner Ansicht nach hat die Europäische Kommission zwar der Tendenz zu Deregulierung und Liberalisierung nachgegeben, zugleich aber auch bei der Sozialpolitik noch bedeutende Nachbesserungen vorgenommen. „Nach den Ereignissen in Vilvoorde wurden unsere Vertreter in die Arbeitsgruppe industrielle Umstrukturierung aufgenommen. Manchmal ziehen wir den kürzeren, aber wir können auch Erfolge verbuchen.“
Der EGB wendet sich vor allem gegen die Behauptung, wonach Europa im weltweiten Wettbewerb „den Zug verpaßt“ habe und die Globalisierung unvermeidlich sei – ein Argument, das dazu dient, den Wettbewerb weiter zu verschärfen. „Rund 90 Prozent des EU-Handels findet innerhalb der Fünfzehn statt“, hebt der Sprecher der EGB hervor. „Worum man sich also kümmern müßte, ist die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Gemeinschaft. Gleichwohl wird immer der Vergleich mit den USA, Japan oder Südostasien gesucht, wohin nicht mehr als 10 Prozent unserer Exporte gehen.“
Ganz zentral für die Lobbyistentätigkeit der Gewerkschaften ist die Forderung nach Verhandlungen. „Wir sind uns bewußt, welche Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze zukommt, aber wir können die Wettbewerbsfähigkeit nur akzeptieren, wenn sie ausgehandelt wurde, das heißt, wenn die Folgen für die Menschen berücksichtigt wurden“, betont Wim Bergams. Die gleiche Position besteht bezüglich der Flexibilisierung der Arbeit beziehungsweise der Arbeitszeit: Eine Einigung ist möglich, sofern die willkürliche Durchsetzung einseitiger Lösungen ausgeschlossen ist. Der EGB fordert die Festlegung europaweiter gesetzlicher Rahmenbedingungen für zeitlich begrenzte Arbeitsverträge und andere Formen der Flexibilisierung. „Wir können es nicht hinnehmen, daß Arbeitsplätze zweiter Klasse und minderer Qualität eingeführt werden. Man kann die Arbeitgeber nicht machen lassen, was sie wollen.“ Diese Worte werden von der Kommission gehört, auch wenn jedes der zwanzig Mitglieder sie auf eigene Weise verarbeitet. „Vergleicht man die heutige Situation mit der vor zehn Jahren“, meint Bergams abschließend, „kann man festhalten, daß man durchaus auf uns gehört hat.“
Der Einfluß auf die Kommission ist die eine Sache, die Einwirkung auf das Europäische Parlament eine andere. Seit die Europaabgeordneten am 11. März 1998 das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) abgelehnt haben, ist der Wirtschaft das Gefühl abhanden gekommen, daß sie schalten und walten kann, wie es ihr beliebt. Die Parlamentarier aller Fraktionen haben sich geweigert, ausländischen Investoren weitere Garantien einzuräumen, weil sie den Sinn des Abkommens verstanden haben: durch die geplanten Garantien sollten die multinationalen Konzerne der staatlichen Kontrolle weiter entzogen werden, was ihren Handlungsspielraum vergrößert hätte. Sie sollten investieren können wie im Wilden Westen, innerhalb wie außerhalb der OECD- Länder.
Die Abstimmung über das MAI zeigt die unterschiedliche Atmosphäre in der Kommission und im Parlament. Und die Vertreter der Unternehmerschaft kennen den Unterschied genau. „Die Kommission denkt wie wir, das Parlament tendiert eher zu den Gewerkschaften. Es ist allzu heterogen, zerfällt in zu viele Fraktionen und ist insgesamt zu sozial ausgerichtet.“ Christophe de Callatay kritisiert diese in seinen Augen wenig konstruktive Position. „Wenn wir über die Flexibilisierung der Arbeit sprechen, haben wir in der Kommission Erfolg, im Parlament Schwierigkeiten. Dort gelten wir zu Unrecht als ultraliberal.“
Geschenke sind verboten
FÜR die „Großen“ des ERT ist das Parlament nicht kalkulierbar. Wenn man auf die Abgeordneten Einfluß ausüben möchte, geht man am besten über die einzelnen Staaten, denn die Abgeordneten reagieren bereitwilliger auf Beeinflussungsversuche aus dem eigenen Land. „Mitunter sind sie äußerst ,grün', äußerst extremistisch. Es ist unglaublich schwierig, sie anzusprechen, mit ihnen sinnvoll und systematisch zu arbeiten.“ Caroline Walcot schätzt diverse Abgeordnete sehr und weiß, wie wichtig es ist, mit den bedeutenderen parlamentarischen Ausschüssen konstruktiv zusammenzuarbeiten. Aber sie läßt durchblicken, daß es in ihren Augen letztlich vergebliche Mühe ist, Leute überzeugen zu wollen, die alle vier Jahre wechseln. Diese Auffassung wird sie überdenken müssen.
Für Glyn Ford, der seit vierzehn Jahren für die Labour-Partei in Straßburg sitzt, ist der Beitrag des Europäischen Parlaments (EP) bei der Entscheidungsfindung immer wichtiger geworden. Auf einmal interessieren sich die Lobbyisten für seinesgleichen häufiger und auch intensiver. „Früher tauchten sie ein- oder zweimal pro Woche auf; jetzt sind sie pausenlos und scharenweise hier.“ Er schätzt die Zahl der professionellen Lobbyisten, die sich vorrangig mit dem EP beschäftigen, auf dreitausend. „Wenn ich nach Straßburg fahre, habe ich fünf oder sechs Leute im Schlepptau.“ Das Parlament hat – einem Vorschlag von Glyn Ford folgend – einen Verhaltenskodex mit klar umrissenen Regeln festgeschrieben. Demzufolge müssen die Lobbyisten namentlich erfaßt und akkreditiert werden, der Inhalt von Treffen und Gesprächen ist gegebenenfalls zu veröffentlichen. Geschenke sind selbstverständlich verboten. „Eine Flasche Whisky mag noch durchgehen“, erläutert Glyn Ford, „aber eine Kiste nicht!“
Es kommt noch schlimmer: Drittländer wie die Türkei und Taiwan sollen einer Reihe von Parlamentariern Luxusferien offeriert haben, um sie zu beeinflussen. Solche Bestechungsversuche sind schwer zu ahnden, da es sich um souveräne Staaten handelt. Doch Glyn Ford meint, wer sich auf diese Weise schmieren lasse, disqualifiziere sich selbst, weil das Eintreten solcher Leute für ihre Wohltäter von niemandem mehr ernst genommen wird.
Daß einige Abgeordnete sehr enge Kontakte zu heimatlichen Unternehmen unterhalten, ist bekannt. Aber allgemein sind in Straßburg wie in Brüssel im Bereich der Lobbyistentätigkeit nur wenige Fälle klassischer Korruption bekannt geworden. Wenn ein Mitglied der Kommission die Hand aufhalten wollte, würde er einen hochdotierten und unkündbaren Arbeitsplatz aufs Spiel setzen. Und ein Parlamentsabgeordneter, der sich bestechen ließe, würde seinen Ruf und seine politische Karriere riskieren.
„Wir können weder die Gesellschaft noch das politische System ändern, wir können nicht verhindern, daß einige Menschen mehr Geld haben als andere. Alles, was wir können und wollen, ist einen Handlungsspielraum schaffen, der so gerecht und offen wie möglich ist“, gesteht Glyn Ford ohne jede Bitterkeit. Er meint, daß die Großen – die multinationalen Konzernen – zwar über beachtliche Mittel verfügen, den Kleinen aber, angefangen bei den Verbraucherverbänden oder Umweltschützern, gelinge es oft besser, die Politiker wachzurütteln und mit relativ bescheidenen Mitteln beachtliche Ergebnisse zu erzielen.
Wie schwerfällig oder machtlos das Europäische Parlament mitunter auch sein mag, für Glyn Ford spielt es eine wichtige Rolle, insofern es verhindern könne, daß Lobbyismus in eine Sphäre abgleitet, in der sich die zwielichtige Logik der verschlossenen Türen durchsetzen kann, die von der Kommission wie vom Ministerrat gefördert wird. „Das Parlament wird zu einem Hindernis für alle, die eine Politik unter Ausschluß der Öffentlichkeit wollen. Wir machen weiter.“
dt. Eveline Passet
* Journalist