16.10.1998

Sunnitische Internationale aus dem Niemandsland

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Sunnitische Internationale aus dem Niemandsland

Am Rande der UN-Vollversammlung im vergangenen September sind Vertreter Rußlands und der Vereinigten Staaten sowie der sechs Anrainerstaaten Afghanistans zusammengekommen, um über die Krise zu beraten, die durch den Vormarsch der Taliban, die Ermordung iranischer Diplomaten in Massar-i Sharif und die Massaker an der schiitischen Minderheit ausgelöst wurde. Einiges deutet darauf hin, daß sich der Konflikt zu einem regionalen Krieg auszuweiten droht: An der Grenze werden iranische Truppen zusammengezoen, in Tadschikistan finden gemeinsame tadschikisch-russische Manöver statt, und es gibt Gerüchte über die Entsendung russischer Soldaten nach Usbekistan. Das Taliban-Regime sieht sich zunehmend isoliert; auch ist es ihm noch immer nicht gelungen, die Herrschaft über das gesamte Territorium zu erringen. Vor der UNO hat der iranische Präsident Mohammad Chatami heftige Angriffe gegen die Taliban gerichtet, sie des Völkermords angeklagt und ihnen vorgeworfen, das Land in eine Basis für Terrorismus und Dogenhandel u verwandeln. Aber ein Krieg könnte die Iraner teuer zu stehen kommen und den Vertretern eines harten Kurses in der eigenen Regierung neuen Auftrieb geben. Auf Unterstützung können die Taliban nur von seiten Pakistans rechnen, nach Informationen aus verschiedenen Quellen allerdings auch von seiten Israels, das unbeirrt an der Vorstellung einer „Gefahr aus dem Iran“ festhält.

Von OLIVIER ROY *

In den Beziehungen der Taliban zu Saudi-Arabien dagegen sind inzwischen Spannungen zu verzeichnen, und das Verhältnis zu den USA ist schwer gestört, wie die Raketenangriffe auf die afghanischen Stützpunkte von Ussama Bin Laden im August gezeigt haben. Dagegen werden die Umrisse einer großen Allianz sichtbar, die nicht nur den Iran, Rußland und die Mitglieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zusammenführen könnte, sondern auch die Unterstützung Indiens und sogar Chinas hätte, das die islamistische Propaganda innerhalb seiner Grenzen mit Sorge verfolgt. Die Zeit des „Großen Spiels“ (als London und Moskau sich die Vorherrschaft über Zentralasien streitig machten) ist vorbei, aber das neue „Spiel“, das nun offenbar beginnen soll, birgt große Gefahren und könnte die Integrität nicht nur Afghanistans, sondern der gesamten Region aufs Spiel setzen.

ALLES begann 1983, als der schockierte Westen zum ersten Mal den islamischen Radikalismus zu spüren bekam: Im Libanon starben Hunderte französische Fallschirmjäger und amerikanische Marines, als ihre Kaserne in die Luft gesprengt wurde, und der Iran führte eine Hetzkampagne gegen den „Großen Satan“ Amerika. Gleichzeitig konnte die UdSSR – für Ronald Reagan das „Reich des Bösen“ – das muslimische Afghanistan mit einem Bombenteppich belegen – merkwürdigerweise ohne auf Kritik aus dem radikalen islamischen Lager zu stoßen. In Washington entstand daraufhin eine Idee: Man könnte dafür sorgen, daß Moskau für die Besetzung Afghanistans einen möglichst hohen Preis bezahlt und gleichzeitig die Kräfte des radikalen Islam gegen den Kommunismus ausrichten (und nebenbei gegen den radikalen schiitischen Islam des Iran). Es würde genügen, einen sunnitischen Radikalismus zu fördern, der vor allem die umfassende Durchsetzung der Scharia anstreben würde, ohne einer islamischen „Revolution“ das Wort zu reden. Damit wäre auch Saudi-Arabien gedient, das seine Legitimität als islamischer Staat gegenüber dem Iran zu stärken trachtete. Die pakistanischen Geheimdienste hingegen verfolgten damals (wie heute) noch weitergehende Ziele. Für sie war die sunnitische Karte ein Trumpf im Großen Spiel um die Beherrschung Afghanistans und den Zugang nach Zentralasien.1

Geplant wurde die Operation von der CIA, dem (noch immer amtierenden) saudischen Geheimdienstchef Prinz Turki Bin Faisal und dem pakistanischen Geheimdienst Inter Services Intelligence (ISI), der als einziger bereit war, sich die Finger schmutzig zu machen. Die CIA hatte in den Guerillakriegen von Laos und Vietnam ihre Lektion erhalten und wollte vor Ort keine Agenten einsetzen, und die Saudis waren es ohnehin gewohnt, andere die Arbeit machen zu lassen – sei es nun bei der Landesverteidigung oder beim Chauffieren ihrer Rolls Royce. Also wurde die Durchführung den arabischen Muslimbrüdern und der islamistischen pakistanischen Partei Dschamaat-i Islami aufgetragen, aus deren Reihen in der Ära von Staatschef Zia ul-Haq (1977-1988) zahlreiche Regierungsberater rekrutiert worden waren.

Seit Ende 1984 machten sich Tausende militante Islamisten aus den besonders aktiven Gruppierungen des Nahen Ostens nach Afghanistan auf. Koordiniert wurde dieses Rekrutierungsprogramm von Ussama Bin Laden, einem reichen Saudi; in Peschawar wurden die Rekruten von einem Geheimdienstbüro (maktab ul-khidamat) in Empfang genommen. Diese Organisation stand unter der Leitung des Palästinensers Abdullah Assam, einem Mitglied der jordanischen Muslimbrüder, der im September 1989 unter ungeklärten Umständen bei einem Attentat ums Leben kommen sollte. Bei den Kriegsfreiwilligen, die bald überall die „Afghanen“ genannt wurden, handelte es sich zumeist um radikale Regimegegner aus dem ganzen Nahen Osten. Eine Ausnahme machten hier nur die Sudanesen, die vor allem in den islamischen humanitären Organisationen eine wichtige Rolle spielten. Natürlich gab es keine Schiiten unter den Freiwilligen.2 Die Afghanen wurden überwiegend in die Ausbildungslager der von Gulbuddin Hekmatjar geführten Hesb-i Islami geschickt, zum Teil aber auch regionalen Milizenführern zugeteilt, etwa Dschelaluddin Hakkani, der heute ein treuer Gefolgsmann der Taliban ist.

Der sowjetische Abzug aus Afghanistan im Februar 1989, der zweite Golfkrieg (1990-1991) und der Zusammenbruch der UdSSR (1991) veränderten allerdings die Lage völlig. Die „Afghanen“ waren für Washington nicht nur nutzlos geworden, schlimmer noch: Sie begannen, gegen die Vereinigten Staaten Front zu machen, wobei sie ihnen vorwarfen, einen Krieg gegen die muslimische Welt zu führen. Pakistan ging auf Distanz zu seinem früheren Protegé Hekmatjar, der sich durch seine Parteinahme für Saddam Hussein bei Saudi-Arabien unbeliebt gemacht hatte, und setzte seit August 1994 auf die Taliban, eine ebenfalls islamische, aber sehr viel konservativere Bewegung. Von 1994 bis 1996 genossen diese auch amerikanische Förderung.3 Die Einschätzungen änderten sich erneut, als die Taliban dem von den USA gesuchten Ussama Bin Laden Asyl gewährten und ins Opiumgeschäft einstiegen. Ihre extreme Unterdrückung der Frauen veranlaßte die US-amerikanische Außenministerin im Herbst 1997 dazu, von ihnen abzurücken.

Aber die Lager in den afghanischen Stammesgebieten, die ursprünglich zur Ausbildung antisowjetischer Mudschaheddin eingerichtet worden waren, blieben bestehen, und die internationalen Netzwerke dienen nun der Rekrutierung von Kämpfern für die unterschiedlichen Heiligen Kriege, die gerade geführt werden: der Kampf für den islamischen Staat in Afghanistan und bis 1994 im Jemen, die Kämpfe in Kaschmir, Bosnien und inzwischen auch in den USA. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Verfolgte Aktivisten suchen Zuflucht, neu ausgebildete Kämpfer kehren in ihre Heimatländer zurück. Dort sind sie in den besonders radikalen Gruppierungen aktiv, die keineswegs erst durch die „Afghanen“ gegründet wurden, mit Ausnahme vielleicht der algerischen „Bewaffneten Islamischen Gruppen“ (GIA). In Algerien spielen „Afghanen“ eine wichtige Rolle innerhalb der Islamischen Heilsfront (FIS), namentlich Said Mekhloufi, Kamareddin Kherbane und Abdallah Anas (mit bürgerlichem Namen Boudjema Bunnua), der 1984 nach Afghanistan ging und zum Schwiegersohn von Abdullah Assam wurde. Noch stärkeren Einfluß besitzen sie jedoch in den GIA, deren oberste Führer allesamt ehemalige „Afghanen“ sind: Tayyeb el- Afghani (im November 1992 getötet), Djaffar el-Afghani (im März 1994 getötet) und Chérif Gousmi (im September 1994 getötet). Auch die Chefideologen der in London erscheinenden GIA-Zeitung Al- Ansar, der Syrer Abu Messaab und der Ägypter Mustafa Kamel (genannt Abu Hamsa Al Misri), haben zeitweise in Peschawar gelebt.

Antiwestliche Anschläge

AUCH Ägypter gibt es unter den „Afghanen“: Mohammad Al Istambuli, der Bruder des Mörders von Präsident Sadat, lebt seit einem Jahrzehnt in Afghanistan. Und die Führer der ägyptischen Gama'at islamijja, Fuad Kassim und Ahmed Taha, sind ebenso ehemalige „Afghanen“ wie der Chef des ägyptischen Dschihad, Ahmed Sawahiri, der die Kommuniqués von Ussama Bin Laden mitunterzeichnet. Auch die kaschmirische Bewegung Harakat al-Ansar unterhält ein Ausbildungslager in Afghanistan, in der Provinz Khost (auf die sich die amerikanischen Raketenangriffe vom 20. August 1998 konzentrierten).

Vielen der früheren „Afghanen“ fällt es allerdings schwer, in diesen bestehenden Konflikten eine Rolle zu spielen. Diese Entwurzelten pendeln eher zwischen Peschawar und New Jersey, dem äußersten „Randgebiet des Islam“. Als im Februar 1993 das World Trade Center (WTC) in New York durch eine Explosion beinahe zerstört wurde, stießen die Ermittler rasch auf eigenartige Verbindungen: Der Hauptangeklagte, der ägyptische Scheich Omar Abderrahman, hatte sich in Afghanistan aufgehalten (seine beiden Söhne haben in Afghanistan gekämpft und gehören heute zum Lager der Taliban). Von Abderrahman, einem der Gründer der radikalen ägyptischen Bewegung Gama'at islamijja, war bekannt, daß er die Ermordung Sadats gutgeheißen hatte. Dennoch erhielt er im Mai 1990 im amerikanischen Konsulat in Khartum ein Visum für die USA und nach seiner Ankunft in New Jersey die Green Card, die Aufenthaltsgenehmigung. Auch die anderen Angeklagten, der in Kuwait aufgewachsene Pakistani Jussuf Ramsi und die beiden Palästinenser Mohammad Salameh und Ahmed Ajasch, waren in afghanischen Ausbildungslagern gewesen.

Der Anschlag auf das WTC war keine isolierte Aktion. 1993 eröffnete der Pakistani Mir Aimal Kansi das Feuer auf Angestellte der CIA, die das Gebäude des Geheimdienstes in Langley betreten wollten. Ramsi und Kansi wurden 1995 bzw. 1997 vom FBI in Pakistan „gefaßt“, was den früheren ISI-Chef Hamid Gul so erboste, daß er die pakistanischen Behördenvertreter, die an dieser „Auslieferung“ beteiligt waren, vor ein Militärgericht stellen wollte. Als Vergeltungsmaßnahme für die Verurteilung Kansis in den Vereinigten Staaten wurden am 11. November 1997 in Karatschi vier amerikanische Mitarbeiter einer Ölgesellschaft umgebracht. Zu dem Attentat bekannte sich unter anderem die Harakat al-Ansar, deren Mitglieder in den „afghanischen“ Lagern ausgebildet wurden. Mehat Mohammad Abdel Rahman, der mutmaßliche Anführer der Gruppe, die im September 1997 den Anschlag auf europäische Touristen in Luxor verübte, ist ein „Afghane“, ebenso der Aktivist Said Sajid Salama, dessen Ausweisung aus Ägypten im Juni 1998 Ussama Bin Laden sogleich zu einem Kommuniqué voller Racheschwüre veranlaßte.

Weniger klar sind die Umstände der beiden Anschläge gegen Amerikaner auf saudischem Territorium. Den Anschlag auf eine Kaserne der Nationalgarde, im November 1995, legte man dem fünfunddreißigjährigen Saudi Abdel Rab As Sahiri zur Last, der in Pakistan gelebt hatte und angeblich auch in den Ausbildungslagern von Gulbuddin Hekmatjar gewesen sein soll. Zum großen Bedauern Washingtons wurde er von den Saudis hingerichtet, bevor ihn das FBI einem „debriefing“ unterziehen konnte. Das Attentat von Khobar im Juni 1996 gegen amerikanische Militärangehörige hat zu heftigen Kontroversen geführt: Seit einem Jahr bezeichnet die amerikanische Presse den Iran als Drahtzieher des Anschlags und wirft den Saudis vor, sie vertuschten diesen Zusammenhang, um die saudisch-iranische Annäherung nicht zu gefährden. Abgesehen davon, daß diese Annäherung im Rahmen der Vorbereitung des islamischen Gipfeltreffens in Teheran (im Dezember 1997) nicht von Saudi-Arabien, sondern vom Iran gewünscht wurde, fällt auch auf, daß von der Spur, die in den Iran führt, nicht mehr die Rede ist, seit der einzige Verdächtige (ein gewisser As Sajegh, ein schiitischer Saudi, der sich tatsächlich in Qom aufgehalten hat) an die Vereinigten Staaten ausgeliefert worden ist.

Wie dieser Überblick zeigt, verweisen die meisten antiwestlichen Anschläge auf die Aktivität einer radikalen sunnitischen Bewegung, die ihre Basis im Gebiet zwischen Pakistan und Afghanistan hat.

Das Erstaunliche an dieser neuen Bewegung ist die Diskrepanz zwischen ihrer politischen Radikalität und ihrer konservativen Ideologie, was sie von den großen islamischen Strömungen, wie etwa den Anhängern von Chomeini, unterscheidet. Als typisches Beispiel können die Taliban gelten, die bei einem Teil der muslimischen Welt durchaus Sympathien genießen.4 Im Zentrum dieses sittenstrengen, konservativ sunnitischen Neofundamentalismus steht allein die Scharia, die soziale Botschaft ist verschwunden. So hat die ägyptische Gama'at islamijja zum Beispiel die Aufhebung der Bodenreform begrüßt, die Präsident Mubarak im Herbst 1997 verfügte. Es geht um die Scharia und nichts als die Scharia, und noch dazu in einer besonders engen Auslegung: Man spricht auch nicht von einem islamischen Staat, sondern von einem „Scharia-Emirat“ (shari'i).

Daß sich diese Vorstellungen durchsetzen können, hat auch mit der sozialen Herkunft der Aktivisten zu tun. Diese werden vor allem in den Medresen rekrutiert, privat geführten Religionsschulen, deren Zahl in manchen Ländern geradezu explosionsartig gewachsen ist, und zwar vor allem dort, wo das staatliche Bildungssystem offenkundig versagt hat, wie etwa in Pakistan. Sie haben von den finanziellen Zuwendungen aus Saudi-Arabien ebenso profitiert wie von der Propaganda konservativer Regierungen, die glaubten, mit der Scharia den Radikalen im eigenen Lande den Boden zu entziehen. Auf einen bereits gesättigten Markt sind Tausende neue Prediger geworfen worden, die nichts weiter vorzuweisen haben als bescheidene Kenntnisse des islamischen Sittengesetzes und die in der Islamisierung der Gesellschaft die einzige Chance für ihren sozialen Aufstieg sehen.

Von Dschihad zu Dschihad

INSOFERN ist Ussama Bin Laden nicht der Dirigent hinter allen radikalen islamistischen Bewegungen der Welt, sondern eher ein Ausbilder für Militante, die dann selbst den Bereich ihrer Aktivitäten wählen oder sich entscheiden, im Rahmen von al-Qaida, der von Bin Laden geführten Organisation, bei spektakulären symbolischen Aktionen eingesetzt zu werden. Die Vernetzung verläuft über persönliche Beziehungen und genießt in Pakistan die Unterstützung einer Gruppe alteingesessener Parteien wie etwa der Dschamiat-i Ulema Islami, deren traditionalistische und konservative Haltung auf die islamische Rechtsschule der Deobandi5 zurückgeht, der auch die Taliban und die Islamistenpartei Gama'at Islami angehören. Aus diesen Parteien sind in letzter Zeit einige kleine, gewaltbereite Gruppierungen hervorgegangen, zum Beispiel die Sipah-i Saheban (Armee der Gefährten des Propheten), die sich dem Kampf gegen die Schiiten verschrieben hat, und die 1987 gegründete Dawat ul-Irshad, die besonders in Kaschmir aktiv ist. Einzelne Medresen, wie etwa die von Akora Khattak in der Nähe von Peschawar, die von Sami ul- Haq geleitet wird (einem Mitglied der Dschamiat-i Ulema Islami und Senator im pakistanischen Oberhaus), haben Tausende Studenten zur Unterstützung der Taliban nach Afghanistan entsandt.

Worin besteht also die „Radikalität“ dieser Bewegung? Es ist zum einen der Einsatz der Gewalt und ihre unversöhnliche Feindschaft gegen „die Kreuzfahrer“, „die Juden“ und die Schiiten, die durch alle Frustrationen des vergangenen Jahrzehnts angefacht wird – den Golfkrieg, das amerikanische Wohlwollen gegenüber Benjamin Netanjahu etc. Damit stellen sie sich in die „antiimperialistische“ Tradition, nur daß die amerikanische Flagge diesmal im Namen der Scharia verbrannt wird. Die Gründung einer weltweiten Islamischen Kampffront gegen Juden und Kreuzfahrer, die Bin Laden und Sawahiri Anfang 1998 bekanntgaben, zeigt die Stoßrichtung an. Die Schiiten ihrerseits gelten als Ketzer.6 Die Verschärfung der Auseinandersetzungen zwischen den Glaubensgemeinschaften in Pakistan und die Blockade der schiitisch bewohnten Gebiete durch die Taliban in Afghanistan sind ein Syndrom davon. Für den Iran, der sich in den achtziger Jahren als führende Kraft einer weltweiten islamischen Revolution jenseits der sunnitisch- schiitischen Gegensätze aufspielte, bedeutet die Entwicklung eine Niederlage: Wie die Ermordung iranischer Diplomaten in Afghanistan durch die Taliban und die Anschläge auf iranische Diplomaten im Winter 1997/98 in Pakistan zeigen, ist der Iran ebenso Zielscheibe sunnitischer Angriffe wie die USA. Im Unterschied zur Arabischen Liga hat der Iran nicht gegen die amerikanischen Raketenangriffe auf den Sudan und Afghanistan protestiert, und derzeit steht das Land kurz vor einem Krieg mit den Taliban.

Auch die Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien sind gescheitert: Das saudische Modell – das Bündnis zwischen dem Westen und einem konservativen islamischen Fundamentalismus – ist gescheitert. Für die USA besteht das Problem darin, daß sie über keine alternative politische Strategie gegenüber der muslimischen Welt verfügen. Und auf saudischer Seite dürfte es mit dem doppelten Spiel von Prinz Turki bald vorbei sein, der trotz seiner überzeugten proamerikanischen Haltung den radikalen Sunniten fortgesetzte Unterstützung zukommen ließ – noch im Frühjahr 1998 hielt er sich bei den Taliban auf.7 Riad finanziert mit erheblichen Summen Gruppierungen, die genaugenommen für die Emire und ihre Petrodollars nur Verachtung übrig haben und der Meinung sind, daß Saudi-Arabien zwar ein islamischer Staat ist, der aber ohne die Dynastie der Saud noch islamischer wäre.

In Pakistan dagegen genießen diese Bewegungen weiterhin Unterstützung im Staatsapparat; sie sind eingebunden in die regionale Strategie des Landes, die neben der Einflußnahme in Afghanistan auch die Förderung der Guerilla in Kaschmir und die islamische Agitation in Zentralasien einschließt. General Hamid Gul, ehemaliger Chef des ISI, hat anläßlich der Raketenangriffe vom 20. August 1998 heftig gegen die USA Stellung genommen; einer seiner Nachfolger, General Nasir, mußte 1994 wegen seiner Verbindungen zu Islamisten zurücktreten. Der neue Staatspräsident Rafik Tarar sympathisiert offen mit den Islamisten, und Ministerpräsident Nawas Scharif hat im September 1998 die vollständige Islamisierung des Rechts bekanntgegeben. Auch wenn hin und wieder einzelne Personen ausgeliefert werden, die unabweislich in antiamerikanische Anschläge verwickelt sind (wie jetzt Ramsi, Kansi und Odeh im Zusammenhang mit dem Anschlag in Nairobi), so setzt Pakistan letztendlich doch auf die Taliban.

Inzwischen stellt sich den Amerikanern die Frage, ob Pakistan nicht zu einem „Schurken-Staat“ geworden ist, noch dazu einer mit nuklearem Potential. Mit anderen Worten: ob sie sich womöglich im Gegner geirrt haben, als sie ab 1995 mit dem d'Amato-Gesetz eine Reihe von Sanktionen gegen den Iran verhängten, während gleichzeitig Teheran mit der antiwestlichen Gewalt immer weniger zu tun hatte. Angesichts der Schwäche der Exekutive und der außenpolitischen Inkompetenz des Parlaments wirken die USA wie ein Schiff, das steuerlos dahintreibt – aber hin und wieder eine Salve von „Tomahawk“-Raketen abfeuert.8

Zwar sind sie in der Lage, aufseheneregende Aktionen durchzuführen, und stellen sich dabei gerne als Speerspitze des Kampfes gegen die USA dar, doch in Wirklichkeit agieren die sunnitischen Fundamentalisten außerhalb der großen strategischen Fragen in der muslimischen Welt (ausgenommen Pakistan und Afghanistan). Sie sind politisch ein neues Phänomen: Sie operieren international, und nicht gebietsgebunden, das heißt: Die Militanten ziehen von Dschihad zu Dschihad, zumeist in den Randgebieten des Nahen Ostens (Afghanistan, Kaschmir, Bosnien), und ihre eigene Nationalität bedeutet ihnen nichts – entweder, weil sie mehr als eine besitzen (Jussuf Ramsi bezeichnet sich als „gebürtigen Pakistani und Wahlpalästinenser“9 , Odeh soll ein in Jordanien geborener Palästinenser sein, verheiratet mit einer Kenianerin) oder gar keine (Ussama Bin Laden ist die saudische Staatsbürgerschaft aberkannt worden). Sie verstehen sich als muslimische Internationalisten, ihre Militanz ist keiner bestimmten nationalen Sache verpflichtet, und ihre „Zentralen“ liegen im Niemandsland der afghanisch-pakistanischen Stammesgebiete.

Auf diese Weise fehlt ihnen nicht nur die Anbindung an einzelne islamische Staaten (vor allem dem Iran), sondern sie sind auch von den großen islamischen Bewegungen isoliert, die in ihnen keine legitimen Abkömmlinge sehen (die FIS, einschließlich des Flügels von Abdullah Anas, hat die Irrwege der GIA verurteilt). Die großen Bewegungen (die Muslimbrüder, die FIS, die türkische Fasil-Partei, die palästinensische Hamas usw.) führen ihren Kampf in einem nationalen Rahmen und streben nach voller Anerkennung als politische Kraft; man könnte hier (wie auch im Fall des Iran) von einem „National-Islamismus“ sprechen, der wenig gemein hat mit der Idee der umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, auf die sich Bin Laden und seinesgleichen beziehen. Diese Gruppen erscheinen ein wenig wie der terroristische Flügel eines sunnitischen Fundamentalismus, dem es an einem echten politischen Programm gebricht – der jedoch trotzdem an der sozialen und geographischen Peripherie des Nahen Ostens Zulauf findet, da sich dort die Spannungen aufgrund der fehlenden politischen Perspektiven verschärfen.

dt. Edgar Peinelt

* Forschungsdirektor am französischen nationalen Forschungszentrum CNRS.

Fußnoten: 1 Die pakistanische Armee hat die Afghanistanfrage stets unter dem Gesichtspunkt strategischer Vorteile gegenüber Indien und mit Blick auf die Schaffung eines Korridors nach Zentralasien betrachtet. Bei dieser Politik ging man auch davon aus, daß die Unterstützung der Mudschaheddin sich in einem pakistanischen Fast-Protektorat über das befreite Afghanistan auszahlen würde – im Namen des Islam (und auch dank der Verwandtschaftsbeziehungen unter den Paschtunen beidseits der Grenze). Interessante Einzelheiten dazu finden sich in dem (natürlich sehr einseitigen und apologetischen) Buch des ISI-Generals Mohammed Yousaf „The Bear Trap“ (dt. „Die Bärenfalle“, von Mark Adkin und Mohammed Yousaf, Düsseldorf, Barett 1992). 2 Zwar schickte auch der Iran einige Pasdaran als Berater zu den schiitischen Gruppen in Afghanistan, aber mit der Bewegung der „Afghanen“ ist dies nicht zu vergleichen. Die iranischen Aktivisten der achtziger Jahre machten ihre Kampferfahrungen nicht in Afghanistan, sondern im Libanonkrieg – unter anderem, um einen Konflikt mit der Sowjetunion zu vermeiden. 3 Siehe Olivier Roy, „Afghanistan: Die Taliban als Wächter der Scharia und der Pipeline“, Le Monde diplomatique, November 1996. 4 Siehe etwa die protalibanische Website, auf der die Zeitschrift Dharb ul-Mu'min publiziert wird: http:// www.taliban.com. 5 Eine traditionalistische Rechtsschule des indischen Subkontinents, die im letzten Jahrhundert gegründet wurde, um den Einfluß des Hinduismus auf den Islam zu bekämpfen. 6 Die verbreitete Vorstellung vom Iran als Drahtzieher aller Formen des islamistischen Terrors verdeckt die massiv antischiitische Haltung der radikalen Sunniten. Wer kennt schon die Vielzahl antischiitischer Schriften, die es auf den Märkten in Pakistan zu kaufen gibt – vom Geistlichen Maulana Nomani, einem Anhänger der Deobandi-Schule, etwa das Buch „Khomeini, Iranian Revolution and the Shia faith“ (Vorwort von Sayyed Nadwi), in dem heftige Kritik an der iranischen Revolution geübt wird? In der den Taliban nahestehenden Zeitung Dharb-ul Mu'min werden Freitagsgebete (khutba) von Sheikh Huzaifi, dem Imam der Moschee Masdschid-i Nabawi, veröffentlicht, die nicht nur Angriffe gegen Christen und Juden enthalten, sondern die Schiiten als Ungläubige (kufar), Ketzer (rafawiz) und Heuchler (munafiqin) beschimpfen. Zit. n. der Website taliban.com vom 2. August 1998. 7 Nicht nur in bestimmten Regionen Saudi-Arabiens, sondern selbst innerhalb der wahhabitischen Geistlichkeit, die bislang eine Stütze des Throns war, ist eine zunehmende antiwestliche Stimmung zu verzeichnen, der die Monarchie Tribut zollen muß. 8 Die Einschätzung des amerikanischen Kongresses hat der „Experte“ Ken Timerman theoretisch untermauert, der sich bemüht, nachzuweisen, daß der Iran hinter allen terroristischen Anschlägen steckt. In einem Artikel im Wall Street Journal vom 11. August 1998 erklärt er kategorisch (und ohne jeden Beweis), für die Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania sei der Iran verantwortlich. 9 Washington Post, 5. Juni 1995. 10 Über die Irrwege des Islamismus siehe Olivier Roy, „L'Echec de l'Islam politique“, Paris (Le Seuil) 1992.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von OLIVIER ROY