13.11.1998

Das MAI ist tot – es lebe der Staat

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Das MAI ist tot – es lebe der Staat

WENIGER der eigene Wille als die Kraft der Ereignisse zwingt die Regierenden, ihre Verantwortung wieder wahrzunehmen. Die Investoren, die mit der Liquidierung des Multilateralen Abkommens über Investitionen (MAI) eine Niederlage einstecken mußten, haben in Asien und Rußland eine Politik der verbrannten Erde betrieben und das internationale Finanzsystem aufs Spiel gesetzt. Nun wenden sie sich erneut ganz unverfroren an die staatlichen Institutionen, die ihnen aus der Patsche helfen sollen. Die Gelegenheit wäre günstig, der Wirtschaft und den Finanzmärkten die ihnen gebührende Rolle zuzuweisen: Diener eines Projektes zu sein, statt Herrscher über das Schicksal des Planeten zu spielen.

Von BERNARD CASSEN

Vor nicht allzu langer Zeit gab EU- Kommissar Yves-Thibault de Silguy Frankreichs Regierungspolitikern trocken zu verstehen, sie sollten sich über ihre Machtvollkommenheit keine Illusionen mehr machen, nunmehr würden „die Märkte regieren“. Der Satz fand weitgehende Zustimmung. Das galt dagegen nicht für die Situation, die sich daraus ergab, daß sich die Regierenden aus ihrer Verantwortung fürs Gemeinwohl stahlen. Wenn man bedenkt, daß die Rezession bereits 40 Prozent der Weltwirtschaft erfaßt hat, weitere Dutzende, ja Hunderte Millionen Menschen in Ostasien, Rußland und Lateinamerika arbeits- und mittellos dastehen und die Rezessionsgefahr auch in Nordamerika und Europa nicht mehr von der Hand zu weisen ist, kann man die Verunsicherung der Ideologen und Wortführer der neoliberalen Ordnung durchaus verstehen.1 Nachdem ihre Arroganz bereits eine Baisse erlebt, schlägt sie bei vielen in eine regelrechte Panik um. Da haben sie ihr Heil in einer einzigen Größe gesucht: im Markt, der angeblich alle Tätigkeiten des Menschen wie ein „Autopilot“ reguliert. Nun hat genau dieser Markt jede Orientierung verloren. Da können die politisch Verantwortlichen noch so sehr versuchen, die verbleibenden Interventionsmöglichkeiten zu nutzen, an ihren Hebeln und Schaltern herumfuhrwerken: Der Mechanismus will einfach nicht mehr reagieren. Als hätte sich in den Apparat ein Virus eingeschlichen. Alan Greenspan, Präsident der US-Federal Reserve und demnach der bestinformierte und mächtigste Zentralbanker der Welt2 , gestand kürzlich ein, daß er nicht mehr ein noch aus wisse: „So etwas habe ich noch nie erlebt.“

Wo steuern wir hin, wenn dieselben Ursachen nicht mehr dieselben Wirkungen hervorbringen? Die erste US-Zinssenkung um 0,25 Prozent am 29. September verunsicherte die Märkte, die einen weiteren Zusammenbruch wie den des Spekulationsfonds „Long Term Capital Management“ (LTCM) fürchteten, und führte beim Dollar zu einem heftigen Kurseinbruch (von 136 Yen auf 111 Yen), den die japanischen und US-amerikanischen „Grunddaten“ in keiner Weise rechtfertigten. Die zweite Zinssenkung um wiederum 0,25 Prozent am 15. Oktober ließ die Aktienkurse an der Wall Street dagegen in die Höhe schießen und veränderte den Dollar-Wechselkurs nur geringfügig zugunsten des Yen. Und dann der Gipfel des Unverständlichen: Massenentlassungen treiben die Aktienkurse nicht mehr nach oben, sondern nach unten! Als Cork & Seal Anfang Oktober seine Freisetzungspläne bekanntgab, fiel die Aktie noch am selben Tag um 7 Prozent, während die Gillette-Aktie 5,9 Prozent einbüßte, als der geplante Abbau von 4700 Arbeitsplätzen ruchbar wurde. Rien ne va plus ...

An Stelle der Präsidenten und Regierungschefs geraten logischerweise nun die Märkte ins Schußfeld jener vielgelesenen Leitartikel, die allesamt die Überschrift tragen könnten: „Die Verrückten, die uns regieren“. Schon seit geraumer Zeit waren sie zu Hauptdarstellern des öffentlichen Lebens avanciert, wie ein Blick auf die Schlagzeilen und Überschriften in der Presse zeigte, und insofern hatte Silguy durchaus recht. Die Märkte „dachten“ dieses oder jenes, sie „verurteilten“ und „begrüßten“, sie „blickten erwartungsvoll“ auf diese oder jene Regierung. Die Politiker warfen sich ihnen zu Füßen, und als Edith Cresson in ihrer Zeit als Premierministerin eines Tages erklärte: „Die Börse kann mir gestohlen bleiben“, gingen in Frankreich und ganz Europa alle renommierten Kommentatoren vor Empörung in die Luft.

Seit einigen Monaten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Märkte im Wirtschaftsteil nichts mehr zu suchen haben und von den Medien eher unter der Rubrik „Medizin und Gesundheit“ abgehandelt werden. Wenn man der Presse Glauben schenken darf, brauchen sie offenbar dringend Beruhigungsmittel und psychiatrische Behandlung. So titelt Le Monde am 12. September, die Märkte würden angesichts der Enthüllungen von Monica Lewinsky über Bill Clinton „von panischer Angst erfaßt“. Die Financial Times vom 6. Oktober diagnostiziert eine Stimmung des „Rette-sich-wer-kann“. Le Monde meint am 7. Oktober „extreme Nervosität“ zu erkennen. Am 11. Oktober wähnt die Financial Times die Märkte wie Alice im Wunderland „auf der anderen Seite des Spiegels“. Die International Herald Tribune zitiert die Teilnehmer des Ostasiengipfels mit den Worten: „Die Märkte driften völlig ab.“ Sogar der Internationale Währungsfonds (IWF) steht, wie Le Nouvel Economiste vom 2. Oktober befindet, „am Rande des Nervenzusammenbruchs“. Und diesem Patienten haben wir jahrzehntelang die Geschicke unseres Planeten anvertraut!

Da die Selbstregulierungsfähigkeit der Finanz- und Güterströme als Dogma gilt, das noch immer an den meisten wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten ex cathedra gelehrt wird, bestand an weiterführenden Überlegungen kein Bedarf. Der Leitartikler der International Herald Tribune bezeichnet das „geistige Vakuum“ denn auch als Hauptfaktor der derzeitigen Krise: „Die Regierungen und der Internationale Währungsfonds stützen sich bei ihren Überlegungen hauptsächlich auf die Ansichten der Ökonomen, und diese haben nur vage Vorstellungen davon, wie sich die enormen Geldbewegungen auf die Weltwirtschaft auswirken.“3 Als Gewährsmann zitiert die IHT Paul Krugman vom Massachussetts Institute of Technology, von dem man kaum behaupten wird, er wisse nicht, wovon er rede4 , und der auf alle Fälle eine gehörige Portion Humor mitbringt: „Angenommen, Sie erwerben das meistverkaufte Lehrbuch über die internationale Wirtschaft. Was lesen Sie darin über mögliche Gegenmaßnahmen gegen einen derartigen Vertrauensverlust der internationalen Investoren? Nun, nicht viel. Sie können mir glauben, ich bin Mitverfasser dieses Lehrbuchs.“5

„Dann können wir nur noch beten“

DAHER wohl die merkwürdige Stimmung in den Versammlungen des IWF und der Weltbank Anfang Oktober in Washington. Die alten Gewißheiten hatten sich verflüchtigt, und neue waren nicht in Sicht. Ein Beobachter schilderte die Atmosphäre gegenüber William Pfaff von der International Herald Tribune folgendermaßen: „Er hatte den Eindruck, der Totenwache der Globalisierung beizuwohnen. Die Anführer des Trauerzuges wollten nicht wahrhaben, daß der Tod gerade zugeschlagen hatte. Sie konnten keinen klaren Gedanken fassen, weil sie den Tatsachen partout nicht ins Auge blicken wollten. Der Zusammenbruch der Globalisierung hatte sie in eine geistige Krise gestürzt, die einer Glaubenskrise ähnelte.“6

In solchen Fällen gibt es, wie jeder Mystiker weiß, nur ein Gegenmittel: das Gebet. So verglich ein vielbeachteter französischer Kommentator die spekulative Bewegung auf den Devisenmärkte im Umfang von täglich 1500 Milliarden Dollar mit dem Verkehr auf den Autobahnen im Juli und August. Die Bewegung sei zwar „ein wenig sinnlos und unnütz – wer wollte das bezweifeln? – aber ist sie wirklich störend?“ Der Autor, der die damals neugegründete Vereinigung Attac (siehe Kasten Seite 6) mit Spott überschüttet, wollte wohl witzig wirken: „Die Autobahnen sind voller Urlauber, die lediglich spazierenfahren, während nur ein kleiner Teil der Fahrer aus wirtschaftlicher Notwendigkeit unterwegs ist. Soll man die Autobahnen deswegen schließen oder nur für Lastwagen und Handelsreisende zulassen?“7 Vier Monate später sah sich der Sommerfrischler genötigt, die Autobahnen des Kapitals zu verlassen und seinen Kreuzweg abzuschreiten: „Wenn die Ansteckung dauerhaft auf den Rest der Welt übergreift – und wir sind schon fast so weit –, wird man von einer systemischen Krise, einer Systemkrise sprechen können. Dann können wir nur noch beten.“8

Aber keine Panik. Die Finanzwelt besteht nicht nur aus kleinen Heiligen, Novizen und Anwärtern für einen kontemplativen Orden. Wenn der Lärm und die Raserei der Märkte den Spekulationsmethoden der Händler9 einen allzu dicken Strich durch die Rechnung macht, rückt der Augenblick näher, an dem die Börsianer sich einem anderen, stets in Reichweite liegenden Paradies zuwenden. Für gewöhnlich gilt ihnen dieses Paradies zwar als die reinste Hölle, aber wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen, verschmähen sie es keineswegs, einen Appell an den Teufel namens Staat zu richten. Der soll gegebenenfalls Steuergelder lockermachen. Im Händlerjargon, der in dem Fall mehr verrät, als er sagen will, heißt das: „Flucht in die Bonität“. Und diese Bonität ist nicht nur finanzieller Natur – schließlich macht ein Staat im Regelfall nicht bankrott –, sie besteht auch in politischen Garantien.

So kam es, daß die Märkte entgegen aller liberalen Logik massive Staatseingriffe im Bankensektor begrüßten, die mitunter auf eine regelrechte Verstaatlichung hinausliefen. Als die Regierung von Keizo Obuchi Mitte Oktober ihren Rettungsplan für das japanische Bankensystem bekanntgab, der die Staatsfinanzen und also den Steuerzahler Nippons rund 500 Milliarden Dollar (11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) kosten wird, da machte der Nikkei-Index in Tokio stracks einen Satz von 5,2 Prozent nach oben.

Den Grundsätzen staatlicher Enthaltsamkeit auf den ersten Blick ebenso widersprechend war eine weitere Rettungsaktion von Ende September, die diesmal in den USA lief, wo die New Yorker Notenbank den Hedge-Fonds LTCM herauspauken mußte. Mit einem Eigenkapital von nur 4 Milliarden Dollar „managte“ LTCM mit geliehenem Geld ein Portfolio von rund 100 Milliarden Dollar. Nachdem sich der Fonds ein ums andere Mal verspekuliert hatte, hätte er eigentlich Bankrott anmelden müssen – und mit ihm einige Banken. Das hätte eine katastrophale Kettenreaktion ausgelöst –, wenn die Federal Reserve die Gläubigerbanken von LTCM nicht inständig gebeten hätte, zusätzliche Mittel aufzubringen, um dem Fonds aus der Talsohle zu helfen. So schaffte es ein Konsortium aus sechzehn Finanzinstituten – böse Zungen sprachen von „Alans Kumpanen“ –, innerhalb von 48 Stunden 3,75 Milliarden Dollar aufzutreiben, sechsmal soviel, wie der Plan Allègre für die französischen Gymnasien bereitstellt. Wie man sieht: Wenn Not am Mann ist, versteht es die Staatsgewalt durchaus, sich als selbstloser „White Knight“ der Sparer und Aktionäre zu profilieren, vor allem, wenn deren Portfolio sich auf Hunderte Millionen oder Milliarden Dollar beziffert. Bonität heißt aber auch Ertragsgarantie. Und die kann nun einmal nur der Staat gewähren: Der kann sich schließlich beim Steuerzahler bedienen!

Fortan finden in den Augen der panischen Investoren nur solche Titel Gnade, die von Rating-Agenturen wie Moody's oder Standard and Poor als AAA- Papiere eingestuft werden: die amerikanischen Treasure-Bonds, die deutschen Staatsanleihen und die französischen Schatzbriefe.10 Sogar die Obligationen erstrangiger Unternehmen, die wie Nestlé oder Toyota als AA oder A klassifiziert sind, mußten Kursverluste hinnehmen. Letztendlich traut das Kapital nur noch „Mama Staat“ – eine Formulierung, mit der Claude Imbert in der französischen Wochenzeitschrift Le Point regelmäßig gegen die Angestellten und Beamten des öffentlichen Dienstes zu Felde zieht.

Doch langsam dreht sich der Wind. Dies zeigt etwa die Entscheidung des französischen Premierministers Lionel Jospin vom 10. Oktober dieses Jahres, die französische Mitarbeit am Multilateralen Abkommen über Investitionen (MAI) aufzukündigen. Die vier Bedingungen, die er vergangenen Februar gestellt hat, wanderten in den Papierkorb, da der Vertragsentwurf insgesamt als „nicht reformierbar“ und als Angriff auf die staatliche Souveränität beurteilt wurde.11

Erste Vorboten einer Wende

DIESER Hauptmangel des Entwurfs, der den Sinneswandel der französischen Regierung ausgelöst hat, war den Spitzenbeamten aus der Direktion des Schatzamtes im Wirtschafts- und Finanzministerium, die seit 1995 an den Vertragsverhandlungen teilnahmen, offenbar ebenso entgangen wie seit 1997 ihrem Minister Dominique Strauss-Kahn. Aufklärung gab erst die Europaabgeordnete Catherine Lalumière in ihrem Bericht an den Premierminister. Zum Glück haben die Bürgerinitiativen, die überall auf der Welt und insbesondere in Frankreich gegen das MAI mobilmachten, schneller als die Finanzinspektoren in Bercy begriffen, was hier auf dem Spiel stand.

Und überraschenderweise ist nicht einmal die Financial Times traurig, daß dieser schlechte Vertragsentwurf doch noch begraben wurde. In London streut man sich schuldbewußt Asche aufs Haupt: „Eines ist aus diesem Fiasko für internationale Verhandlungen zu lernen: nämlich wie man es genau nicht machen muß.“12 Wenn der nachträgliche Segen einer solch lupenrein liberalen Instanz die mehrheitlich sozialdemokratischen Regierungen in Europa überzeugen könnte, daß sie die Märkte weit drastischer an die Kandare nehmen können als bisher, mag der Sieg über das MAI der Vorbote weiterer Erfolge in dieser Richtung sein.

Sogar eine Bastion der neoklassischen Orthodoxie wie die Nobelpreisjury für Wirtschaftswissenschaften hat bereits die Kurve gekriegt und 1998 den Wohlfahrtsökonomen Amartya Sen für seine Untersuchungen zur Armut ausgezeichnet. Voriges Jahr fiel die Wahl nach einer Reihe ähnlicher Entscheidungen noch auf zwei amerikanische „Forscher“, die Modelle zur Berechnung der Marktwerte moderner Finanzinstrumente entwickelt haben. Die beiden waren umgehend von LTCM rekrutiert worden. Mit welchem Ergebnis, hat man gesehen.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Serge Halimi, „system error!“, Le Monde diplomatique, Oktober 1998. 2 Vgl. Frédéric Lebaron, „Die Hüter der rechten Währungsordnung“, Le Monde diplomatique, Oktober 1998. 3 Robert J. Samuelson, „We're all in the same boat, with no one steering“, International Herald Tribune, 14. Oktober 1998. 4 Paul Krugman, „Der Mythos vom globalen Wirtschaftskrieg. Warum der ökonomische Niedergang des Westens nicht stattfindet“, aus dem Engl. v. Herbert Allgeier, Frankfurt/Main 1998. 5 Robert J. Samuelson, a. a. O. 6 William Pfaff, „The crunch has a message for Europe's Central Bank“, International Herald Tribune, 16. Oktober 1998. 7 Philippe Manière, Le Point, 13. Juni 1998. 8 Philippe Manière, Le Point, 26. September 1998. 9 Dazu Nicolas Bouleau, „Martingales et marchés financiers“, Paris (Odile-Jacob) 1998. 10 Vgl. Ibrahim Warde, „Private Rating-Agenturen evaluieren die Staaten der ganzen Welt – Liberale Musterknaben und designierte Sitzenbleiber“, Le Monde diplomatique, Februar 1997. 11 Vgl. Bernard Cassen, „Reddition sous conditions“, Le Monde diplomatique, Oktober 1998. 12 „A case of MAI culpa“, Financial Times, 20. Oktober 1998.

Le Monde diplomatique vom 13.11.1998, von BERNARD CASSEN