13.11.1998

Staatskrankes Rußland

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Staatskrankes Rußland

Im September 1998 lebten etwa 44,4 Millionen Russen unterhalb der Armutsgrenze, doppelt so viele wie noch ein Jahr zuvor. Der Ertrag der Weizenernte, der sich auf 50 bis 60 Millionen Tonnen belaufen dürfte und somit kaum über demjenigen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges liegt, wird nur einen kleinen Teil des Bedarfs decken. Die Enthüllungen des ehemaligen Marineoffiziers Alexander Nikitin über die Verschmutzung des nördlichen Eismeeres mit atomaren Abfällen hat das Ausmaß des Umweltdesasters deutlich gemacht. Der Gesundheitszustand Präsident Jelzins ist geradezu symbolhaft für die allgemeine Auflösung des Landes, an der seine Regierung mitschuldig ist. Die Regierung Primakow will nun die durch die „Schocktherapien“ darniederliegende Wirtschaft wieder ankurbeln. Doch der erste notwendige Schritt ist die Wiederherstellung staatlicher Autorität – hier liegt das zentrale Problem auf dem schwierigen Weg der Modernisierung.

Von MOSHE LEWIN *

EIN Wort macht die Runde unter den russischen Intellektuellen: „bespredel“. Es bedeutet Hoffnungslosigkeit, Zynismus, antisozialer Immoralismus – oben wie unten anzutreffen. Das Wort soll den „Stand der Dinge“ in Rußland beschreiben. Schrankenlosigkeit, eine Situation des anything goes, die den genannten Gemütszuständen freien Lauf läßt, schwingt darin mit.

Ein russischer Autor schlug für das eigentlich nicht zu übersetzende Wort die Umschreibung vor: „Nach mir die Sintflut.“ Auf verquere Weise kommt darin zum Ausdruck, in welch bittere Not das Land geraten ist und wie groß die Arbeit, sie zu überwinden. Krisen – auch dies mag dabei anklingen – sind das Ergebnis vieler Faktoren, und ihre Analyse stellt den Historiker vor weit größere theoretische Schwierigkeiten als die Analyse von Aufschwungperioden. Kein Zweifel, daß die derzeitige Krise an Relief gewinnt, wenn wir sie in historischer Perspektive untersuchen. Dann zeigt sich, daß wir es mit einem „Klassiker“ der russischen Geschichte zu tun haben – was die Situation zwar nicht weniger hoffnungslos macht, immerhin aber lesbarer.

Paradoxerweise erklärt sich die besondere Krisenanfälligkeit des russischen Staates aus seiner beherrschenden Stellung in der russischen Geschichte. Dieser an sich logische Zusammenhang läßt sich über die Jahrhunderte zurückverfolgen und kennzeichnet insbesondere die entscheidenden Zeitabschnitte des 20. Jahrhunderts: die Jahre 1903-1907, 1916-1921 und die neunziger Jahre. Als Schlußpunkt einer langen, wenig spektakulären Periode, in der sich das System auf fatale Weise festfuhr, weisen die neunziger Jahre durchaus Parallelen zu den Krisenzeiten Anfang unseres Jahrhunderts auf.

Der Schlüssel zum Verständnis dieser Krisen liegt in der Interaktion historisch antinomischer Gesellschaftsschichten, die auf je unterschiedliche Weise reagieren, wenn das labile innere Gleichgewicht durch dynamische innere oder äußere Faktoren unter starken Druck gerät. Rapides Wirtschaftswachstum, galoppierende Industrialisierung, Rüstungswettlauf, Krieg und technologische Revolutionen, die die archaischen oder alternden, jedem Wandel jedenfalls unzugänglichen gesellschaftlichen und politischen Strukturen untergraben, prägen nicht nur die russische Geschichte in unserem Jahrhundert – wobei die konkrete Entwicklung je nach Land und historischen Umständen natürlich unterschiedliche Wege einschlug.

Den Krisenjahren 1903-1907 ging eine lange Periode voran, in der die Entwicklung Rußlands wie später in den siebziger Jahren langsam zum Stillstand kam. Die Gesellschaft geriet außer Tritt, Spannungen mehrten sich, und vorherige Reformen wurden regelrecht torpediert. Als Reaktion auf die „leichtfertige“ Verwaltung der Staatsangelegenheiten unter seinem Vater (dessen Privatleben und liberale Anwandlungen er mißbilligte) führte Zar Alexander III. ein starres Regiment, wo das Gegenteil nötig gewesen wäre. Die mißliche Lage des Regimes, das zumal in den 1890er Jahren mit den Auswirkungen des brutal hereinbrechenden Kapitalismus zusätzlich unter Druck geriet, konnte sich dadurch nur verschlimmern. Die kapitalistische Dynamik untergrub die beiden Grundpfeiler des zaristischen Rußland, die bisher praktisch jeden Wandel verhinderten: die agrarwirtschaftlichen Verhältnisse und den autokratischen Staat.

Die drei Bestandteile der „ländlichen Welt“ – die Bauernschaft, der grundbesitzende Adel und die Zarenfamilie als bedeutendster Großgrundbesitzer – bildeten ein uraltes Machtgefüge, das sich überlebt hatte und den Bedürfnissen der kleinen aufstrebenden Schichten – der städtischen Unternehmer, Freiberufler und Arbeiter – nicht mehr entsprach.

Als die alte Ordnung auseinanderbrach, hatten alle drei Gruppen des „Trios“, jede auf ihre Weise, unter dem Wandel zu leiden. Die einen paßten sich der Moderne an, die anderen stagnierten oder gingen unter. Die Gesellschaft erweckte den Eindruck eines Patchworks gesellschaftlicher und politischer Akteure, die – aufstrebend oder im Niedergang begriffen – unterschiedliche, ja entgegengesetzte Ziele verfolgten.

Die „Zeit der Wirren“

BEI Ausbruch des russisch-japanischen Kriegs im Jahr 1904 war der zaristische Staat bereits von sämtlichen Mißständen angenagt, die ihn in den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs vollständig zerfressen sollten. Unfähig zur Kriegsführung, besetzte er die Führungspositionen in Militär und Verwaltung mit den falschen Leuten. Dafür verantwortlich war die Intrigenwirtschaft am Zarenhof, wo man sich außerstande zeigte, die wenigen begabten Führungskräfte zu halten und mit wichtigen Aufgaben zu betrauen. Ebenso fatale Wirkungen zeitigte die Unfähigkeit oder Weigerung der Monarchie, Mitglieder der gebildeten Gesellschaftsschichten und Parteien an sich zu binden, die mit dem Einzug der Moderne die politische Arena betraten.

Wie die Geschichte der Duma von ihrer Entstehung bis zu ihrer „Verstümmelung“ zeigt, konnte und wollte der Zarenstaat die monarchistische Ideologie aus dem 17. Jahrhundert nicht ablegen und sperrte sich noch gegen die nötigsten Reformen. Dabei waren die Aufgaben so immens, daß sie die Fähigkeit eines Herrschers (und eines Hofs), der den Staat partout wie seinen althergebrachten Gutsbesitz verwalten wollte, bei weitem überstiegen.

So brach das Zarentum lautlos zusammen, und niemand fand sich, der die Staatsführung übernehmen wollte. Diesen merkwürdigen Vorgang gilt es festzuhalten, denn er wird sich später wiederholen. In den ersten Monaten des Jahres 1917 versuchten sich der Reihe nach alle politischen Kräfte an den Aufgaben, an denen das Zarentum gescheitert war. Anfangs funktionierte die staatliche Maschinerie noch, aber schon bald erlag sie.

Die Situation erinnerte an die „Zeit der Wirren“ im 17. Jahrhundert. Der Staatsapparat löste sich auf, die Gesellschaft erfuhr eine grundlegende Umwälzung, das Gemeinwesen zerbrach, Zusammenstöße und nationale Separatismen waren die Folge, schließlich ein schrecklicher Bürgerkrieg. Wer sollte den Staat wiederaufbauen, und wie sollte er aussehen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der erbitterten Kämpfe im 17. Jahrhundert. Und um sie kreisten die Auseinandersetzungen im Jahr 1917. Die streitenden Parteien unterschieden sich, aber die vor ihnen liegende Aufgabe war ähnlich.

Je weiter wir in der Zeit vorwärtsschreiten, um so komplizierter werden die Verhältnisse. Bürgerkrieg, Neue Ökonomische Politik (NEP)1 und Stalinismus bilden zwar nicht drei verschiedene Staatsformen, aber sie markieren drei verschiedene Phasen im Aufbau des Sowjetstaats. Die NEP ging als Zeit relativer Entspannung in die Annalen ein; die beiden anderen Zeitabschnitte waren gekennzeichnet durch ein staatliches Zwangsregime, das sämtliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens militarisierte, mit den bekannten tragischen Folgen.

Nach Stalin lockerte der Staat die Zügel ein wenig und verzichtete bei der Kontrolle der Bevölkerung auf massiven und willkürlichen Terroreinsatz, so daß der Alltag der meisten Menschen nicht mehr von dauernder Angst geprägt war. Um eine Art „Demobilmachung“ handelte es sich dabei nicht nur in dem Sinn, daß die Soldaten nach Kriegsende ins Zivilleben zurückkehrten, sondern auch insofern, als sich das Regime überhaupt in erheblichem Maß entmilitarisierte.

Daß Diktatur und Terror nachließen und das Regime sich entmilitarisierte, war Ausdruck von gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die vom System teils gefördert wurden, teils akzeptiert werden mußten, weil sie untrennbares Kennzeichen urbanisierter Gesellschaften mit hohem Bildungsniveau sind. Seit Mitte der sechziger Jahre gab nicht mehr das Land, sondern die Stadt den Ton an, und in verschiedenen Lebensbereichen waren Fortschritte zu verzeichnen.

Indes, hinter diesem Energieschub und den spektakulären Machtdemonstrationen des Regimes, die fortan von nicht unerheblichen materiellen Verbesserungen begleitet waren, zeichneten sich gefährliche Entwicklungstendenzen ab. Seit Beginn der siebziger Jahre machten viele Beobachter darauf aufmerksam, daß sich das Regime zunehmend selbst blockierte. So begann abermals eine Zeit des gesellschaftlichen Stillstands, die berühmt-berüchtigte „zastoj“ (Stagnation)2 , die unweigerlich in einen erneuten Systemzerfall münden mußte. In den siebziger Jahren verlor das Regime alle Vitalität: Es war nicht einmal mehr willens oder fähig, die eigene Lage zu erkennen, geschweige denn Reformpläne auszuarbeiten.

Auch in diesem Fall spielten zahlreiche Krisenfaktoren eine Rolle, doch im wesentlichen läßt sich die Krise folgendermaßen „fotografieren“: Ein politisches System, das in einem gegebenen historischen Stadium geschaffen wurde und den Grenzfluß zum nächsten Stadium anscheinend problemlos überqueren könnte, bleibt mitten in der Furt wie angewurzelt stehen und weiß nicht mehr, welchem Ufer es sich zuwenden soll. Zwar lockt das eine Ufer, doch man kann vom anderen nicht lassen, und so bleibt das System den gegensätzlichen Einflüssen beider ausgesetzt. Jeder Fortschritt prallt an einer erdrückenden Bürokratie ab, die innerhalb einer noch vorwiegend ländlichen Wirtschaft und Gesellschaft mit der Industrialisierung entstand und in puncto Weitläufigkeit und Dichte alles bisher Bekannte übersteigt.

Der stalinistische Despotismus ebenso wie der anschließende bürokratische Absolutismus bildeten die Grundlage einer beispiellosen Industrialisierung und Urbanisierung. Sah sich der Stalinismus mit einer vorwiegend ländlichen Gesellschaft konfrontiert, so schaffte der bürokratische Absolutismus in kurzer Zeit den Übergang zu einer urbanisierten Gesellschaft, die allerdings weiterhin die Stigmata der Agrarphase aufwies und deren staatliches Gefüge noch immer zahlreiche Züge des stalinistischen Modells trug.

Kurz, der entstehende Sowjetstaat stand im Begriff, die hergebrachte ländliche Welt zu verlassen und in die industrielle und urbane, später postindustrielle Ära einzutreten. So trug er Züge der alten wie der neuen Welt und konnte auf die Spannungen und Probleme, die dadurch entstanden, nur reagieren.

Dieser Zeitabschnitt währte nicht länger als fünfunddreißig Jahre, ungefähr von 1935 bis 1970. Die wichtigste Veränderung vollzog sich rasend schnell. Millionen Menschen, ganze Gemeinwesen aus Dörfern und kleineren Städten, wanderten freiwillig oder unter Zwang in die Großstädte ab. Die bürokratische Struktur und die Gesellschaft insgesamt, die sich gegenseitig in Schach hielten, sahen sich inmitten jener Furt der Geschichte schachmatt gesetzt: Die Gesellschaft wurde durch die Bürokratie ausgebremst, und die Bürokratie mußte mit einer veränderten Gesellschaft zurechtkommen.

Im selben Augenblick, in dem die soziokulturellen Veränderungen und die Imperative der technologisch-wissenschaftlichen Revolution den Staat nötigten, sich der innergesellschaftlichen Komplexität und dem neuen internationalen Umfeld anzupassen, fand der bürokratische Koloß Geschmack an den Machtbefugnissen und Annehmlichkeiten, die der Staat ihm verschafft hatte, und entwickelte eine Art „Schützengrabenmentalität“: Unmöglich, das Schiff und seinen Komfort zu verlassen, auch wenn es durch seine Langsamkeit und hohen Kosten bereits sinkt.

Als die Breschnew-Clique in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die vielversprechenden Reformvorhaben von Alexei Kossygin zu Fall brachte, rosteten die Hebel der Macht endgültig ein. Eine merkwürdige Logik scheint hier am Werk gewesen zu sein: Je komplexer die Gesellschaft wurde, je mehr sie in Bewegung geriet und die internationale Situation an Dynamik gewann, um so mehr versteinerte das Sowjetregime zu einem unbeweglichen Block.

Während die Zügel der Macht in den Händen einer (vorgeblich) politischen Partei lagen, schritt die Entpolitisierung des Systems unaufhaltsam voran. Dem Regime war die Fähigkeit, qualifizierte Verantwortungsträger hervorzubringen und Strategien für einen Wandel auszuarbeiten, völlig abhanden gekommen. Hinter seinem imposanten Äußeren hatte es sich zur Ohnmacht verurteilt. Seinen langen, aber kurzatmigen Reden zum Trotz war es zur Reglosigkeit erstarrt. Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte. Der Sturz des Sowjetregimes ging erstaunlich leicht vonstatten: Es mußte nicht einmal gestoßen werden, um zu fallen.

Nachdem die Partei und der Einparteienstaat durch innere Auflösung plötzlich nicht mehr existierten, begann statt der erwarteten Emanzipation ein langanhaltender Niedergang des Landes mit verheerenden Folgen, in dessen Verlauf der Staat seine eigentliche Bestimmung einbüßte. Wie in den vorhergehenden kritischen Momenten der russischen Geschichte hatten sich offenkundig die Grundlagen der nationalen Existenz verflüchtigt. Einmal mehr erschien es als vordringlichste Aufgabe, den Staat wiederzubeleben, wenn nicht gar ihn neu zu schaffen.

Man hätte in diesem Stadium zunächst einmal die Voraussetzungen eines neuen Entwicklungsmodells schaffen und die Neuerungen erst später vertiefen sollen. Durch eine solide Unterstützung des privaten, kooperativen und gemischtwirtschaftlichen Sektors hätte man den staatlichen Kleinbetrieben und der exportorientierten Industrie einen Anreiz geboten, mit privatwirtschaftlichen Partnern zusammenzuarbeiten. Die dadurch entstehenden privaten und gemischtwirtschaftlichen Produktionsnetze für Ausrüstungsgüter wären an die Stelle der unflexiblen und schlecht funktionierenden staatlichen Verteilungsorganisationen getreten. Im Gefolge hätten die staatlichen Großunternehmen keine andere Wahl gehabt, als sich am marktwirtschaftlichen Spiel zu beteiligen und ebenfalls private Partner, auch ausländische, zu finden. Diejenigen, denen dies nicht gelungen wäre und die gleichwohl eine vitale Funktion für das Land hatten und weiterhin behielten, hätten weiterhin Staatseigentum bleiben können. Parallel dazu hätten diese Maßnahmen die Entstehung politischer Formationen und neuer Institutionen erleichtert und der Notwendigkeit geeigneter leistungsfähiger rechtlicher Rahmenbedingungen auf die Sprünge geholfen.

Statt dessen wurden wir Zeuge eines totalen Kriegs gegen Wirtschaft und Staat. Unter dem Deckmantel einer Gegenideologie, die von den Gegebenheiten des alten Systems nichts wissen wollte und „die Freiheit des Markts“ als Allheilmittel propagierte, wurden die Reichtümer des Landes in Rekordzeit buchstäblich verschleudert. Die Binsenweisheit, daß die in der westlichen Welt angewandten Techniken zur Marktregulierung nicht funktionieren können, solange es keine Marktwirtschaft gibt, wurde von den „Reformern“ schlicht vergessen oder absichtlich mißachtet.

Da geeignete rechtliche Rahmenbedingungen und ein unabhängiges Justizwesen fehlten, gerieten die Staatsunternehmen im Zuge der Privatisierung zunehmend in den Einflußbereich des organisierten Verbrechens. Unter tätiger Mithilfe westlicher Berater und dem Applaus der wichtigsten Regierungen und wirtschaftlichen Institutionen der westlichen Welt organisierte die „Privatisierungspolitik“ einen Überfall auf die ehemalige Sowjetwirtschaft, der seinesgleichen sucht und dessen Auswirkungen weit über das hinausgehen, was sich in den Statistiken und Untersuchungen der Experten widerspiegelt.

Privatisierung der Regierung

SYMPTOMATISCH dafür ist, daß im selben Maß, wie die Wirtschaft verfiel, Kapitalsummen nach Moskau flossen, von denen andere Hauptstädte nur träumen können. In der Tat setzte eine solch großangelegte Operation eine enge Zusammenarbeit zwischen potenten Geldgebern und den Schlüsselsektoren des Staatsapparats voraus, die sich für beide Seiten äußerst lukrativ gestaltete. Daß die meisten dieser „freundschaftlichen“ Vereinbarungen höchst suspekt sind und dem Land nur Schaden zufügten, zeigt die Infiltration der verantwortlichen Behörden durch mafiaartig organisierte Verbrecherkartelle, für die Erpressung und bezahlter Mord zum Alltagsgeschäft gehören.

Der „Wirtschaftsboom“ äußerte sich in erster Linie in der Gründung zahlreicher Banken, die hauptsächlich dazu dienen, phantastische Summen ins Ausland zu transferieren. Manche Beobachter deuteten diese Entwicklungen aus Naivität oder Eigennutz als Zeichen einer gesunden Wirtschaft, obgleich der Lebensstandard der Bevölkerung ebenso beständig sank, wie die Wirtschaftskraft nachließ. Daß die Banken florierten, während die Wirtschaft den Bach runterging, kündigte zwar den nahen Bankrott an, doch die westlichen Berater drängten in ihrer Blauäugigkeit die „reformwillige“ Regierung zu weiteren „Reformen“.

Diese verheerende Kurzsichtigkeit ist zumindest erstaunlich. Kein Wunder, daß viele Russen dem Westen vorwerfen, er wolle das Land ins Chaos stürzen. Leider ist das Land auf dem besten Weg dorthin.

Mangels strukturierter Parteien und einflußreicher Parteiführer mit Alternativprogrammen ist es dem Jelzin-Regime gelungen, sich zum neuen Zentrum des Staats aufzuschwingen und seine Richtungsvorgaben durchzusetzen, ohne den Widerstand nennenswerter politischer und juristischer Instanzen fürchten zu müssen. Im Laufe der Privatisierung des Staatseigentums entstanden riesige Vermögen, die immer mehr Macht anhäuften und schließlich eine virtuelle Privatisierung der Regierung selbst herbeiführten. Nun können sie sich nicht nur Minister, sondern auch einen Präsidenten ihrer Wahl leisten.

Die derzeitigen Institutionen mögen im großen und ganzen einer Staatsregierung ähneln, der Gegenstand ihrer Regierungstätigkeit aber ist wachsende politische und wirtschaftliche Leere. Rußland verliert allmählich seine Substanz. Eine Nation, die historisch schon immer durch einen starken, ja allmächtigen Staat geprägt war, sieht sich einer Situation gegenüber, aus der der Staat praktisch verschwunden ist. Die Gesetze gelten nicht mehr oder werden verhöhnt, die Justiz ist machtlos, die Streitkräfte ähneln einer Truppe von Vagabunden, die Polizeikräfte gleichen einem Haufen Banditen, einzelne Regionen spalten sich ab, die wichtigsten Regionen werden von einem Präsidenten zusammengehalten, der sich ihre Unterstützung mit Sonderrechten für den jeweiligen Gouverneur erkauft, die Löhne werden nicht mehr ausgezahlt, die Steuern bleiben wegen Steuerhinterziehung oder Zahlungsunfähigkeit aus, und die Menschen sind zunehmend auf Naturaltausch und die Erzeugnisse ihres eigenen Gartens angewiesen.

So sieht das Ergebnis dieser „Reformen“ aus, die Rußland seines Staats und seiner Wirtschaft beraubt haben. Die sozialen Folgen sind verheerend: Ein Großteil der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, die Rentner sterben im Elend, die Lebenserwartung vor allem der Männer sinkt in besorgniserregendem Maß, die gebildeten Mittelschichten wissen nicht, wie sie überleben sollen.

Die Krise ist „systemischer“ Natur, insofern sie sämtliche gesellschaftlichen Bereiche betrifft, von der Regierung und ihrer Politik bis hin zur moralischen und kulturellen Substanz der Gesellschaft. Die Ausarbeitung und ansatzweise Umsetzung geeigneter Gegenmaßnahmen erfordert als unerläßliche Vorbedingung eine handlungsfähige Regierung. Aber das reicht noch nicht. Keine Wirtschaft kann sich ohne einen funktionsfähigen Staat entwickeln oder entfalten, wobei unter Staat nicht nur die Staatsmaschinerie im engeren Sinn zu verstehen ist, sondern das „politische System“ insgesamt.

Ein demokratiefähiges politisches System braucht zahlreiche soziale, kulturelle und politische Institutionen, die als conditio sine qua non auch oppositionellen Kräften Raum bieten müssen: mächtige Gewerkschaften, politische Parteien, Kirchen usw. Nur dadurch entsteht der Legitimationskitt, das heißt ein Grad an Akzeptanz und Unterstützung in der Bevölkerung, der dem System bei aller Kritik Legitimität verschafft.

Autoritäre Gefahr

EINE weitere Vorbedingung ist die politische Kultur, die eng mit der Legitimationsfrage zusammenhängt. Angesprochen ist hier die Fähigkeit des Bürgers, die Funktionsweise und die Probleme der Verwaltung verstehen und die politisch Verantwortlichen wählen, unterstützen und ihr Verhalten aufmerksam verfolgen zu können. Dies setzt voraus, daß die Bürger ein gewisses Vertrauen in das System haben, daß sich Wähler und gewählte Vertreter über bestimmte ethische Maßstäbe im wesentlichen einig sind, daß Regierte und Regierende gewisse Grundsätze und Ideale teilen. Anhand dieser zweifellos idealtypischen, theoretisch aber notwendigen Bestandteile eines funktionsfähigen demokratischen Systems läßt sich ermessen, wie tief Rußland in der Krise steckt und woran es dem Land mangelt.

Nach langen Verhandlungen ist nun eine neue Vereinbarung zwischen der Staatsduma und Präsident Boris Jelzin zustande gekommen, und der ehemalige Außenminister Jewgenij Primakow wurde zum neuen Premierminister bestimmt. Er gehörte in der Sowjetunion zu jenen Apparatschiks, die als gossudarstwenniki oder hohe Staatsbeamte bezeichnet wurden. Nicht wenige unter ihnen können als sehr fähige Experten gelten, die zur Zeit der Sowjetunion große Verantwortung trugen, ohne je das Spiel zu beherrschen. Nie waren sie in irgendwelche Korruptionsaffären oder andere zweifelhafte Machenschaften verwickelt.

Daß in Moskau eine Regierung ans Ruder kommt, die zumindest ein wenig Effizienz verspricht und – man kann es sich nur wünschen – ehrlich handeln wird, ist von entscheidender Bedeutung. Aber wie gesagt: Die Staatsmaschinerie ist nur ein Teil eines umfassenderen politischen Systems, das nicht von oben, von der Regierung, verordnet werden kann, schon gar nicht bei der derzeitigen Lage. Die Gesundung des Staats mag im Moment eines der Hauptprobleme sein, doch sollte man darüber nicht vergessen, daß Rußland mit einem weiteren historischen Handicap belastet ist. Jedesmal, wenn der Staat in Rußland ins Wanken gerät und auf die eine oder andere Weise umgebaut werden muß, tauchen die alten Dämonen wieder auf und ziehen wie Raubvögel ihre Kreise über der politischen Arena. Die Wortführer eines knallharten, von Grund auf autoritären und zum Despotismus tendierenden Etatismus, der stets mit einer nicht weniger gefährlichen totalen Bürokratisierung einhergeht, erheben ihre Stimme. Ihr Modell sei das einzige, das das russische Volk verstehe und schon immer gewollt habe.

Eine apathische Gesellschaft, mit Medien, die erneut von der Regierung und den Finanzmächten kontrolliert werden, heruntergekommenen Schulen und einer politisch gleichgültigen Jugend ist ein fruchtbarer Boden für all jene, die programmatisch nichts anderes vorzuschlagen haben, als mit „starker Hand“ wieder Ordnung zu schaffen im Hause Rußland. Eine Ordnung freilich, die Rußland endgültig in den Untergang treiben und in ein Land der „Vierten Welt“ verwandeln würde.

Als Boris Jelzin sah, wie sein Land langsam in Stücke fiel, begab er sich auf die Suche nach einem Wundermittel, das geeignet wäre, die Nation um seine Person zusammenzuschweißen. Manche Stimmen schlugen die Wiedereinführung des Zarentums vor, aber diese Exhumierungsversuche wurden sehr schnell wieder aufgegeben. Alexander Solschenizyn meint angesichts der schweren Krise und Not in seinem Land, nur die russisch-orthodoxe Religion könne seinen Landsleuten Patriotismus einflößen – dabei betont er selbst, die Kirche habe sich durch geistige Unbeweglichkeit zur völlig Handlungsunfähigkeit verurteilt.

Auch der Kommunismus hat keine Kirche mehr, die diesen Namen verdienen würde. Nur die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) stellt noch eine ernstzunehmende Kraft dar, aber sie hütet sich, dem Land ein kommunistisches Programm vorzuschlagen. Sie hätte am liebsten auch den Namen gewechselt, aber das hätte sie anscheinend zu viele Stimmen gekostet, denn nach einschlägigen Untersuchungen und Meinungsumfragen trauert die Mehrheit der russischen Bevölkerung der Breschnew- Ära nach.

Die KPRF steht zwar links von Jelzin, aber sie ist keine linke Partei. Im Grunde haben wir es mit einer national-etatistischen Formation zu tun, die zahlreiche unter Beschuß geratene Aspekte der sowjetischen Vergangenheit „rehabilitieren“ möchte, nicht jedoch eine Wirtschaft ohne Markt, nicht die vollständige Verstaatlichung, ja nicht einmal das Einparteiensystem. Sie spricht in vagen Formulierungen von einer „Restauration“ der Sowjetunion, aber der wichtigste Punkt auf ihrer Tagesordnung ist dies augenscheinlich nicht.

So ließen sich noch viele andere Tendenzen und Ideen aufzählen, die sich in Rußland Gehör zu verschaffen suchen. Aber das eigentliche Problem liegt woanders: Eine das Volk einigende Nationalidee kann nicht das Werk von Agitprop- Spezialisten oder Public-Relations-Experten sein. Nationale Identität, Patriotismus – die nationalen Eigenheiten eines Landes ebenso wie seine Kultur sind ein bunt zusammengewürfeltes Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung, das sich unter dem Einfluß innerer und äußerer Faktoren ständig verändert. Allein die Tatsache, daß sich die vom Präsidenten eingesetzte Kommission unter vielen Vorschlägen schließlich für eine Nationalhymne ohne Text entschied, zeigt auf spektakuläre Weise, daß der König nackt und sein kleptokratisches Regime unfähig ist, das Land zu einigen und zu führen.

Gibt es Kräfte „an der Basis“ – in den Stadtteilen und Provinzen, in den Unternehmen und Schulen, nicht zu vergessen die Intelligenzija –, die diesen pessimistischen Befund widerlegen und ein neues System schaffen könnten? Die Antwort hängt zunächst vom Aktivwerden fähiger Führungspersönlichkeiten ab – denn an diesen mangelt es eigentlich nicht. Was fehlt, ist der „zündende Funke“, der Antrieb, eine Hoffnung, ein vernünftiges und klares Programm für die unmittelbare Zukunft.

So absurd es ist, vorhersagen zu wollen, wer oder was das Signal zum Aufbruch geben könnte, so unsinnig wäre es, diese Möglichkeit von vornherein auszuschließen. Eine glaubwürdige Zentralregierung, eine fruchtbare, vielversprechende und nachahmenswerte Erfahrung in einer der Provinzen oder das Auftreten patenter und ehrlicher Politiker würde genügen, um die Menschen zu politischem Handeln zu bewegen. Unmöglich ist hier nichts: Eine schwere Krise kann demoralisieren, sie kann die Menschen aber auch in Bewegung setzen.

Dies beweisen die zahlreichen sozialen und politischen Bewegungen zur Zeit der Perestroika. Die Begeisterung und Lernfähigkeit, die breite Bevölkerungsschichten bei den ersten Erfahrungen mit Wahlen an den Tag legten, widerlegt die Ansicht, die russische Bevölkerung sei unfähig zur Demokratie. Aber diese positiven Phänomene blieben beim Gewaltmarsch zum „Markt“ auf der Strecke. Einstweilen ist die Situation ziemlich festgefahren und Optimismus, auch Zweckoptimismus, fehl am Platz. Die Politik zieht die Jugend offenbar in keiner Weise an, ein mehr als alarmierendes Symptom. Die Demokratiefeindlichkeit, die dem politischen Aktivismus das Wasser abgräbt, resultiert in erster Linie aus der Krise einer vorgeblich demokratischen politischen Praxis. In jedem Fall wird es Rußland ohne eine Beteiligung der Massen am politischen Leben nicht gelingen, seine Dämonen zu verjagen.

Allein die Tatsache, daß dies mißlingen könnte, zeigt zur Genüge, wie schwer Rußland an der Last seiner Geschichte trägt. Diese Last zeigt sich zunächst einmal in der ungeheuren Diskrepanz zwischen den anstehenden Aufgaben und den zur Verfügung stehenden Mitteln. So liegt etwa die Verwaltung des riesigen Territoriums in den Händen kompetenzschwacher Behörden. Den daraus sich ergebenden zentrifugalen Kräften versucht man durch eine verstärkte Zentralisation der staatlichen Machtbefugnisse entgegenzuwirken, mit der Folge einer tendenziellen Hypertrophie des Zentrums. Dies wiederum führt zu einem weiteren Machtzuwachs der Regierung, was für das Land nur schädlich sein kann.

Denn wenn sich der Staat der demokratischen Kontrolle entzieht, wird der ansonsten unerläßliche Regulator für die Gesellschaft zur Last, wandelt sich gar zum Parasiten. Entwicklungsblockaden und ein Rückfall ins Stadium der Unterentwicklung sind dann nicht mehr weit. Im Gefolge neigen Gesellschaft und Staat dazu, ihr Handeln am Modell einer extensiven, quantitativen Entwicklung auszurichten, anstatt eine Politik der intensiven, qualitativen und also neuerungsträchtigen Entwicklung zu verfolgen.

Der Historiker gewinnt den Eindruck, als würde Rußland immer wieder denselben Klassiker durchspielen: In jeweils neuem Gewand trägt das Land noch immer schwer an seiner alten Last. Der Zarismus ging an Erschöpfung zugrunde. Dasselbe gilt für die provisorische Regierung und die folgende Regierung der Partei Lenins, die sich den inneren Attacken einer ganz speziellen Art von Etatisten nicht gewachsen zeigte. Und unter erheblich veränderten Bedingungen traf dieses Schicksal schließlich auch das poststalinistische Regime: Trotz spektakulärer Erfolge (Raumfahrt, Naturwissenschaft, Bildung usw.) konnte es besagte Last nicht abwerfen.

Erneut zeigte die Medaille ihre Kehrseite. Auch dieser Staat, der die Modernisierung des Landes mit aller Brutalität vorantrieb, verwandelte sich in ein parasitäres Geschwür, dessen hypertrophiertes, aber in sich zerfressenes Zentrum sich schließlich geschlagen gab und wie sein zaristischer Vorgänger unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrach. Manche Beobachter prophezeiten das Gegenteil, doch es war nicht die Peripherie, die dem Zentrum den Garaus machte, sondern es war das Ende des Zentrums, das den Nomenklaturen der Einzelrepubliken die Möglichkeit eröffnete, sich vom Zentrum loszusagen.

So scheint Rußland trotz enormer Anstrengungen und Kosten wieder einmal den Anschluß verpaßt zu haben und setzt seinen Weg nach unten fort. Ob die neue Regierung in der Lage sein wird, diesen Prozeß umzukehren?

dt. Bodo Schulze

* Historiker, Autor u. a. von „Gorbatschows neue Politik. Die reformierte Realität und die Wirklichkeit der Reformen“, aus dem Engl. v. Hans Günther Holl, Frankfurt/Main (Fischer Tb.) 1988.

Fußnoten: 1 Nach dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1921 gibt Lenin die Wirtschaftspolitik des „Kriegskommunismus“ auf und redet einer teilweisen Rückkehr zur Marktwirtschaft das Wort. Ziel der Neuen Ökonomischen Politik ist der Wiederaufbau der industriellen Infrastruktur und eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Bauern, Arbeitern und Mittelschichten. Kompetente Fachleute und Techniker, die ihre Ausbildung noch unter dem alten Regime absolviert hatten, werden in großer Zahl wieder eingestellt. Im Jahr 1927 erreicht die Produktion der UdSSR wieder den Vorkriegsstand. 2 Die Charakterisierung der Breschnew-Ära als „Periode der Stagnation“ kam zur Regierungszeit von Michail Gorbatschow auf.

Le Monde diplomatique vom 13.11.1998, von MOSHE LEWIN