13.11.1998

Das Schweigen der Intellektuellen

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Das Schweigen der Intellektuellen

LEO TOLSTOI, Wladimir Majakowski, Maxim Gorki, Ilja Ehrenburg, Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow – immer in der Geschichte Rußlands, von der Zarenzeit bis zum Ende des Staatssozialismus, während der Oktoberrevolution ebenso wie in den dunkelsten Zeiten des Stalinismus, haben sich die Intellektuellen zu Wort gemeldet. Nicht selten hatten sie entscheidenden Einfluß. Ihr Schweigen nach dem Untergang der Sowjetunion und dem Übergang zur Marktwirtschaft ist daher heute um so vernehmlicher. Neben der materiellen Verschlechterung ihrer Lage gibt es noch eine andere Last: die Verachtung des Politischen, die noch aus der Zeit des alten Regimes stammt. Aber etwas tut sich doch.

Von CLAUDE FRIOUX *

In Rußland ist ein Dichter noch mehr als ein Dichter, sagt ein bekannter Spruch. In den Zeiten des Schreckens durfte ein Graf Tolstoi es wagen, seine Stimme zu erheben. Der ideologische Konformismus der Sowjetära verstärkte diese Tendenz. Von Boris Pasternak bis Alexander Solschenizyn – es waren Romane und Gedichte, in denen die schärfste Anklage gegen das Regime stattfinden konnte. Eine zahlreiche Gruppe von Schriftstellern und Kritikern, an vorderster Front die Mitarbeiter der Monatszeitschrift Novyi Mir, wirkten mit ihren Werken auf das Ende des Totalitarismus hin und gaben der Perestroika Schützenhilfe. Wladimir Dudinzew, Boris Mojaew, Wassilij Grossman, Andrej Sinjawski und viele andere zerrten die Tragödien des Stalinismus in ihren mehr oder weniger im Untergrund erschienenen Werken ans Licht der Öffentlichkeit.

Michail Gorbatschow bemühte sich, dieses kritische Potential für das neue Regime zu gewinnen. Er plazierte die Kritiker an den Schalthebeln der wichtigsten Zeitschriften und ebnete ihnen den Weg ins erste gewählte Parlament, wo alles, was im Protestmilieu Rang und Namen besaß, vertreten war, allen voran Andrej Sacharow. Gorbatschow hoffte, mit Hilfe dieser Elite ein Gesetzesbündel zu schnüren, um den Grundstein zum Rechtsstaat zu legen. Aber er hatte die Rechnung ohne die nationalistische Aufbruchsstimmung im Land gemacht, die zahlreiche Intellektuelle in kleineren Orten in ihren Bann zog.

Der Aufstieg von Boris Jelzin tat ein übriges. Ein Gutteil der Intellektuellen war über Gorbatschows Hinhaltetaktik verärgert. Der Eindruck, man sei von den anderen Ethnien der Union ausgebeutet worden, verschaffte dem großrussischen Nationalismus weitere Nahrung. Ein pathologischer Rückfall in den Persönlichkeitskult war die Folge. Von hysterischem Antikommunismus umgetrieben, verkannten viele Intellektuelle den Ultraliberalismus, den Jelzin mit aller Radikalität einzuführen versprach, als das unmittelbar bevorstehende Schlaraffenland.

Jelzin konnte von dem positiven Licht, in welchem er nach dem Putschversuch von 1991 stand (eine bis heute äußerst dunkle Angelegenheit), noch eine ganze Weile zehren; dies federte den Schock ein wenig ab, den die Schießerei im Abgeordnetenhaus 1993 und der damit zu Tage tretende Neototalitarismus des Präsidenten auslöste. Damals appellierten Andrej Sinjawski und Wladmir Maximow, zwei führende Dissidenten der ehemaligen Sowjetunion, an Zar Boris, er möge sich umgehend entschuldigen, aber das war eher die Ausnahme. Denn zur gleichen Zeit forderte eine Reihe namhafter Schriftsteller, darunter Bella Achmadulina, Dimitrij Lichatschow und Bulat Okudschawa, in einem Aufruf, dessen Ton die haßerfüllte Speichelleckerei des Jahres 1937 wiederaufleben ließ, alle kommunistischen Aktivitäten seien radikal zu unterdrücken.1

Die Intellektuellen, zumal die Künstler, legten nun ein Gebaren an den Tag, das einen sprachlos macht. Während das Land sich „dollarisierte“ und verarmte, ließen sie nichts unversucht, um sich für die Mischung aus Privilegien und Zwang zu entschädigen, in die sie das sowjetische Regime eingesperrt hatte. Sie hegen ein blindes Vertrauen in die Wohltaten des kulturellen Liberalismus. Zumal Rußland nach der Wende in Mode kam. Man reiste herum, unterzeichnete einträgliche Verträge, gefiel sich in Starallüren, öffnete Bankkonten in Paris oder München und fühlte sich den westeuropäischen Eliten ebenbürtig. Gestern noch im Halbdunkel der Staatsmaschinerie verborgen, traten Gestalten ins Rampenlicht, deren Werke alles andere als eine Offenbarung sind.

Ungelenk wie nur Monsieur Jourdain in Molières Komödie „Der Bürger als Edelmann“ äffte das Literaten- und Künstlermilieu Europa und Amerika nach. Die „Werkpräsentationen“ mit Cocktailparty, Smoking, Champagner und Abendkleid stiegen den von Haus aus sehr kleinbürgerlichen russischen Schriftstellern sichtlich zu Kopf. Dem Image von Präsident Jelzin konnten diese paradiesischen Intermezzi nur nützen, zumal die plumpe Geldgier seines politischen Apparats die Nachsicht ebendieser Intellektuellen fand. Das Hofschranzentum aus der Zeit des Persönlichkeitskults feierte fröhliche Urständ. Dieses neue geistige Klima paßte zu dem aus zweifelhaften Quellen stammendenden Reichtum und der auftrumpfenden Prasserei, die in den Kreisen der Machthaber gang und gäbe waren und sind.

Auch die aus Sowjetzeiten stammende Gewohnheit, nichts anzuzweifeln und keinen politischen Gedanken zu artikulieren, machte wieder die Runde. Zar Boris war ihnen so etwas wie der Mann der Vorsehung: Er sorgte für volle Kaufhäuser und verhinderte die Rückkehr der „Roten“ – eine fixe Idee vieler Intellektueller, auch wenn sie, abgesehen von den Dissidenten, oftmals im Sozialismus zu den Privilegierten gehört hatten. Rückblickend offenbart diese Zeit der falschen Eilfertigkeit die Haltlosigkeit einer Gruppe, die einst der Nation als Zufluchtsort des Mutes gedient hatte.

Das Erwachen war hart und zeigte, daß sich nicht jeder so frei wie ein Nabokov aus der Affäre ziehen kann. Rußlands Markenimage bröckelte im selben Maß, wie der Staat ausgeplündert wurde. Der Staat und die russische Kultur. Ausländische Verleger verloren das Interesse und fühlten sich von russischen Autoren vor den Kopf gestoßen, die in ihrer Geldgier und sowjetisch anerzogenen Rüpelhaftigkeit fähig waren, die weltweiten Rechte an einem Werk gleich zwei Verlagen zu verkaufen. In Rußland selbst fiel das halbstaatliche Verlagswesen der lustvollen Raserei unzähliger ehemaliger Staatsbeamter zum Opfer, die sich mit den konfiszierten Mitteln zu Privatverlegern aufschwangen und auf den Markt warfen, was der Markt begehrte: Pornographie und Kriminalromane.

Zwar wird auch noch Intelligentes unterstützt, doch nur noch in homöopathischen Dosen, die keinen Vergleich aushalten mit dem, was der Buchmarkt bei allen Auswüchsen zu Sowjetzeiten darstellte. Entgegen naiver Erwartung entsteht ein Verlag wie Gallimard nicht über Nacht im Spekulationsfieber. Die Auflage der berühmten „großen Zeitschriften“, in denen viele Schriftsteller ihr Erstlingswerk veröffentlichten, rutschte von einigen Millionen auf wenige tausend Exemplare hinab. Berühmte Buchhandlungen verkaufen nebenbei allen möglichen Trödel, und fast alle Kinos wurden in Kasinos umgewidmet. Die Intellektuellen, die im goldenen Käfig des Staatssozialismus ziemlich gut lebten, leiden nun unter tragischem Geldmangel.

Gestern noch eilten sie dank ihrer Dollarbankkonten quer durch Europa, heute müssen sie demütig um jede Einladung, um jeden Stempel, um jedes Flugticket betteln. An die Stelle des Eisernen Vorhangs ist der papierene des Geldes getreten. Die aktuelle Finanzkrise hat diese Entwicklung nur weiter verstärkt. Diese ungeheure Zerrüttung, die aus einer Fabel von Bulgakow stammen könnte, demoralisiert nachhaltiger als der endemische Mangel zu Sowjetzeiten. Eine Illusion geht zu Bruch, und eine Enttäuschung hebt an, weit grausamer als alle bisherigen, die nicht wie die derzeitige von einer Entlassungswelle begleitet waren, denn dieser Wirtschaftszweig duldet, anders als die großen Industrieunternehmen, keine versteckte Arbeitslosigkeit.

Die Intellektuellen, die heute voll und ganz von der Sorge um ihr materielles Überleben absorbiert, von lähmender Angst durchzufallen heimgesucht und angesichts der Mafiavisage der Machthaber eingeschüchtert sind, diese Intellektuellen wollen von Politik nichts mehr wissen. Die zwiefache Überdosis von Sowjetkommunismus und nachfolgendem Liberalismus hat sie gegen derlei Anwandlungen endgültig immunisiert. Irgendwo keimt in ihnen erneut jene Verachtung für alles politische Cliquenwesen, die das Sowjetregime ihnen eingeflößt hat. Was kümmern sie noch die lebenswichtigen Fragen eines Gemeinwesens, das längst den Grund des Abgrunds erreicht hat? Die glücklicheren unter ihnen reisen heute zwischen ihren beiden festen Wohnsitzen (der eine in Rußland, der zweite im Ausland) hin und her; die glückloseren verbringen ihre Zeit mit Warten auf eine mildtätige Einladung.

Sie, die einstmals als die leuchtenden Häfen der Würde fungierten, haben sich in einer amorphen Masse aufgelöst, deren spöttische Gleichgültigkeit und völlige Vereinnahmung von Subsistenzsorgen die Beobachter mit einem Anflug von Verachtung immer wieder herausstreichen. Äußerlich mag dieser Abgang an Leo Tolstois Rückzug auf Jasnaja Poljana erinnern, doch von Größe ist hier keine Spur. Die letzte bedeutsame politische Äußerung eines russischen Intellektuellen von Format stammte von Andrej Sinjawski2 . Er erläuterte in der internationalen Presse, warum Boris Jelzin das größte Übel ist, und unterstützte anschließend den Wahlkampf von Michail Gorbatschow.

Warten auf das russische Wunder

AUF den Datschen, auf die man sich zurückgezogen hat, um Ausländern die Stadtwohnung zu vermieten, spricht man nur noch über Blumen- und Gemüsebeete, die eigenen Haustiere und Parapsychologie, ohne sich auch nur einen Augenblick zu fragen, warum man sich von Jelzin derart hat an der Nase herumführen lassen; und obendrein glaubte, die schicken Läden würden wie in Paris oder Berlin von Dauer sein, was angesichts der Zerrüttung von Staat, Wirtschaft, Bürgersinn und Rubel nur durch irgendein russisches Wunder möglich gewesen wäre.

Unter Verzicht auf jede staatsbürgerliche Gesinnung ertränkt die Intelligenzija ihr schlechtes Gewissen in Werken von einer Schwarzseherei, der die derzeitige Lage Rußlands nur noch zum Vorwand dient, um ein absolut hoffnungsloses Menschenbild an die Wand zu malen, wie die letzten Filme von Kira Muratowa beispielhaft zeigen. Der Dichter Andrej Wosnessenski hat den Sturm als einer der wenigen mit Würde und Talent überstanden: Er versteht es noch immer, die Arbeit an der Form, sein dramatisches Gespür für die Zeitumstände und sein unabhängiges Urteilsvermögen in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, und er beweist dabei eine glückliche Hand, die beharrlich von sich reden macht.

Sichtbar sind die Intellektuellen einzig in der sogenannten nationalistischen Opposition (Wassilij Below, Walentin Rasputin und die Zeitschrift Unser Zeitgenosse). Nikita Michalkow, bekannt für seine Schaffenskraft und seinen Opportunismus, nahm sich vor kurzem eines anderen Bereichs an: Zahlreiche talentierte Filmemacher können ihre Ideen nicht verwirklichen, weil das Geld fehlt. Autoritär wie man ihn kennt, will Michalkow mit Staatsgeldern erneut so etwas wie die ehemalige Union der Filmemacher organisieren, damit der zeitgenössische russische Film nicht sang- und klanglos untergeht.

Untergründig, aber beharrlich zeigen die gebildeten Schichten des Landes, daß sie sich nicht in ihr Elend fügen wollen. Was von den literarischen Wochen- und Monatszeitschriften noch übrig ist, in denen sich die russische Kultur im 20. Jahrhundert entfaltet hat, versucht sich wie die Literaturnaja Gaseta, die damit viel Staub aufgewirbelt hat, als Buchverlag zu etablieren. Einige Verlagshäuser, darunter Vagrius, suchen ihr Programm noch immer nach qualitativen Gesichtspunkten zu gestalten, aber die Neuerscheinungen erreichen nur winzige Auflagen, und von einem wirklichen Vertriebsnetz kann eigentlich keine Rede sein.

Viele Forscher, viele leitende Angestellte in der Industrie und lokalen Verwaltung gehen trotz unregelmäßiger Gehaltszahlungen weiterhin ihrer Arbeit nach und beißen die Zähne zusammen. Die Universitätsdozenten, die von der Regierung ebenfalls im Stich gelassen werden, haben sich angesichts einer drohenden Privatisierung mehrheitlich dazu entschlossen, den staatlichen Lehrbetrieb aufrechtzuerhalten. Eine Zeitlang werden diese Keime eines möglichen Neubeginns überleben können; doch die Stille, in der sich all dies vollzieht, ist bedrückend, und die Energie, die daraus spricht, wohl eher eine Macht der Verzweiflung.

Um eine gelungene Formulierung von Georges Nivat3 aufzugreifen: Eine Facette des „russischen Mythos“ stirbt ab. Müde, ernüchtert und unangepaßt wollen die Berufsintellektuellen nicht länger das Gewissen der Nation sein. Wer möchte dieser romantischen Exotik nachtrauern? Nur gut, daß gleichzeitig für Ausgleich gesorgt ist, namentlich in Gestalt einer neuen Intellektuellengruppe, die mit der Liberalisierung des Pressewesens in Erscheinung trat: die Journalisten.

Nicht wenige der Journalisten, die unter dem alten Regime auf eine elende Lakaienrolle reduziert waren, arbeiten heute mit bemerkenswerter Professionalität – in den traditionellen Zeitungen Iswestija und Komsomolskaja Prawda ebenso wie in den neugegründeten Nesawissimaja Gaseta oder Kommersant. Trotz einiger marktschreierischer Schattenseiten zeichnet sich der russische Journalismus durch ein außergewöhnlich hohes Qualitätsniveau aus. Daß die Finanzierung in den Händen von drei oder vier Bankkonsortien liegt, tut der scharfsinnigen und frechen Berichterstattung vorerst keinen Abbruch. Vor allem aber besitzt der russische Journalismus einige brillante Federn.

In den Journalismus hat sich das couragierte und auch risikobereite Engagement der Intellektuellen also gerettet. Welche Schockwirkung von manchen Reportagen ausgeht, zeigt eine aufsehenerregende Mordserie, der unter anderem auch Wladislaw Listjew zum Opfer fiel. Das Martyrologium der engagierten Intellektuellen schreibt heute nicht mehr der Gulag, sondern die Straße. Ein Leitartikler, der wie Witali Tretjakow das Ohr am Puls der Zeit hat, besitzt das Format und die Professionalität eines herausragenden zeitgenössischen Schriftstellers. Wirklich schade, daß die internationale Presse, die Rußlandspezialisten und Diplomaten, aus Nachlässigkeit oder Dünkel offenbar kaum russische Zeitungen lesen. Seit langem schon konnte man dort über die verheerenden Zustände lesen, die man angeblich erst heute entdeckt: Wer auch immer im Börsenchaos nach dem russischen Finanzkrach Geld verliert, könnte legitimerweise Rechenschaft verlangen.

Ein Wort noch zur politischen Klasse im engeren Sinn, die wegen ihrer Unreife, mangelnden Bildung und Korruptionsanfälligkeit als Ganze und in vielen Fällen berechtigterweise verschrien ist. Berufsintellektuelle verschiedenster Couleur finden sich hier. Da ist Anatoli Sobtschak, Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät von Leningrad, der sich nach seinem kometenhaften Aufstieg wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder derzeit auf der Flucht befindet. Daneben eine Reihe origineller, talentierter und couragierter Ökonomen und Politologen, die einiges mehr drauf haben als der kleine Marxismus-Leninismus-Professor und Wendehals Jegor Gaidar. So zum Beispiel Grigorij Jawlinski, der die Mitte-links-Gruppe im Parlament führt, oder der neue Ministerpräsident Jewgenij Primakow, ein mehrsprachiger Orientalist, ehemals Kopf der russischen Politikwissenschaft, bevor er den KGB leitete und sein Ministeramt mit Besonnenheit und Diplomatie ausübte. Man kann nur bedauern, daß der schlichte Überdruß des russischen Parlaments angesichts des Gestanks der natürlichen Gase, die das Machtzentrum seit Jahren verströmt, als kommunistischer Gewaltstreich ausgegeben wird.

Bis sich Präsident Clinton nun doch eines besseren zu besinnen scheint, verlautete aus den Staatskanzleien der westlichen Welt mit nervtötender Eintönigkeit, nur Boris Jelzin könne das Chaos verhindern, wo doch gerade Jelzin mit seinen konfusen Ideen, seinem Zynismus und seiner Inkompetenz einer der Hauptverantwortlichen der derzeitigen chaotischen Zustände ist. Nun zeichnen sich seit kurzem vielversprechende Alternativen ab. Ein Teil der Intelligenzija ist durchaus qualifiziert, die Staatsführung zu übernehmen und mit dem dogmatischen Liberalismus aufzuräumen, der anachronistischer ist als alle Diamats4 zusammen.

Daß die Intellektuellen nicht mehr über die Lager oder eine Art Katakombenliteratur in die Politik gehen, ist ein Ereignis von erheblicher Tragweite, das man angesichts des derzeitigen Finanzwirbels nicht übersehen sollte. Ihnen ist es zu danken, daß die bösartigen Geierfalken aus Jelzin- Zeiten in alle Winde zerstieben. Und sie könnten ein Potential in den Sattel heben, das die Hauptmerkmale der großen russischen Kultur trägt, die mit ihren Eliten genauso fähig ist wie jede andere, die heutige Krise zu bewältigen. Vorausgesetzt, man behandelt Rußland nicht weiterhin wie eine Bananenrepublik. Ansonsten besteht auf lange Sicht die Gefahr, daß Rußland von einer Welle des Fremdenhasses erfaßt wird, dessen Folgewirkungen wir fürchten sollten.

dt. Bodo Schulze

* Professor an der Universität Paris-VIII, Verfasser zahlreicher Bücher über Rußland, darunter ein Beitrag zum Sammelband „L‘URSS et nous“, Paris (Editions sociales) 1978.

Fußnoten: 1 Im Anschluß an die Ermordung des Leningrader Parteisekretärs Sergej Kirow Ende 1934 fielen den Massensäuberungen in den Jahren 1936 bis 1939 mehrere Millionen Menschen zum Opfer; ein Großteil kam zu Tode. Im Mittelpunkt standen eine Reihe großer Schauprozesse und der Beginn des Stalinkults. Im Januar 1937 „rechtfertigte“ Stalin die Repression vor dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei mit der Behauptung, je weiter der Aufbau des Sozialismus voranschreite, desto härter werde der Klassenkampf. 2 Andrej Sinjawski und sein Freund, der Dichter und Übersetzer Juli Daniel, wurden 1966 zu sieben und fünf Jahren Lager verurteilt, weil sie in ihren illegal im Ausland veröffentlichten Werken „das Regime verunglimpfen und die Macht des sowjetischen Staats untergraben“. Dieser Urteilsspruch löste bei den Intellektuellen weltweit heftigen Protest aus, darunter auch den des Schriftstellers Louis Aragon, durch dessen Stimme die Kommunistische Partei Frankreichs erstmals auf Distanz ging zur Unterdrückung der sowjetischen Dissidenten. 3 Mitverfasser der fünfbändigen „Histoire de la littérature russe“, Paris (Fayard) 1987. 4 Abkürzung für „Dialektischer Materialismus“.

Le Monde diplomatique vom 13.11.1998, von CLAUDE FRIOUX