Irrungen und Wirrungen der europäischen Agrarpolitik
BIS zum Frühjahr 1999 werden sich die fünfzehn EU-Mitgliedstaaten über die Reform der EU-Agrarpolitik einigen müssen. Mit der „Agenda 2000“ steht ein Vorschlag der Europäischen Kommission im Raum. Werden wieder einmal die Interessen der Großanbauer von der Agenda profitieren, wird erneut ein umwelt- und arbeitsmarktfeindlicher Produktivismus siegen? Wird einmal mehr das Recht der Völker auf Selbstversorgung gefährdet und eine entsprechende Protektionspolitik verworfen? Oder werden diesmal Prinzipien des Umweltschutzes zur Geltung kommen und kleinere Höfe bevorzugt werden? Der Vorschlag der Kommission setzt auf das Agrobusiness. Bleibt die Frage, ob es den Sozialisten aller Länder gelingt, den neoliberalen Vorstoß zu stoppen.
Von JACQUES BERTHELOT *
Die EU-Agrarpolitik (GAP) steht derzeit vor einer Neubestimmung. Diese Herausforderung ist noch grundsätzlicher als die der Reform von 1992, die dem Abschluß der Uruguay-Runde des allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) von 1993 vorangegangen war. Die Bauern, die mit ihrem Einkommensanstieg der letzten sechs Jahre zufrieden sein können, protestieren noch recht verhalten gegen die von der EU-Kommission im Rahmen der Agenda 20001 anvisierten Pläne, die im Hinblick auf die Erweiterung der EU um die Länder Mittel- und Osteuropas (MOE) auch eine Reform der Strukturfonds vorsehen.2
Aus Brüsseler Sicht stellen sich drei Hauptaufgaben: Erstens geht es darum, den Anteil der GAP (gegenwärtig 50 Prozent) an den Ausgaben des EU-Haushalts zu stabilisieren oder gar zu senken, für dessen Einnahmenseite bis zum Jahr 2006 eine Eigenmittelobergrenze von 1,27 Prozent des BSP der fünfzehn Mitgliedstaaten vorgesehen ist. Zweitens muß der Beitritt der fünf MOE-Staaten (Estland, Ungarn, Polen, Tschechien und Slowenien) bewältigt werden, der für 2002 ins Auge gefaßt ist. Drittens steht angesichts der zunehmenden Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen innerhalb der vom Gatt 1995 begründeten Welthandelsorganisation WTO bis Ende 1999 eine neue Verhandlungsrunde an. Die USA wollen diesen Zeitplan aus einer Position der Stärke heraus durchsetzen, wobei sie inhaltlich den weiteren Abbau von protektionistischen Maßnahmen innerhalb der GAP fordern. Von der Haltung der EU hängt also nicht nur das Schicksal der europäischen Agrarwirtschaft ab, sondern auch – weil sie allein die Forderungen aus Washington abwehren kann – die Zukunft der weltweiten Agrarpolitik.3
Die intendierten Änderungen betreffen im wesentlichen die Senkung der garantierten Mindestpreise (der sogenannten Interventionspreise) um 20 Prozent bei Getreide, um 30 Prozent bei Rindfleisch und um 15 Prozent bei Milch, um sie den Weltmarktpreisen anzupassen, die angeblich mit jenen der MOE-Beitrittsstaaten identisch sind. Für die EU-Bauern werden dann keine Exportbeschränkungen mehr gelten, da es keine Ausfuhrsubventionen mehr geben wird; künftig werden sich die „Einkommenserstattungen“, die das Preisgefälle zwischen EU- und Weltmarkt ausgleichen, an den Obergrenzen orientieren, die 1993 im Rahmen des Gatt-Abkommens festgesetzt wurden.4
Dafür sollen Direktbeihilfen, die von der Produktion entkoppelt sind, stabile Agrareinkommen gewährleisten. Diese Beihilfen sind an die Erfüllung von Umweltkriterien gebunden und werden zudem kontinuierlich verringert. 15 bis 20 Prozent dieser Subventionen sollen von den einzelnen Staaten bestritten werden, in Frankreich würden sie zum Teil über den „Contrat territorial d'exploitation“ finanziert, den Hauptpfeiler des neuen Agrargesetzes, das soeben im Parlament in erster Lesung verhandelt wurde.
Die Agenda 2000 reagiert in ihren Leitlinien zur Reform der GAP auf die Forderungen der USA und der in der sogenannten Cairns-Gruppe zusammengeschlossenen Länder5 , indem sie die Ausgleichszahlungen senkt. Das ist zwar positiv zu bewerten, zugleich wird damit aber auch ein Mechanismus der Importprotektion abgeschafft, was alles andere als positiv ist. Schlimmer noch: Trotz ihres Bekenntnisses zum Umweltschutz und zum Erhalt von Arbeitsplätzen könnte diese Agenda 2000 die Agrarpolitik der EU und der übrigen Welt in eine Sackgasse manövrieren, da sie sich auf einige Fehlannahmen stützt (die von der französischen Regierung teilweise angeprangert wurden), die von der ultraliberalen Rhetorik der OECD inspiriert sind. Die schwört darauf, daß nur durch „die Umstrukturierung der Landwirtschaft“ und die „schrittweise Verringerung der Wettbewerbsverzerrung“ die „Marktsignale sich auf die Produktion auswirken (...)“, was „zu einer besseren Allokation der Mittel zum Nutzen der Konsumenten“6 führen werde.
Die bereits in der Diagnose enthaltenen Fehlannahmen – langfristig wachsende Absatzmärkte in Drittländern, Agrarpreisniveau der MOE-Staaten etwa auf Höhe der Weltmarktpreise – führen automatisch zu falschen Versprechungen und zu Maßnahmen, die sich für die EU wie für die MOE-Staaten und die Länder der südlichen Hemisphäre fatal auswirken dürften. Tatsächlich erlaubt die Senkung der Interventionspreise weder Agrarexporte ohne Ausgleichszahlungen, noch dient sie dem Interesse der Konsumenten, auch ermöglicht sie keine effizientere Anpassung an die Marktsignale. Auch Direktbeihilfen werden die Preiseinbußen keineswegs abfangen und für eine gerechtere Einkommensverteilung sorgen können; im Gegenteil werden sie als sehr ungerechter Protektionsmechanismus gegenüber den Ländern des Südens wirken. Darüber hinaus kann sich diese ganze Reform aufgrund ihrer Widersprüche zwischen Zielen und Mitteln nur negativ auf den Arbeitsmarkt und die Umwelt auswirken.
Der erste diagnostische Irrtum: Nichts weist darauf hin, daß in den Drittländern kurz- oder langfristig bedeutende Absatzmärkte entstehen. Die Kommission stößt in dasselbe Horn wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und die Weltbank, die allein für den Süden Getreideimporte bis 2010 zwischen 160 und 210 Millionen Tonnen prognostizieren, und behauptet einen „breiten Konsens darüber (...), daß mit einem starken Anstieg der Nachfrage wie des Preisniveaus zu rechnen ist“7 . Eine Prognose lautet etwa, der Weltmarkt für Rindfleisch werde zwischen 1990 und 2020 um das Dreifache wachsen, der für Geflügel sogar noch stärker. Es ist freilich kaum zu erwarten, daß die EU – und insbesondere Frankreich als weltweit größter Nahrungsmittelexporteur und zweitgrößter Exporteur von Agrarprodukten – anderen Ländern die zu erwartenden Arbeitsplätze und Einkommen überlassen werden.
Dieselben „Fachleute“ prognostizierten bereits 1980, als sich die Getreideimporte auf dem Weltmarkt auf 200 Millionen Tonnen beliefen, für die Zeit von 1995 bis 2000 einen Anstieg von 268 auf 422 Millionen Tonnen. Tatsächlich sind die Importe aber für 1996 auf 185 Millionen Tonnen zurückgegangen! China, Indien, Indonesien ... sind inzwischen Selbstversorger. Zwischen 1975 und 1997 konnte China seine Getreideproduktion um das 2,4fache, seine Maisproduktion um das 8-fache steigern. China erzielt seit 1980 einen Getreide- und Nahrungsmittelüberschuß, während die EU 1996 ein Defizit (mit Ausnahme von Holz) von 17 Milliarden Dollar hatte. Auch Indien ist bei Getreide inwischen Selbstversorger, obwohl sich Bevölkerung wie Pro-Kopf-Bedarf seit 1960 verdoppelt haben.
Die Kommission hatte natürlich nicht mit der Krise der asiatischen Länder gerechnet, denen die OECD bis 2001 noch immer die Hälfte der Getreideimporte zuschreibt.8 Die Nahrungsmittelexporte des Westens sind 1997 bereits um 10 Prozent zurückgegangen; der Weltpreis für grannenfreien Weizen sank Ende August mit 80 bis 90 Dollar pro Tonne auf den tiefsten Stand seit zwanzig Jahren, die Getreideüberschüsse der EU wuchsen innerhalb eines Jahres von 2,4 Millionen auf über 13 Millionen Tonnen, der Europäische Rat mußte daraufhin die Flächenstillegungsquote für den Zeitraum 1998-99 von 5 auf 10 Prozent anheben, die Agenda 2000 senkt diese Quote auf 0 Prozent ab. Wo bleiben also die versprochenen fabelhaften Absatzmärkte?
Bäuerliche Betriebe gegen Nahrungsmittelkonzerne
DER zweite diagnostische Irrtum: Die Behauptung, die Agrarpreise der MOE-Staaten würden auf Weltmarktniveau liegen und ihre Konsumenten könnten sich die höheren EU-Garantiepreise nicht leisten. Im März 1998 lag der Getreidepreis in Polen um 15 Prozent über dem der EU. Ähnlich sieht es in den anderen MOE-Staaten aus, etwas weniger drastisch stellt sich die Lage in Ungarn und der Tschechischen Republik dar, obwohl auch dort die Agrarpreise 1997 über dem EU-Durchschnitt lagen. Und weil in diesen Ländern Probleme im Bereich von Transformation und Distribution existieren und die Inflation noch nicht beseitigt ist, haben die Konsumentenpreise in den MOE-Staaten das EU-Niveau erreicht bzw. sogar überflügelt.
Der uneingestandene Hauptgrund der oben genannten Reform liegt anderswo: Unter dem Vorwand, den Interessen der Konsumenten zu dienen, werden in Wirklichkeit die Nahrungsmittelkonzerne gefördert. Diese inzwischen global agierenden Konzerne können von abgesenkten Agrarpreisen nur profitieren. Dies ist einer der Punkte, auf den sich Franz Fischler, der EU-Kommissar für Agrarpolitik, in seiner Argumentation gegenüber dem Ministerrat stützt: „Wenn wir unsere Erzeugnisse nicht wettbewerbsfähiger machen (...), werden die Nahrungsmittelmultis nicht bloß anderswo einkaufen, sondern auch ihre Standorte (...) in Länder außerhalb der EU verlegen und ihre Produkte in der Europäischen Union absetzen.“9 Dem ist entgegenzuhalten: Wenn die Absatzmärkte fehlen, führt die Kombination von Produktionsüberschüssen und Rückführung von Protektionsmaßnahmen in der Realität nur zu strukturellen Preissenkungen.
Der dritte Fall von falscher Annahme betrifft die Senkung der Interventionspreise. Entgegen den Behauptungen in der Agenda 2000 begünstigt diese Senkung keineswegs die Konsumenten, wie man seit 1993 in Frankreich am Beispiel des Brotpreises und in der gesamten EU an der Entwicklung des Rindfleischpreises beobachten konnte. Sie ermöglicht es keineswegs, Agrarprodukte ohne Ausgleichszahlungen zu exportieren, wie es vor allem am Rindermarkt und beim Milchsektor ersichtlich wird, wo zwischen 1994 und 1996 die Erstattungsquoten von 61 auf 64 Prozent bzw. von 31 auf 36 Prozent angehoben wurden. Zu Recht hat der Wirtschafts- und Sozialausschuß betont, daß „die Erstattung (...) auf kurze und mittlere Sicht ein wesentlicher Faktor der Wettbewerbsfähigkeit bleiben wird (...)“10 . Die vorgeschlagene Senkung der Stützungspreise ermöglicht für die Produktion also keinesfalls eine flexiblere Reaktion auf die Marktsignale, die ohnehin großenteils auf lediglich mystischen Annahmen beruhen.
Die Signale, auf die die europäischen Produzenten tatsächlich reagieren sollten, sind nicht die Weltmarktpreise. Die sind in den internationalen Handelsbeziehungen ohnehin nur für einen sehr kleinen Teil der gesamten Weltproduktion bestimmend (zum Beispiel für 10 Prozent des Getreides, 6 Prozent der Milchproduktion, 9 Prozent der Fleischexporte) und unterliegen außerdem einem ungezügelten Preisdumping. Die Weltmarktpreise stellen um so weniger ein zuverlässiges Signal dar, als sich ihre bereits jetzt sehr hohe Instabilität mit dem Abbau protektionistischer Maßnahmen noch verstärken wird, was wiederum die Spekulation noch weiter anheizen dürfte. Die relevanten Signale sind hingegen die des EU-Binnenmarktes, auf dem gegenwärtig zu 80 Prozent Erzeugnisse der fünfzehn Mitgliedstaaten gehandelt werden. Diese Quote wird mit der Einführung des Euro, der Osterweiterung und der Senkung der Erstattungen noch ansteigen.
Die Preise sollen für die agrarische Nutzung der begünstigten Regionen ein angemessenes Einkommen – ohne wesentliche Direkthilfen – sichern; und zwar im Rahmen von Produktionsquoten, die auf den Bedarf der EU abgestimmt sind, der auch eine Reserve für dringende Nahrungsmittelhilfen umfaßt. Die Obergrenze dieser EU-Erzeugerpreise soll auf dem Niveau der Schwellenwerte für die entsprechenden Importprodukte liegen, das aber die nötigen unterschiedlichen Abschläge zu berücksichtigen hätte. Und all dies nicht etwa, um ein prinzipielles Importverbot zu bewirken, sondern um die Produktion der Grundnahrungsmittel sicherzustellen. Da die Erstattungen abgebaut werden und die Bauern nur das produzieren sollen, was der Markt erfordert, müßte die Intervention sich darauf beschränken, die Preisfluktuationen aufzufangen, dürfte also keinen uneingeschränkten Ankauf mehr gewährleisten. In diesem Sinne würden die Produzenten zusätzlich zu den Marktpreisen also lediglich Direktbeihilfen erhalten.
Der Schutz vor Landwirtschaftsimporten – also das Recht der Völker auf Selbstversorgung11 – ist nicht nur für die Europäische Union eine überzeugende Politik. Sie ist vielmehr für alle Länder oder gemeinsamen Märkte zwingend, und vor allem überall dort, wo die Mehrheit der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig ist, wo starke Klimaschwankungen herrschen und wo der strukturelle Wettbewerb nur schwach ausgeprägt ist. All dies gilt für Schwarzafrika, wo die heimische Nahrungsmittelproduktion sich der Dumping- Konkurrenz der EU-Überschüsse ausgesetzt sieht, vor allem auf dem Getreide- und Rindfleischsektor. So könnten etwa bis zu 50 Prozent der tropischen Produkte in die Brot- und Backwarenproduktion Eingang finden, was jedoch durch den anhaltend niedrigeren Preis von Importweizen verhindert wird. Ein anderes Beispiel: Der ab 1999 geltende Außentarif der sieben Mitgliedstaaten der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA) gewährt keine besondere Protektion für landwirtschaftliche Erzeugnisse (Zolltarif von 5 Prozent) oder Nahrungsmittel (20 Prozent, der gleiche Satz wie für industrielle Erzeugnisse); bezeichnenderweise wurden diese Tarifsätze, da es in diesen Ländern keine Bauernverbände gibt, von Beamten festgesetzt.
Wer weiß schon, daß das Gatt-Abkommen von 1993 den am wenigsten entwickelten Ländern untersagt, ihre Agrarsubventionen zu erhöhen, und die anderen Länder der südlichen Hemisphäre verpflichtet, das Subventionsnivau um 13 Prozent zu verringern? Daß diese Länder ihre Zolltarife um 24 Prozent senken müssen, während der Norden seine Exportsubventionen nur um 36 Prozent verringern muß. Damit sind Millionen von Bauern und Viehzüchtern zu einem langsamen Sterben verurteilt. Wenn die WTO ausnahmsweise einmal richtig handelt und alle Erstattungen abschaffen möchte, muß man bedauern, daß die EU sich zu diesem Punkt ausschweigt.
Das Europäische Parlament hat die Kommission im Juni 1998 ersucht, bei der WTO darauf hinzuwirken, daß „der Spielraum, der sich aus dem Abbau der Exportsubventionen ergibt, dazu genutzt werde, geeignete und wirksame, nach außen gerichtete Schutzmaßnahmen gegen Sozial- und Ökodumping zu treffen“. Damit liegt das Parlament auf der Linie der Confédération Paysanne, des einzigen französischen Bauernverbandes, der in erster Linie für eine tatsächlich „bäuerliche“ Landwirtschaft statt für die Interessen des Agrobusiness eintritt. Nach Ansicht dieses Verbandes könnte die „Beibehaltung der Präferenzpolitik als Gegengewicht zum totalen Abbau der Erstattungen (...) eine Strategie der Europäischen Union (...) gegenüber der WTO darstellen“12 .
Eine vierte Serie falscher Behauptungen bezieht sich auf die Rechtfertigung von Direktsubventionen. Die Kommission gibt zwar zu, daß diese Beihilfen nicht die Senkung der Interventionspreise um 50 Prozent bei Getreide, 85 Prozent bei Rindfleisch und 60 Prozent bei Milch ausgleichen werden, sie glaubt jedoch, die Einkommensverluste der Bauern würden durch die höheren Binnenpreise, durch Produktivitätssteigerungen und die Vergrößerung der Betriebe wettgemacht. Letztere Faktoren sind offensichtlich ein direktes Resultat der Unterstützungsleistungen, für die Preise dagegen gibt es eine solche Wirkung nicht: Die Getreidepreise sind unter den Interventionspreis gefallen. Jenseits dieser Konjunkturbewegungen sehen die Projektionen im EU-Bereich bis 2002 für die Großanbauer einen Einkommensrückgang von 22,5 Prozent voraus, für das Durchschnittseinkommen der französischen Landwirte hingegen eine Einbuße von 12 Prozent.13
Die direkten Beihilfen führen keineswegs zu einer gerechteren Einkommensverteilung. Die Steuerzahler stellen die Beihilfen daher zu Recht in Frage, zumal sie häufig über dem Nettoagrareinkommen liegen (1996 in Frankreich betrugen sie auf dem Rindfleischsektor 171 Prozent) und zudem sehr ungerecht verteilt sind: 1995 erhielten 4474 Betriebe von über 200 Hektar durchschnittlich je 725723 Franc gegenüber 9704 Franc für die 150000 Betriebe unter 10 Hektar. Tatsächlich kommen diese Hilfen in erster Linie den großen Produzenten im nördlichen EU-Bereich zugute. So machten die direkten Beihilfen 1995 in Portugal nur 17 Prozent des landwirtschaftlichen Bruttosozialprodukts (BSP) aus, bei einem EU- Durchschnitt von 21 Prozent. Diese Zahlen erklären übrigens teilweise, warum in Portugal das Defizit auf dem Nahrungsmittelsektor um 185 Prozent angewachsen ist und warum 26 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitsplätze zwischen 1990 und 1996 verlorengingen.
Der Vorschlag in der Agenda 2000, die einzelnen Regierungen sollten bis zu 30 Prozent der Subventionen in eigener Regie verteilen, dürfte dem Subsidiaritätsprinzip entsprechen. Doch muß man daraus nicht im Umkehrschluß folgern, daß alle Maßnahmen, die das Solidaritätsprinzip stärken, gemeinsam, also auf EU- Ebene angegangen werden müßten?
In einer EU, die mit der Einführung des Euro tatsächlich eine Union geworden ist, sollten der Erhalt der Arbeitsplätze und der Umweltschutz das Ziel gemeinsamer Anstrengungen sein. Es sollte also nicht, wie die Agenda 2000 vorsieht, jedem Staat freigestellt sein, „das von ihm gewünschte Gleichgewicht zwischen intensiver und extensiver Erzeugung festzulegen“. Da die Strukturfonds der EU verschiedene Entwicklungsniveaus und Regionen berücksichtigen, müßte man die direkten Subventionen für den Erhalt der Arbeitsplätze und den Schutz der Umwelt von der EU ebenfalls nach dem Kriterium der Dringlichkeit vergeben.
Noch allgemeiner gesagt, sollten diese Mittel so vergeben werden, wie es die oben zitierte Confédération Paysanne und André Pochon14 gefordert haben: Die Subventionen sind pro Hektar zu gewähren, wobei die Obergrenzen sich auf die jeweilige Anzahl der vollerwerbstätigen Arbeitskräfte, und nicht auf die Anbaufläche beziehen sollte, wie es die Agenda 2000 vorschlägt. Die Quote sollte umgekehrt proportional zur Betriebsgröße sein, und je verschieden nach der Region, der Bedeutung der Arbeitsplätze und relevanten Umweltschutzkriterien.
Völlig abwegig erscheint es, den Bauern der MOE-Staaten direkte Subventionen vorzuenthalten. An diesem Punkt wird argumentiert, es handele sich um Einkommensbeihilfen, und die will man ausgerechnet den Ärmsten vorenthalten! Und dies angesichts der Tatsache, daß der EU-Beitritt in diesen Ländern ein großes Bauernsterben zur Folge haben wird: Allein in Polen sollen 2 Millionen, also vier Fünftel aller Arbeitsplätze in der Landwirtschaft abgebaut werden. Auch die Strukturfonds werden nicht ausreichen, diese Personen wieder einzugliedern, zumal das dafür vorgesehene Budget im Verhältnis zum jeweiligen BIP nur ein Viertel der Mittel vorsieht, die von den vier Empfängerstaaten der EU (Spanien, Griechenland, Irland und Portugal) zwischen 1994 und 1999 aus dem Kohäsionsfonds bezogen wurden.
Die direkten Beihilfen stellen eine wettbewerbsverzerrende Maßnahme besonders gegenüber dem Süden dar, da sie nur von den westlichen Ländern gewährt werden. Die 154 Milliarden US-Dollar der Agrarbudgets (exklusive Verwaltungskosten und Sozialausgaben), die 1997 von den Steuerzahlern der OECD-Mitgliedsländer finanziert wurden15 , entsprechen dem BIP der 542 Millionen Einwohner Schwarzafrikas (ausgenommen Südafrika) im Jahre 1995. Die 63 Milliarden US-Dollar, die die EU im Rahmen der GAP 1996 ausgegeben hat, entsprechen 47 Prozent des landwirtschaftlichen BIP und 104 Prozent der Agrar- und Nahrungsmittelausfuhren (ausgenommen Holz). Wie kann man unter diesen Umständen dem Süden das Recht verwehren, die einzige „Hilfe“ einzusetzen, die ihm in seiner Armut verblieben ist, nämlich seine Märkte gegenüber der billigeren Konkurrenz abzuschotten?
Die letzte Sorte von Unwahrheiten, die der Agenda 2000 zugrunde liegt, bezieht sich auf die Auswirkungen der Arbeitsplatz- und Umweltschutzreform. Man geht davon aus, daß in der EU in den letzten zwanzig Jahren 6,1 Millionen landwirtschaftliche Arbeitsplätze wegrationalisiert wurden. Die zu erwartende Ertragssteigerung und die EU-Osterweiterung werden ein Phänomen beschleunigen, das in den Augen der Kommission und der OECD ganz natürlich erscheint: „Die Anpassung der Beschäftigungszahl in der Landwirtschaft.“16 Eine völlige Liberalisierung der EU-Importbeschränkungen würde bewirken, daß aus dem kontrollierten „Blutverlust“ von jährlich 200000 landwirtschaftlichen Arbeitsplätzen ein regelrechter Ausblutungsprozeß wird. Ebenso verheerend wären die Auswirkungen für die Umwelt: Eine auf Nachhaltigkeit abzielende Landwirtschaft muß bei Anbaukulturen wie in der Viehzucht auf das Prinzip der Vielfalt setzen; wenn der EU-Markt mit Importgütern überschwemmt würde, würde sich die Produktion nur noch weiter spezialisieren und intensivieren. Infolge des massiv zunehmenden Transportvolumens und der immer längeren Transportwege für landwirtschaftliche Produkte würde ein Anwachsen der Importe also den Treibhauseffekt weiter verstärken.
Wie wir sehen, betrifft die Reform der GAP Fragen, die nicht nur die Landwirtschaft und die Landwirte angehen. Über diese spezifischen Probleme steht nicht weniger auf dem Spiel als die Frage, wie wir das Gleichgewicht der menschlichen Gesellschaft erhalten können.
dt. Andrea Marenzeller
* Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls für die wirtschaftliche Integration Europas und Forscher am Institut „Dynamiques rurales“ des polytechnischen Instituts von Toulouse.