13.11.1998

Die große Angst vor dem „Samba-Effekt“

zurück

Die große Angst vor dem „Samba-Effekt“

VOR dem Hintergrund enormer Finanzprobleme haben die Brasilianer am 4. Oktober den Favoriten aller brasilianischen und ausländischen Liberalen, Fernando Henrique Cardoso, erneut zu ihrem Präsidenten gewählt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) stellte daraufhin für Mitte November ein „historisches“ Kreditpaket in Höhe von 30 Milliarden Dollar in Aussicht. Damit soll verhindert werden, daß ein finanzieller Zusammenbruch Brasiliens den gesamten Subkontinent in eine Rezession mitreißt. Die internationale Hilfe ist jedoch an die Verpflichtung zu drastischen „Anpassungsmaßnahmen“ geknüpft, zum Beispiel an eine umfassende Revision des Rentensystems. Solche Rettungspläne, die den drängenden sozialen Problemen des Landes in keiner Weise Rechnung tragen, sollen vor allem die internationalen Finanzmärkte beruhigen. Anfang November begann der brasilianische Aktienindex schon wieder zuzulegen.

Von CARLOS GABETTA *

„Globalisierung ja, Marginalisierung nein!“ Mit diesem Ausruf beendete der brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso am 30. September 1998 in Curitiba seinen Wahlkampf. Inzwischen haben ihm die Bürger mit großer Mehrheit für eine weitere Amtsperiode die Regierungsgeschäfte anvertraut. Wie will Cardoso den bisher unlösbaren Widerspruch einer Globalisierung ohne Marginalisierung auflösen? Die um jeden Preis betriebene Globalisierung hat den Armen in Lateinamerika – wie auch in Asien – weiteres Elend beschert und darüber hinaus zur Verarmung von Bevölkerungsschichten geführt, die bisher ein geregeltes Auskommen hatten.

In ihrem kürzlich veröffentlichen Bericht empört sich die nationale Bischofskonferenz darüber, daß Brasilien von allen Ländern die „gravierendste soziale Ungleichheit“ aufweist, und nennt vier Bereiche, zu denen die Mehrheit der Bevölkerung keinen Zugang hat: erstens Land; zweitens Bildung, Kultur und Information; drittens Arbeit und Einkommen; viertens Gesundheitsfürsorge, soziale Sicherung und Wohnung.1

Seit vielen Jahren schon müssen sich die Lateinamerikaner die Erklärungen von Politikern, Ökonomen und Journalisten anhören, die ihnen immer wieder versichert haben, daß die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) diktierten Strukturanpassungsmaßnahmen – Abbau des Budgetdefizits, Senkung der Inflation, Deregulierung und Exportoffensive – bald schon zu einer allgemeinen Hebung des Lebensstandards führen würden. Nicht nur haben sich diese Versprechungen als falsch herausgestellt, das gesamte Gebäude droht vielmehr einzustürzen. Der Region stehen offenbar schwarze Zeiten bevor, schwärzer noch als das „verlorene Jahrzehnt“ der achtziger Jahre.

Bereits die mexikanische Krise von 1994 (der sogenannte „Tequila-Effekt“) hatte den Subkontinent nachhaltig erschüttert. Nun setzt die Spekulation im Gefolge der derzeitigen Krisen in Asien und Rußland die Region abermals unter Druck und nötigt sie, sich auf eine neue Runde der Strukturanpassung und Rezession vorzubereiten. Das regionale Bruttoinlandsprodukt, das 1997 noch um 5,3 Prozent anwuchs, wird nach Schätzungen der Wirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen für Lateinamerika (Cepal) dieses Jahr um weniger als 3 Prozent zunehmen (nach Ansicht der amerikanischen Investitionsbank Goldman Sachs nur um 1,1 Prozent). Positive Beschäftigungseffekte ergeben sich aber erst ab einer Wachstumsrate von 7 Prozent.2

Vor einer neuen Verschuldungsrunde

DIE Auslandsverschuldung, die mit 640 Milliarden Dollar 35 Prozent des regionalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht, belastet die Staatshaushalte. Fallende Rohstoffpreise mindern die Einnahmen. Venezuela rechnet aufgrund drastisch gefallener Erdölpreise in diesem Jahr mit Mindereinnahmen von 7,3 Milliarden Dollar und einem Steuerausfall in Höhe von 5 Milliarden Dollar. Die weltweite Finanzspekulation hat auch die lateinamerikanischen Börsen in Mitleidenschaft gezogen. Zwischen Januar und September 1998 fielen die Kurse in Chile um 33 Prozent, in Brasilien um 39 Prozent, in Mexiko um 41 Prozent, in Kolumbien um 48 Prozent und in Venezuela um 69 Prozent.3

Vor allem aber befürchtet Lateinamerika derzeit eine allgemeine Abwertungsbewegung, und zwar als Folge der spekulativen Attacken gegen eine der wichtigsten Währungen des Subkontinents, den brasilianischen Real. Mit Ausnahme des mexikanischen Peso sind sämtliche Währungen der Region an den Dollar angebunden; manche, wie der argentinische Peso, mit einem festen Wechselkurs, andere, wie der Real, sind innerhalb eines schmalen Korridors frei beweglich. Ende September, mitten in der russischen Finanzkrise und kurz vor den Präsidentschaftswahlen, nahmen die Devisenreserven Brasiliens um täglich 1 Milliarde Dollar ab, und dies gleich über mehrere Wochen. Das Land mußte seine Leitzinsen bis auf 49,75 Prozent heraufsetzen. Sollte dieses Zinsniveau bis Ende des Jahres gültig bleiben, würde die brasilianische Auslandsschuld um rund 27 Milliarden Dollar anwachsen, wobei Brasilien schon jetzt über 7 Prozent seines BIP für Zinszahlungen aufwenden muß.

Argentinien, das 30 Prozent seiner Ausfuhr nach Brasilien exportiert, könnte einer Abwertung des Real wohl ebensowenig standhalten wie die übrigen Länder Lateinamerikas, denn Brasilien erwirtschaftet nicht weniger als 45 Prozent des BIP der gesamten Region.

Der mexikanische Peso hat gegenüber dem Dollar seit Anfang des Jahres 20 Prozent seines Werts eingebüßt. Ende September 1998 lehnte die Opposition im mexikanischen Parlament das Vorhaben der Regierung ab, die 1995 zur Rettung des Bankensystems aufgewendeten 65 Milliarden Dollar in reguläre Staatsschulden zu überführen und damit dem Steuerzahler aufzubürden.

Die Staatspräsidenten Lateinamerikas finden die derzeitige Situation ungerecht. „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, und auf einmal wird unser Finanzsystem durch Faktoren durcheinandergebracht, auf die wir keinen Einfluß haben“, beschwerte sich vor kurzem Mexikos Präsident Ernesto Zedillo.4 Dabei hat auch er, wie viele andere lateinamerikanische Staatschefs, auf Geheiß von IWF und Weltbank ein exportorientiertes Wirtschaftsprogramm aufgelegt, das den Binnenmarkt vernachlässigt und sich auf die Ausfuhr von Rohstoffen oder Fertigerzeugnissen konzentriert, die aber angesichts der weltweiten Nachfrageschwäche kaum mehr konkurrenzfähig sind. Die lateinamerikanischen Staatslenker haben den trügerischen Schein spekulativer Kapitalbewegungen so sehr für bare Münze genommen, daß sie sich völlig von ihnen abhängig gemacht haben. Die größten Sorgen bereitet deshalb jetzt die Vorstellung, daß diese Kapitalien abgezogen werden könnten.

Länder, die wie Argentinien traditionell eine positive Handelsbilanz aufwiesen, mußten mit ansehen, wie sich aufgrund der Globalisierung und sinkender Rohstoffpreise innerhalb von wenigen Jahren gravierende Außenhandelsdefizite anhäuften.5

Die kurzfristigen Wirtschaftsaussichten in der Region sind düster. Zu erwarten sind rückläufige Produktionszahlen, sinkende Devisenreserven und steigende Leistungsbilanzdefizite.6 Letzterer Umstand nötigt die lateinamerikanischen Länder zu weiterer Kreditaufnahme, und dies zu hohen Zinsen. Vor kurzem hat die Rating-Agentur Moody's die Bonitätsbewertung von Brasilien zurückgestuft; der Kurs der brasilianischen Auslandsschuldtitel ist dadurch auf das Niveau von Moldawien, Turkmenistan oder Nicaragua abgesunken.

Die Regierung in Buenos Aires wiederum hat zur gleichen Zeit versucht, 6 Milliarden Dollar bei multilateralen Organisationen und Pensionsfonds lockerzumachen, um Argentiniens Finanzierungsbedarf für die nächsten sechs Monate zu decken. Die Auslandsschulden des Landes, die 1989 bei 62 Milliarden Dollar lagen, haben sich seither auf 110 Milliarden erhöht. Und dies, obwohl Argentinien die Anweisungen des IWF am striktesten befolgt, seine „Hausaufgaben“ also eigentlich am besten gemacht hat.

Der brasilianische Präsident Cardoso, dessen Land sich bis auf weiteres im Auge des Finanzhurrikans befinden wird, hat ein „drastisches und definitives Anpassungsprogramm“ und eine Steuerreform in Aussicht gestellt.

Das Steuersystem ist in der Tat die Achillesferse aller lateinamerikanischen Staatshaushalte. Kein Land des Subkontinents besitzt ein Steuersystem, das diese Bezeichnung verdienen würde. Argentinien zum Beispiel erwartet für dieses Jahr Steuerausfälle in Höhe von 9 Milliarden Dollar (3 Prozent des BIP), obwohl die Regierung einige staatliche „Elefantenunternehmen“ privatisiert und zahlreiche Staatsbedienstete entlassen hat. Die Steuerflucht entzieht dem Staat mit 40 Milliarden Dollar rund die Hälfte seiner Einnahmen.7 Nur 17,3 Prozent der 1514000 Haushalte mit großem Vermögen und hohem Einkommen zahlen Einkommensteuer. Der Ertragssteuersatz liegt mit 33 Prozent weit unter dem Niveau der Vereinigten Staaten (45 Prozent). Die Mehrwertsteuer hingegen, die von allen Bürgern bezahlt wird, wurde von 14 Prozent auf zunächst 17 und nunmehr 21 Prozent erhöht (7,5 Prozent in den USA). Ein Experte faßt die Situation folgendermaßen zusammen: „Wenn man weder abwerten noch die Wirtschaft dichtmachen will und wenn man weder die Regeln, die zu den Privatisierungen geführt haben, modifizieren noch die erstickenden Restriktionen in Frage stellen möchte, die die Globalisierung verursacht haben, dann bleibt als einziges Hilfsmittel das Steuersystem, und dieses Mittel ist bei weitem das wichtigste.“8 Das gilt für die gesamte Region.

Die Aufgabe, vor die man sich in Brasilien gestellt sieht, wird nicht leicht zu bewältigen sein. Parlamentspräsident Carlos Magalhaes, einer der Hauptverbündeten von Cardoso, hat bereits wissen lassen, daß er „jede Steuererhöhung prinzipiell ablehnt“9 . Was also tun? Freuen wir uns, daß die Vereinigten Staaten – die 20 Prozent ihrer Ausfuhr nach Lateinamerika exportieren (und hier im Gegensatz zu allen anderen Regionen der Welt einen Überschuß erzielen) – sich wenigstens bereit erklärt haben, ihre Außenstände beim IWF in Höhe von 18 Milliarden Dollar zu begleichen.

Und beten wir, daß der am 8. Oktober veröffentlichten gemeinsamen Erklärung von IWF und Brasilien auch Taten folgen werden. Nur ein vom IWF orchestriertes internationales Kreditpaket kann Brasilien noch retten und Lateinamerika vor dem „Samba-Effekt“ einer kettenreaktiven Abwertungsbewegung bewahren.

dt. Bodo Schulze

* Journalist, Barcelona.

Fußnoten: 1 Francesco Relea, „El pais del futuro que nunca llega“, El Pais (Madrid), 2. Oktober 1998. 2 Cepal, Santiago/Chile, April 1998. 3 El Pais, 6. September 1998. 4 Le Monde, 9. September 1998. 5 Dazu Carlos Gabetta, „Argentiniens Institutionen in der Krise: Die Räuber und der Präsident“, Le Monde diplomatique, Dezember 1997. 6 Fernando Gualdoni, „Las claves de la crisis en América Latina“, El Pais, 26. August 1998. 7 Clarin (Buenos Aires), 10. August 1997. 8 Marcelo Zlotogwiazda, „Ricos y canallas“, Trespuntos (Buenos Aires), 14. August 1997. 9 Le Monde, 2. Oktober 1998. 10 Babette Stern, „Le FMI s'apprête à venir au secours du Brésil“, Le Monde, 2. und 10. Oktober 1998.

Le Monde diplomatique vom 13.11.1998, von CARLOS GABETTA