Den Hunger planen
Von IGNACIO RAMONET
DER Besitz der drei reichsten Menschen der Welt übersteigt zusammengenommen das kumulierte Bruttoinlandsprodukt (BIP)1 der achtundvierzig ärmsten Länder der Welt (ein Viertel aller Staaten).
Dieses drastische Mißerhältnis wird selten registriert, auch wenn jeder weiß, daß sich der Graben der sozialen Ungleichheit im Laufe der beiden letzten – ultraliberalen – Jahrzehnte vertieft hat. „1960 verfügten die 20 Prozent der Weltbevölkerung, die in den reichsten Ländern lebten, über ein dreißigmal höheres Einkommen als die ärmsten 20 Prozent; 1995 war ihr Einkommen bereits zweiundachtzigmal höher.“2 In mehr als siebzig Ländern ist das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten zwanzig Jahren gesunken. Weltweit leben 3 Milliarden Menschen – die Hälfte der Menschheit – mit weniger als eineinhalb Dollar pro Tag.
Noch nie gab es einen derartigen Warenüberschuß, doch die Zahl derer, die kein Dach über dem Kopf, keine Arbeit und nicht genug zu Essen haben, steigt unablässig. Ein Drittel der 4,5 Milliarden Menschen, die in den Entwicklungsländern leben, haben keinen Zugang zu Trinkwasser; ein Fünftel aller Kinder nehmen nicht genügend Kalorien und Proteine zu sich; und 2 Milliarden Menschen – ein Drittel der Menschheit – leiden unter Blutarmut.
Schicksal? Keineswegs. Wenn man den 225 reichsten Menschen der Welt 4 Prozent ihres Vermögens nähme, könnte man mit dieser Summe laut UN-Angaben problemlos den Grundbedarf der Weltbevölkerung an Nahrung, Trinkwasser, Bildung und Gesundheit sichern. Die allgemeine Befriedigung der Gesundheits- und Nahrungsbedürfnisse würde jährlich nur 13 Milliarden Dollar kosten, das ist knapp so viel, wie die Einwohner der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union pro Jahr für Parfum ausgeben.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren 50. Jahrestag im Dezember dieses Jahres gefeiert wird, behauptet in Artikel 25: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen (...).“ Doch für einen Großteil der Menschheit werden diese Rechte immer unerreichbarer.
Nehmen wir zum Beispiel das Recht auf Nahrung. An Nahrung fehlt es nicht. Nie zuvor waren Lebensmittel in solchem Überfluß vorhanden, und eigentlich sollte es möglich sein, jedem einzelnen der 6 Milliarden Menschen, die die Erde bevölkern, mindestens 2700 Kalorien am Tag zur Verfügung zu stellen. Es genügt jedoch nicht, Lebensmittel zu produzieren, wenn diejenigen, die sie benötigen, nicht über die Mittel verfügen, die vorhandenen Lebensmittel auch zu kaufen. Und diese Mittel haben bei weitem nicht alle. Jahr für Jahr verhungern weltweit 30 Millionen Menschen; 800 Millionen leiden an chronischer Unterernährung. Auch diese Fakten könnten vermieden werden, denn klimabedingte Ernteausfälle sind oft vorhersehbar. Humanitäre Organisationen wie die „Action contre la faim“3 können eine entstehende Hungersnot innerhalb weniger Wochen eindämmen – wenn man sie läßt. Und dennoch rafft der Hunger weiter ganze Bevölkerungsgruppen dahin.
WARUM? Weil der Hunger längst eine politische Waffe ist.4 Heute entstehen Hungersnöte nicht mehr einfach so. Sie sind vielmehr das Ergebnis regelrechter Hungerstrategien. Angezettelt werden sie mit relativer Dreistigkeit just von jenen politischen Führern und Organisationen, deren Finanzquellen mit dem Ende des Kalten Kriegs versiegt sind. Sylvie Brunel schreibt dazu: „Ausgehungert werden heute nicht mehr feindliche Völker, die man erobern will; ausgehungert wird vielmehr die eigene Bevölkerung, und zwar mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit der Medien und folglich das Mitleid der internationalen Gemeinschaft auf sich zu ziehen, um den darauf einsetzenden Geld- und Nahrungssegen einzuheimsen und um sich zudem eine politische Tribüne für die eigenen Forderungen zu schaffen.“
Ob in Somalia, Liberia, Nord-Korea, Birma, Afghanistan oder im Sudan – überall auf der Welt nehmen Regierungsverantwortliche oder warlords Unschuldige als Geisel, um mittels einer gezielten Hungerpolitik ihre politischen Ziele zu erreichen. Dabei wurden Fälle von extremer Grausamkeit bekannt. In Sierra Leone beispielsweise verbreiten die Männer der Rebel United Front (RUF) unter Leitung des Exgefreiten Foday Sankoh seit einem Jahr Angst und Schrecken unter der Landbevölkerung: Um die Bauern an der Ernte zu hindern, hacken sie ihnen mit dem Buschmesser systematisch die Hände ab. Es ist mittlerweile so, daß das Klima selbst bei den großen Hungersnöten nur noch eine Randrolle spielt: Denn es ist der Mensch, der den Menschen in die Hungersnot stürzt.
Der diesjährige Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft, Amartya Sen, der in mehreren seiner Arbeiten dargelegt hat, wie manche Regierungen trotz ausreichender Nahrungsmittel Hungersnöte verursachen, schreibt: „Eine der bemerkenswertesten Tatsachen in der schrecklichen Geschichte des Hungers ist, daß es in keinem demokratisch regierten Land mit einer relativ freien Presse je eine schwere Hungersnot gab.“5 Den neoliberalen Thesen widersprechend, vertritt Sen die Auffassung, daß man nicht dem Markt, sondern dem Staat eine größere Verantwortung für das gesellschaftliche Wohlergehen übertragen müsse; und dieser Staat müsse gleichzeitig die Bedürfnisse all seiner Bürger und (weltweit) die Entwicklung der Menschheit im Blick haben.