Tod in Lothringen
EINE verrostete Christusfigur ohne Kreuz auf einem Grab, dessen Grau in scharfem Kontrast zu den blühenden Feldern im Hintergrund steht – dieses ergreifende Bild teilt das jüngste Buch von Stéphane Duroy1 in zwei Hälften. Den vorderen Teil beherrscht der Tod von gestern: Gräber, Stelen und Grabmale für die Opfer zweier blutiger Weltkriege. Hinten herscht der Tod von heute: eine fragmentierte Landschaft, sterbende Fabriken und Städte.
Aber es geht hier nicht um einen stilistischen Effekt oder eine visuelle Rhetorik. In dem Jahrhundert, das jetzt zu Ende geht – man möchte am liebsten sagen: „Endlich!“ –, ist der Tod dreimal über Lothringen gekommen: zunächst in den beiden Weltkriegen mit ihrem grauenvollen Blutvergießen, deren Wunden sich allmählich schließen; dann, in den siebziger und achtziger Jahren, mit der langsamen Zerstörung der Stahlindustrie, deren Wunden noch offenliegen. Eine Zeitlang war es dem chauvinistischen Wahn gelungen, den Wunsch der Völker nach Frieden zu übertrumpfen; in der jüngsten Vergangenheit wiederum war die Profitlogik stärker als die Macht der Arbeiter und ihrer Gewerkschaften; die Linksregierung sorgte für die Beerdigung.
Dennoch wirkt diese blaugetönte „Saison en Lorraine“ nicht verletzend. Mit der ihm eigenen Schärfe und Kohärenz richtet Stéphane Duroy einen gleichermaßen ernsten wie zärtlichen Blick auf diese Friedhöfe, Symbole für so vieles andere, was zu Grabe getragen wurde. Dieser Blick ist so zärtlich, daß er die Statuen belebt und den Toten schon fast wieder Leben einhaucht, Tote, deren abgenutzte Medaillons auf den Grabsteinen daran erinnern, daß sie für kurze Zeit Wesen aus Fleisch und Blut waren. Die jungen Lothringer, mit deren fragenden Gesichtern diese wunderbare Arbeit abschließt, hoffen auf Besseres.
D. V.
Fußnote: 1 Stéphane Duroy, „Une saison en Lorraine“, Paris (Filigranes Editions) 1998.