11.12.1998

Menschenrechte werden einklagbar

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Menschenrechte werden einklagbar

DIE Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes in Rom im Juli dieses Jahres, die Arbeit der Wahrheitskommission in Südafrika und die Verhaftung Pinochets in London sind Zeugnisse dafür, daß die Welt auf Menschenrechtsverletzungen empfindlicher reagiert. Auch fünfzig Jahre nach Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist das Problem noch nicht gelöst, wie die darin formulierten grundlegenden Rechtsprinzipien international durchgesetzt werden können. Das Prinzip der einzelstaatlicen Souveränität darf nicht mehr dazu führen, daß Verbrecher ohne Strafe davonkommen.

Von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU *

Seit einiger Zeit fallen immer mehr Schranken zwischen den Staaten. Diese Entwicklung wird kritisch oder zustimmend kommentiert, je nachdem, ob man sie auf die Gewinnsucht der Akteure zurückführt oder die damit ermöglichte Entfaltung von Handel und Kommunikation begrüßt. Trotz dieser Entwicklung beobachten wir jedoch, was die Kontrolle von Rechten und Freiheiten betrifft, ein hartnäckiges Bestehen auf staatlicher Souveränität. Mit dem Resultat, daß die Staaten häufig die Herausbildung gemeinsamer Werte und der entsprechenden Rechtsauffassungen behindern – also auch einer internationalen Gemeinschaft, die diesen Namen erst verdienen würde.

Dabei stellt gerade die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte den Versuch dar, diese gemeinsamen Werte feierlich zu formulieren. Doch die Ausübung proklamierter Rechte hängt davon ab, daß auch Verfahren installiert werden, um sie geltend machen zu können. Die Verfasser der Menschenrechtserklärung wußten sehr wohl, daß die Grundrechte – Recht auf Leben, Freiheit, Arbeit, Unterhalt etc. – nichts wert sind ohne ein Recht zweiten Grades: das Recht auf Recht, das nur durch den allgemeinen Zugang zu angemessenen Verfahren gewährleistet ist. Doch die herrschende Rechtskultur der Nachkriegsjahre war nationalstaatlich ausgerichtet. Das zeigt sich auch in der Formulierung des Artikels 8 der Menschenrechtserklärung, die allen Bürgern die effektive Möglichkeit zuerkennt, ihre nationalen Rechtsinstanzen anzurufen, um die auf nationaler Ebene anerkannten Rechte einzuklagen.

Doch die Verfasser der Menschenrechtserklärung haben sich mit dieser nationalen Rechtswegegarantie nicht begnügt. Im Artikel 10 wird jedem Menschen „in völliger Gleichberechtigung“ das Recht auf ein „der Billigkeit entsprechendes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht“ zuerkannt.1 Genau dies blieb auch nach der Proklamation von 1948 den unzähligen Opfern von Verschleppung, Folter, standrechtlicher Erschießung und anderen massiven Menschenrechtsverletzungen verwehrt. Und dies, obgleich die Staaten, deren Bürger sie waren, die Erklärung der Menschenrechte anerkannt hatten und in vielen Fällen sogar den UN- Menschenrechtsabkommen beigetreten waren, die nicht nur deklamatorische, sondern nunmehr normative Qualität haben. Zwar mangelt es dem Wortlaut des Artikels 10 an Eindeutigkeit: Mit seinem Verweis auf „ein“ Gericht (ohne genau zu sagen welches), verbleibt er implizit – wie auch die Vorentwürfe erkennen lassen – innerhalb des Rahmens einzelstaatlicher Gerichtsbarkeit. Der Allgemeinheitsgrad der in diesem Text benutzten Rechtsbegriffe, zugleich aber auch der Nachdruck, mit dem sie formuliert sind, lassen auf die Notwendigkeit schließen, geeignete (im Bedarfsfall internationale) Gerichtsinstanzen zu schaffen, wenn das nationale Recht den Bürgern keine Möglichkeit eines öffentlichen, gerechten und unparteiischen Prozesses bietet.

Die Einzelstaaten müssen gezwungen werden

DIE innere Dynamik der Menschenrechtserklärung besteht also darin, der Gemeinschaft aller Menschen – wie immer gestaltete – Rechtsinstanzen zu garantieren, damit alle Rechtsverletzungen abgedeckt sind, und zwar auch dann, wenn der Schutz des eigenen Staates versagt oder der Staat selbst zum Unterdrücker wird.

Diese Logik ist das Ergebnis der in ihren Zielen zwar begrenzten, aber überaus wichtigen Erfahrungen aus den Prozessen von Nürnberg und Tokio. In diesem Sinne hat auch die Vollversammlung der Vereinten Nationen vor fünfzig Jahren den Wunsch formuliert, einen permanenten Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen.2 Dieses Projekt wurde allerdings erst im Sommer 1998 in eine positive institutionelle Form gegossen, und außerdem zeigt sich bereits am begrenzten Handlungsspielraum der neuen Institution, wie stark die Widerstände der einzelnen Nationalstaaten noch immer sind, die in dieser Frage keineswegs eine einheitliche Haltung beziehen.

Von einer klaren Front zwischen tugendhaften Staaten auf der einen und verbrecherischen Staaten auf der anderen Seite kann jedoch keine Rede sein. Die jeweils gegebenen staatlichen Kompetenzen sind in der Regel das Produkt sozialer Auseinandersetzungen auf nationaler und demnächst auch auf internationaler Ebene. Wie demokratisch diese Kompetenzen ausfallen und welches Maß von Bürgerrechten sie gewährleisten, hängt von der (politischen, aber auch wirtschaftlichen) aktuellen Verfaßtheit des jeweiligen Staates ab, wobei allerdings auch das internationale Umfeld eine Rolle spielt. Doch kein Staat wird aus freien Stücken eine internationale Gerichtsbarkeit fördern, der er selbst unterworfen wäre und vor der er von den eigenen wie auch von ausländischen Bürgern zur Verantwortung gezogen werden kann. Deshalb wollen die Machthaber entweder, daß ihre Schandtaten durch eine Immunität gedeckt bleiben, die sie unter Berufung auf die nationale Souveränität ihres Landes für sich reklamieren, oder aber sie versuchen, ihre Machtausübung als demokratisch auszugeben und entsprechend zu argumentieren, daß ihre eigenen nationalstaatlichen Rechtsinstitutionen den besten Schutz des Individuums garantierten.

Angesichts dessen war kaum zu erwarten, daß die Regierenden selbst die Initiative ergreifen würden, um die Idee eines Rechts und einer Gerichtsbarkeit voranzutreiben, die oberhalb der Einzelstaaten angesiedelt sind. Die Wende trat erst ein, nachdem einige Staaten ihre Machtbefugnisse überschritten hatten. Die verbrecherischen Handlungen von Diktaturen, die Entwertung der wirtschaftlichen Rechte und des Gleichheitsprinzips selbst in hochentwickelten Staaten, die sich demokratischer Strukturen rühmen, die wachsende Korruption in ausnahmslos allen politischen Führungsetagen, all diese Erscheinungen brachten die Bürger dazu, sich zusammenzuschließen und mit aller Kraft endlich die Umsetzung der Pläne einzufordern, welche die Staaten Jahrzehnte zuvor entworfen, aber alsbald wieder begraben hatten.3

Die Bilder aus Bosnien und Ruanda, die um die ganze Welt gingen und die Vorstellung von Straffreiheit unerträglich machten, führten schließlich zur Praxis der beiden Internationalen Strafgerichtshöfe (für die Bestrafung der Verbrechen in Ruanda bzw. in Bosnien). Daß einige Regierende diese Initiative in Gang brachten, erklärt sich weniger aus ihrem Gespür für Moral als aus ihrem Gefühl, die öffentliche Meinung besänftigen zu müssen. Das zeigt sich auch an der Halbherzigkeit, mit der diese Regierenden dann schließlich mit den internationalen Gerichten zusammengearbeitet haben. Aus ähnlichen Motiven entstand vor kurzem auch der permanente Internationale Strafgerichtshof. Eine solche Instanz stellt zwar eindeutig eine wesentliche Veränderung in der juristischen Landschaft dar, doch rasche Auswirkungen darf man sich von ihr nicht versprechen.

Die sind schon deshalb nicht zu erwarten, weil die Staaten, über die hier geurteilt werden soll, in die Verfahren einbezogen sein müssen. Mit der Installation eines Internationalen Strafgerichtshofes ist in der Tat prinzipiell viel erreicht, auch wenn dieser keine rückwirkende Zuständigkeit besitzt, also nicht über Verbrechen befinden kann, die vor seiner Einrichtung verübt wurden. Die verfolgten Tatbestände gehören zu den schwerwiegendsten überhaupt (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen). In bezug auf Wirtschaftsverbrechen können die Unterzeichnerstaaten die Zuständigkeit des Gerichtshofes in eigener Sache um sieben Jahre hinausschieben. Auch der UN-Sicherheitsrat hat großen Einfluß, da er eine Untersuchung der Staatsanwaltschaft bis zu zwölf Monate blockieren kann.4 Damit dürfte der Strafgerichtshof kaum das erhoffte Gegengewicht zu den Befugnissen eines Organs bilden, das die ganze Welt zu repräsentieren beansprucht.

Auf absehbare Zeit wird es demnach auch keine Möglichkeit geben, Verbrechen strafrechtlich zu ahnden, die nicht von den Verantwortlichen einzelner Staaten begangen wurden, sondern auf Entscheidungen einer Staatengruppe, nämlich des Weltsicherheitsrats, basieren. Dabei hätten es einige Beschlüsse dieses Organs durchaus verdient, als Anschlag auf Leib und Leben von Zivilpersonen verurteilt zu werden – wie etwa das Embargo, das wegen der Untaten Saddam Husseins über das irakische Volk verhängt wurde. Bemerkenswerterweise haben Staaten wie die USA, China, Indien oder Israel trotz der weitgehend beschränkten Zuständigkeiten nicht für den Internationalen Strafgerichtshof gestimmt; und in den einschlägigen Debatten enthüllten die Regierungen der USA und teilweise auch Frankreichs bedenkliche Hintergedanken.

Dennoch ist die Einrichtung der neuen Instanz ein Anlaß zur Freude, allein schon deswegen, weil die ursprünglichen Beschränkungen ziemlich schnell zutage treten werden und wir davon ausgehen können, daß diese Defizite im Laufe der Arbeit behoben werden, vor allem, wenn die öffentliche Meinung den entsprechenden Druck ausübt.

Die größte Schwierigkeit liegt in den unterschiedlichen Zeitvorstellungen. Das relativ zügige Tempo bei der Schaffung der ständigen Strafgerichtsbarkeit ist nur ein Intermezzo in einem eher langatmigen Verfahrensrhythmus. Doch die Zahl der Fälle, die in relativ kurzer Zeit entschieden werden müssen, nimmt ständig zu. Wie wenig das bisherige Gerichtswesen auf die Notwendigkeiten abgestimmt ist, zeigt exemplarisch die „Pinochet-Affäre“. Dieser Mann war der höchste Verantwortliche seines Landes. Doch seine Verbrechen gehen nicht nur Chile an. Denn zum einen kamen im Zuge seiner Machteroberung auch Ausländer ums Leben, und Pinochet handelte durchaus in Absprache mit Regierungen diverser Nachbarländer. Zum anderen betrifft das Problem der Barbarei die gesamte Menschheit. Es darf nicht sein, daß ein repressives und gewalttätiges Regime sich unter Berufung auf staatliche Souveränität und Unabhängigkeit in den Augen der internationalen Gemeinschaft eine Legitimation verschafft.

Lateinamerika hat aus den langen Jahren blutiger Diktaturen herausgefunden, indem es versucht hat, die juristische Verfolgung der begangenen Verbrechen zu vermeiden. Man wollte also nicht wahrhaben, daß man die Menschen erst dann zum Vergessen aufrufen kann, wenn der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Pinochets Aufenthalt in London und die Initiative des spanischen Richters haben diese Frage erneut aufgeworfen und die Mängel des Systems deutlich gemacht. In Madrid versuchte der Oberste Staatsanwalt, den Auslieferungsantrag des Richters Garzon zu stoppen, bevor der Oberste Gerichtshof die Entscheidung bestätigt hatte. In London hatte der Oberste Gerichtshof den Haftbefehl gegen Pinochet zunächst mit der Begründung aufgehoben, daß dieser nach wie vor diplomatische Immunität genieße, bevor die fünf „Lawlords“ anders entschieden. Beide Geschichten sind ein Beispiel dafür, in welchem Ausmaß nationales Recht ein Verfahren lähmen kann und wie gegensätzlich die jeweiligen Rechtsorgane urteilen können.

Doch in diesem Falle haben sich die überlebenden Opfer, ihre Familien und alle, die den Kampf gegen die Diktaturen unterstützt haben, energisch eingemischt. Innerhalb weniger Wochen trafen zahlreiche Auslieferungsanträge aus etlichen europäischen Ländern ein, die jedoch allenthalben politische wie rechtliche Probleme aufwerfen. Diese komplexe Situation wirft folgende Kernfrage auf: Ist die Welt jenseits der Aufteilung in einzelne Staaten letzlich eine Gemeinschaft aller Menschen, und gibt es zwischen ihnen eine selbstverständliche Bindung, die so stark ist, daß die Verfolgung von Handlungen, die diese Gemeinschaft bedrohen, alle Menschen angeht, ob sie nun Opfer oder Zeugen sind – oder einfach „nur“ Mitmenschen?

Wenn man diese Frage bejaht, muß man dann nicht auch eine „universale Zuständigkeit“ bejahen, also davon ausgehen, daß bei Menschenrechtsverletzungen jeder Mensch jedes Gericht der Welt anrufen (bzw. jeder Staatsanwalt unabhängig von seiner Nationalität tätig werden) kann? Davon sind wir freilich noch weit entfernt. Die Rechtsprechung ist äußerst heterogen, und unter Juristen ist die Existenz einer solchen universalen Zuständigkeit heftig umstritten. Müßte sie erst durch eine Konvention über eine bestimmte Kategorie von Verbrechen allgemein anerkannt werden? Oder läßt sie sich im Gewohnheitsrecht verankern? Und wenn eine solche Zuständigkeit anerkannt wird, haben dann die Gerichte aller Welt nur die „Möglichkeit“ oder sogar die „Verpflichtung“, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen? Können sie ihre Ermittlungen bedingungslos durchführen, oder muß sich das Opfer auf dem jeweiligen nationalen Territorium befinden – und womöglich auch der Täter? Gerade Frankreich hegt bei diesen Fragen starke Vorbehalte.5

Doch genau da liegt das zentrale Problem. Es wäre müßig, eine internationale Gerichtsbarkeit zu schaffen, wenn die einzelnen Staaten und ihre Justiz keine Bereitschaft zeigen, den rechtlichen Handlungsraum auszuweiten. Doch es gibt zahlreiche Hindernisse. In den Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg konnten nur die Sieger die Gerichte anrufen; dabei können bei Kampfhandlungen natürlich beide Seiten Verbrechen begehen. Auch geschehen die schlimmsten Verletzungen der Menschenrechte nicht notwendigerweise im Rahmen von zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen. Es wäre nötig, daß auch bei gewaltsamen Konflikten innerhalb eines Staates das siegreiche Lager für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen wird.

Die beschriebenen Zuständigkeitsbeschränkungen der derzeit vorhandenen Gerichte haben zur Folge, daß manche Verbrechen keine Richter finden und nur durch eine Ausweitung der universalen Zuständigkeit bekämpft werden können. Das setzt voraus, daß diese bislang meist nur formell anerkannte universale Zuständigkeit auf eine breitere Basis gestellt wird. Im Artikel 10 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird diese Ansicht mit Nachdruck vertreten. Einzig die universale Zuständigkeit bietet eine Handhabe, um die krassen zeitlichen Divergenzen abzubauen und zu vermeiden, daß die Angeklagten Jahrzehnte nach ihren Taten vor Gericht stehen und dann vom Publikum aufgrund ihres Greisenalters vor allem bemitleidet werden.

Nur eine universale und schnelle internationale Gerichtsbarkeit kann (zumindest teilweise, aber eben doch spürbar) zur Verbesserung der allgemeinen Lage beitragen. Das unablässige Reden über Menschenrechte wird nur zu leicht zum Alibi, während die Menschenrechtsverletzungen immer weiter um sich greifen.

dt. Margrethe Schmeer

* Professorin für Rechtswissenschaften an der Universität Paris-VII (Denis Diderot).

Fußnoten: 1Artikel 10 lautet: „Jeder Mensch hat in völliger Gleichberechtigung Anspruch auf ein der Billigkeit entsprechendes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht, das über seine Rechte und Verpflichtungen oder über irgendeine gegen ihn erhobene strafrechtliche Beschuldigung zu entscheiden hat“. 2 Bereits 1950 hatte die UN-Vollversammlung in einer Resolution vom 27. November ein Komitee gebildet, das den zukünftigen Status eines Internationalen Gerichtshofes ausarbeiten sollte. 3 Siehe u. a. die Stellungnahme von Solima (Solidarité avec les Mères de la place de Mai, Solidarität mit den Müttern des Plaza del Mayo), Bulletin Nr. 44, Paris, August 1998. 4 Siehe das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes: Doc. UN A /Conf.183/9 und 10. 5 Siehe den Beitrag von Brigitte Stern über die französische Außenpolitik im „Jahrbuch für internationales Recht“, Kiel, Band 40, 1997.

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU