11.12.1998

Auf dem Weg in den Informationskrieg

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Auf dem Weg in den Informationskrieg

JEDES Werk von Paul Virilio ist ein intellektuelles Ereignis und zugleich eine intellektuelle Freude. Virilio scheint mir unter allen zeitgenössischen Denkern einer der kreativsten zu sein, weshalb es keine Überraschung darstellt, daß er einer der meistübersetzten französischen Essayisten ist.

Wer Texte von Virilio liest, lernt die Welt auf radikal andere und besonders anregende Weise zu betrachten. Er bietet uns im wörtlichen Sinne eine neue Perspektive, mit dem Ziel, die gegenwärtige Welt angesichts einer Problematik zu erschließen, die er klar und deutlich wie ein Visionär erkennt, während viele andere im dunkeln tappen und die Verwirrung noch erhöhen. In seinem neuen Essay1 entwickelt Paul Virilio die erste grundsätzliche Kritik an der Cyberwelt und sagt am Ende dieses Jahrtausends die künftigen Konflikte voraus, die er Informationskriege nennt: „Nach der Atombombe und der vierzigjährigen Strategie allgemeiner nuklearer Abschreckung wird die Informatikbombe, die nun explodiert ist, in Kürze einen neuen Typus der Abschreckung erfordern – und diesmal eine gesellschaftliche Abschreckung. Wir müssen ,automatische Kurzschlußsicherungen‘ einbauen, die eine Überhitzung, ja die Spaltung des sozialen Kerns der Nationen verhindern.“

Dabei gehört Paul Virilio gewiß nicht zu der Art von Technikfeinden, die Umberto Eco „Apokalyptiker“ nennt. Denn als Historiker, der die Geschichte der Technologien und insbesondere der Kriegstechnologien erforscht, argumentiert Virilio – der sich selbst als „Kunstkritiker der Wissenschaft“ bezeichnet – durchaus wissenschaftsimmanent. Mit seltener Klarsichtigkeit warnt er vor den neuen Illusionen und den neuen Entfremdungen, die die neuen Technologien hervorbringen. „Jede politische Revolution ist ein Drama“, schreibt er, „aber die technische Revolution, die sich heute ankündigt, ist zweifellos weniger ein Drama als eine Tragödie des Erkenntnisvermögens, die babylonische Verwirrung des individuellen und kollektiven Wissens.“

NANCY DOLHEM

dt. Eveline Passet

Fußnote: 1 Paul Virilio, „La Bombe informatique“, Paris (Gallimard) 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von NANCY DOLHEM