Staatenrecht und Menschenrecht
MARC BELISSA hat eine historische Studie über die Entstehung einer Ideologie veröffentlicht: der Ideologie des nationalen Interesses, die sich zunächst gegen die Idee der weltweiten Brüderlichkeit gewendet, diese anschließend erfolgreich aus dem Felde geschlagen und sich bis heute siegreich behauptet hat.1 Im 18. Jahrhundert war das Wohlergehen der Völker nur in einem Handlungsrahmen vorstellbar, der die Universalität der menschlichen Gattung und die Einheit der menschlichen Gesellschaft voraussetzte. Diese Voraussetzungen zu schaffen erforderte aber ein juristisches Instrumentarium, denn „das Einfordern von Recht ist in revolutionärer Zeit ein universelles Instrument der Kritik“ (S. 11).
Doch die Erfahrung des Krieges ließ im Nationalkonvent (wo erstmals vom „Vorrang des Nationalen“ die Rede war) eine Eroberungsmentalität entstehen, an deren Ende der Untergang des Napoleonischen Reiches stand. So fiel die Idee der universellen Brüderlichkeit einer hegemonialen Interpretation von Souveränität zum Opfer. Marc Belissa zeigt, wie der fragwürdige Test einer Konfrontation mit der Wirklichkeit zum Verrat an Ideen führt, der für lange Zeit den Fortschritt blockiert.
Das politische Projekt, ein „Völkerrecht“ zu etablieren, ließ sich auf zweierlei Weise begründen. Entweder man beruft sich auf ein Naturrecht und mißt die herrschenden Verhältnisse an diesem idealen Kriterium; oder man setzt auf ein positives Recht, das ein Recht der Staaten vertraglich festschreibt und die Überlegenheit des Stärkeren juristisch absichert. Diese Kontroverse (durch die Verhaftung von Pinochet in London wieder aktuell geworden) endete damit, daß die Menschenrechte zu nationalen Rechten verkamen, deren Kontrolle den Einzelstaaten obliegt.
Nach dem Verlust des Gottesgnadentums reduzierte sich die neuzeitliche Souveränität auf ein „zufälliges Gerechtigkeitsprinzip“, das jeweils von einer konkreten Gruppe von Menschen vertreten wurde, geriet also zu einem unlösbaren Rätsel (welcher Wille setzt die Rechtsprinzipien, und wie ist die rechtsetzende Gruppe einzugrenzen?). Dennoch sollte der Souverän rechtliche Verhältnisse und möglichst auch die Freiheit garantieren. Doch trotz der nationalen Befreiungskämpfe ist die Revolution bzw. der Säkularisierungsprozeß bei den unterdrückten Völkern ausgeblieben. Die Kämpfe mündeten in den Sumpf staatlicher Machtausübung, der Nepotismus und Kriminalität ausbrütete. Die Völker haben zwar ihre Souveränität errungen, aber das garantiert keine dauerhaften zivilen Rechtsverhältnisse, wie aktuelle Beispiele zeigen.
Für Gérard Mairet ist die einzelstaatliche Souveränität ein „erstarrtes“ Konzept, das „seine Fähigkeit, Zukunft zu gestalten“, verloren hat.2 Soll man nun also die Vorzüge eines Modells, das einst in einem begrenzteren Rahmen funktionierte, auf globaler Ebene anstreben? Das wird nicht gehen, ohne die Beziehungen zwischen Gewalt und Recht zu hinterfragen, aus denen die souveräne Macht erwachsen ist.
Genau dies versucht der italienische Philosoph Giorgio Agamben3 . Die Sphäre der Politik ist inzwischen in einer umfassendereren Biopolitik aufgegangen. Das nackte Leben – nicht mehr ethische Größe, sondern nur noch biologisches Faktum – wird Gegenstand staatlicher Berechnungen und Prognosen, die zur massenhaften Auslöschung sogenannter „nutzloser“ Menschen führen können, wie nicht nur die systematischen Programme der Nazis gezeigt haben, sondern auch das Schicksal von Hunderttausenden, die spurlos in Ruanda verschwunden sind. Der Bereich des Politischen ist nur dann neu zu bestimmen, wenn man andere territoriale Dimensionen zugrunde legt und das Verhältnis zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich überdenkt.
MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU
dt. Eveline Passet